NZfM_2011_02_Leseprobe

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Leseprobe aus: Neue Zeitschrift für Musik 2/2011 © Schott Music, Mainz 2011
pionier des transkulturalismus
EIN PORTRÄT DES KOMPONISTEN ALAN HOVHANESS (1911-2000)
ZUM 100. GEBURTSTAG
VON MARTIN TORP
lan Hovhaness war nicht nur einer
der originellsten Komponisten des
20. Jahrhunderts, sondern auch einer
der schöpferisch fruchtbarsten. Er hinterließ
über 500 Werke1 – darunter allein 67 Symphonien – und zählt heute zu den meistgespielten Tonschöpfern Amerikas. Die beeindruckende Phalanx seiner prominenten Interpreten reicht von Sergej Rachmaninow
und Leopold Stokowski bis hin zu Seiji
Ozawa oder Evelyn Glennie. Zudem genoss
Hovhaness die Wertschätzung vieler namhafter Komponistenkollegen, und zwar so
unterschiedlicher wie etwa Howard Hanson
und John Cage. Ein Großteil seines Œuvres
ist von renommierten Verlagen veröffentlicht worden, über 200 seiner Partituren
allein von der Edition Peters. Hovhaness’
Diskografie umfasst mittlerweile mehr als
achtzig CDs, von denen knapp fünfzig ausschließlich seinen Werken gewidmet sind.
Auf dem deutschen Markt sind derzeit immerhin 38 CDs lieferbar (davon 23 reine
Hovhaness-Tonträger). In Anbetracht dessen sowie angesichts der künstlerischen Bedeutung und – global gesehen – breiten Rezeption dieses bemerkenswerten Amerikaners ist es verwunderlich, dass ihn hierzulande bislang anscheinend nur wenige Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler zur Kenntnis genommen haben.
Alan Hovhaness wurde am 8. März
1911 in Somerville/Massachusetts als Sohn
eines armenisch-stämmigen Chemie-Professors und einer musikliebenden Amerikanerin mit schottischen Vorfahren geboren und
auf den Namen Alan Vaness Chakmakjian
getauft. Ab 1931 nannte er sich nach seinem
Großvater väterlicherseits «Hovaness»; ein
Jahrzehnt später fügte er diesem Namen
noch ein «h» hinzu, um dessen korrekte Betonung auf der zweiten Silbe sicherzustel-
A
50
len.2 Angeregt durch ein Schubert-Lied
hatte er im Alter von sieben Jahren zu komponieren begonnen und bald darauf ersten
Klavierunterricht erhalten.3 Mit 13 schuf er
seine erste Oper (Daniel), die stark von der
– durch den Komponisten und Priester Komitas Vardapet überlieferten – armenischen
Musik beeinflusst ist. Das Werk wurde 1925
in der High School seines damaligen Wohnorts Arlington (bei Boston) uraufgeführt.
In den frühen 1930er Jahren studierte
Hovhaness Klavier bei Heinrich Gebhard
und Komposition am New England Conservatory bei Frederick Converse.4 Während dieser Zeit zeigte er sich besonders von
Jean Sibelius fasziniert, dessen herbe Symphonie Nr. 4 ihm zu einem Schlüsselerlebnis
wurde. Hovhaness’ Sibelius-Verehrung ging
soweit, dass er den berühmten Symphoniker im Sommer 1934 in Finnland besuchte.
Sibelius wurde bald darauf Taufpate von
Hovhaness’ Tochter und stand zwanzig
Jahre hindurch in Briefkontakt mit dem gut
45 Jahre jüngeren Kollegen. 1936 hörte Hovhaness erstmals klassische indische Musiker
– darunter den jungen Ravi Shankar – im
Konzert, was ihn nach eigenem Bekunden
noch tiefer beeindruckte als Sibelius’ Klangwelt.5
In seiner Exile Symphony op. 17 (Symphonie Nr. 1) von 1936 verband er diese Einflüsse mit Elementen armenischer Musik.
