Harpfe 4/12 Seitenblick andres C. Pizzinini Seitenblick Häuser stehen selten allein, sondern haben andere Gebäude, Straßen und Landschaften als Nachbarn. Ein Rückblick in die Geschichte und ein Seitenblick auf die Umgebung der Architektur. Schräge, spitze und flache Dächer, Holz, Beton, Aluminium und Stahl; kubische, runde, halbrunde, turmhohe und einstöckige Gebäude – so bunt ist Architektur heute. „Nein“, drängt mich Peter, „sieh genauer hin, alle Abbildungen haben etwas gemeinsam!“ Ich beginne von vorn und durchblättere nochmals die Bücher und Zeitschriften über zeitgenössiche Architektur in Südtirol, die vor 22 mir ausgebreitet auf dem Tisch liegen – auf der Suche nach dem allgemeinsten gemeinsamen Nenner. Nichts, nur ein Urwald von Formen, Farben und Materialien. „All diese Bilder zeigen nichts anderes als das Gebäude selbst!“, lüftet Peter das Geheimnis. Tatsächlich: In den Bildern ist nur das jeweilige Gebäude zu sehen, nur in den seltensten Fällen erscheinen das architektonische Umfeld und die natürliche Landschaft im Bild, obwohl Architekten und Raumplaner oft davon reden. Angeregt durch den Hinweis des Fotografen Peter Unterthurner begab ich mich auf die Suche nach dem, wie Gebäude zu dem stehen, was sich rechts und links, vor und hinter ihnen befindet. Genius loci In der Sprache der Architekten nennt man die Eigenart des Umfeldes, an dem etwas errichtet wird, den genius loci. Der Begriff stammt aus dem antiken Rom, wo die Leute verschiedensten Ereignissen und Situationen im Alltag eine eigene Gottheit, einen genius, zuteilten. Unter genius loci verstand der antike Mensch einen nicht genauer bestimmten Geist, der jedem eigenständigen Wesen Leben und Identität verleiht. Auch ein bestimmter Abb. 1 Ort war vom genius loci geprägt, sodass es dort, wo das Leben stattfand, galt, sich mit diesem Geist in Einklang zu bringen. Die Architekten sprechen daran anlehnend vom genius loci als der Besonderheit eines Ortes.1 Seitenblick Dass ein neues Gebäude den genius loci berücksichtigt, heißt, dass es sich in seiner Machart an das Umfeld anlehnt und aus ihm heraus entsteht. Es geht also um das 23 Abb. 2 1 Darstellung eines römischen Castrum: Ausgehend von den beiden Achsen cardo (Längsachse) und decumanus (Querachse) wird die Siedlung errichtet. 2 Vier Entwicklungsphasen einer hypothetischen historischen Stadt: die Stadt um 1250, um 1350, um 1550 und um 1750 Die Antike Abb. 3 Verhältnis des