Hovhaness wollte mit dem Werk an den
Leidensweg des armenischen Volkes im frühen 20. Jahrhundert erinnern. Er hatte das
Glück, in dem Chefdirigenten des BBC
Midland Orchestra, Leslie Howard, einen
begeisterten Interpreten zu finden. Howard
brachte das Werk 1939 zur Uraufführung
und bezeichnete den Komponisten öffentlich als «Genie». 1942 dirigierte der PultStar Leopold Stokowski die US-Premiere
der Symphonie. Doch im selben Jahr musste
der Komponist als Stipendiat bei einem
Meisterkurs von Bohuslav Martinů in Tanglewood auch eine bittere Erfahrung machen: Aaron Copland und Leonard Bernstein reagierten mit demonstrativer Verachtung auf seine Exile Symphony. Anstatt das
anmaßende Verhalten seiner Kollegen nun
seinerseits mit Arroganz zu beantworten,
verließ Hovhaness Tanglewood vorzeitig
und unterzog anschließend sein ganzes bisheriges Schaffen einer gründlichen Prüfung,
mit erschreckenden Folgen: Am Ende verbrannte er einen Großteil seiner bis dahin
komponierten Werke, darunter zwei Opern
und mehrere Symphonien, inklusive einer
1933 mit dem Samuel Endicott Prize ausgezeichneten.
Nachdem Hovhaness im Jahr 1940 Organist einer armenischen Kirche in Watertown/Massachusetts geworden war, hatte er
sich erneut und mit großer Intensität in die
armenische Musiktradition vertieft. Eines
der schöpferischen Resultate dieser Studien
war sein Klavierkonzert Lousadzak (armenisch für «Aufgehendes Licht»). 1944 brachte
der Komponist das im selben Jahr geschriebene Werk zur Uraufführung, wobei er das
Orchester vom Flügel aus dirigierte. In Lousadzak hatte er übrigens zum ersten Mal die
von ihm erfundene Notationsform einer
«begrenzten Aleatorik» angewandt (s. Streicher-Pizzicati in Notenbeispiel 1) – also 17
Jahre bevor Witold Lutos«awski diese Technik zum zweiten Mal «erfand» (Jeux vénetiens, 1961). Hovhaness nannte seine eigene
Form der Aleatorik ‹spirit murmur›, kam es
ihm dabei doch auf einen sozusagen mystischen Effekt an.6 Die erste New Yorker
Aufführung von Lousadzak 1947 in der
Town Hall polarisierte die Komponisten im
Auditorium aufs Heftigste. Cage gehörte zu
n POR TRÄT
Hovhaness’ Befürwortern, und sowohl Lou
Harrison als auch der einflussreiche Virgil
Thomson veröffentlichten danach begeisterte Zeitungsartikel über Hovhaness’
ebenso modern wie exotisch wirkendes Klavierkonzert. Thomson schrieb unter anderem: «Die hohe Qualität dieser Musik, die
Reinheit ihrer Inspiration, zeigt sich in der
extremen Schönheit ihres melodischen Materials (das Erfindung des Komponisten ist,
keine gesammelte Folklore). […] Bei all seiner hörbaren Komplexität […] ist es von
großer Einfachheit des Gefühls, geistiger
Klarheit und Erhabenheit. Und für das
westliche Ohr ist es gründlich erfrischend
und höchst originell.»7
Ab 1948 wirkte Hovhaness drei Jahre
lang als Kompositionslehrer und Dirigent
am Boston Music Conservatory. Laut Aussage seiner Schüler zeichnete er sich gegenüber vielen Kollegen nicht zuletzt dadurch
aus, dass er frei von Dogmatismus war. 1951
bis 1953 wirkte Hovhaness beim staatlichen
Auslandssender «Voice of America», als
musikalischer Leiter der Abteilung für Nahost und Transkaukasien sowie als «Hauskomponist». 1953 und 1954 erhielt er Guggenheim-Stipendien und zudem erste lukrative Kompositionsaufträge, etwa von Martha Graham (Ballettmusik Ardent Song,
1954). Der enorme Erfolg seiner 1955 entstandenen und von Leopold Stokowski mit
dem Houston Symphony Orchestra uraufgeführten Symphonie Nr. 2 (Mysterious
Mountain) brachte den endgültigen Durchbruch. Kurz nach dieser Premiere begann
das Major-Label MGM damit, Schallplatten
mit Hovhaness-Werken zu produzieren.
1956 bis 1958 war Hovhaness Kompositionslehrer an der Eastman School of Music,
einer der renommiertesten Musikhochschulen weltweit.
1959 bis 1960 studierte er selbst als Fulbright Research Fellow südindische Ragas
und Rhythmik in Madras. Hier ließ er sich
auch in der Kunst des Veena-Spiels unterweisen und komponierte unter anderem ein
Orchesterwerk für karnatische Instrumente,
das vom Orchester des südindischen Rundfunks aufgeführt und Anfang 1960 vom All
India Radio gesendet wurde. 1962 bis 1963
ermöglichte ihm ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung einen Studienaufenthalt in
Japan, wo er sich mit der Gagaku-Musik
vertraut machte und mehrere japanische Instrumente erlernte. Die dabei gesammelten
Erfahrungen flossen später in diverse Kompositionen ein, von denen das XylofonKonzert Fantasy on Japanese Woodprints
am bekanntesten geworden ist. 1965, im
Entstehungsjahr dieser Partitur, besuchte er
– als Mitglied einer die Sowjetunion bereisenden Delegation amerikanischer Komponisten – zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Armenien. Seine ausgeprägte
Liebe zur Bergwelt zog ihn in den folgenden Sommern nach Luzern, wo er sich von
den Schweizer Alpen inspirieren ließ.
Die Berge waren auch ausschlaggebend
bei der Wahl seines letzten Wohnorts: Anfang der 1970er Jahre zog er nach Seattle,
das er 1966 als Composer-in-Residence der
Seattle Symphony kennen gelernt hatte.
1970 komponierte er mit And God Created
Great Whales für Orchester und Tonband
(aufgenommene Wal-Gesänge) eines seiner
meistgespielten Werke. Einen Ausflug ins
Reich der Mikrointervalle unternahm er
1974 mit einer Komposition für zwei Klaviere im Vierteltonabstand (O Lord, Bless
thy Mountains, op. 276). Und 1981 schrieb
er zwei Werke für Lou Harrisons amerikanisches Gamelan-Ensemble (opp. 350/1 + 2).
In Seattle komponierte Hovhaness noch zwei
Jahrzehnte hindurch, mehr oder weniger
täglich schaffend, zahlreiche Werke – unter
anderem seine letzten 37 Symphonien – bis
er das Komponieren schließlich 1992 einstellte. Hier starb er auch am 21. Juni 2000
im Alter von 89 Jahren.
ZUM WERK
Hinsichtlich der stilistischen Charakterisierung von Hovhaness’ Œuvre haben die
Komponisten und Hovhaness-Experten Arnold Rosner und Niccolo D. Athens nützliche Vorarbeit geleistet, wobei sie fünf
Schaffensperioden unterschieden.8 Die erste
könnte man mit dem Motto «Back to the
Roots» überschreiben. Der Komponist findet seine eigene Stimme, indem er zu den
kulturellen Wurzeln seiner Vorfahren – mütterlicher- wie väterlicherseits – zurückgeht.
Aus der alten armenischen Musik übernimmt
er u. a. deren Modalität und bestimmte melodische Wendungen und aus der europäischen Tradition deren ursprüngliche Tonalität und Polyphonie, wie sie sich zwischen
der Renaissance und dem Hochbarock herausgebildet hatte.9 Je nach Werk dominiert
mal der armenische und mal der europäische
Aspekt. Mitunter kommt es auch zu einem
multikulturellen Nebeneinander in ein und
demselben Stück. Hinzu treten Einflüsse
der Postromantik sowie Spurenelemente
asiatischer Musikkulturen, insbesondere der
indischen.
Hovhaness’ zweite Schaffensperiode wird
von Athens ein wenig pauschal als «armenische Periode» bezeichnet und mit «1944 bis
ca. 1951» datiert. Das Klavierkonzert Lousadzak von 1944 …
… mehr erfahren Sie
in Heft 2/2011 51
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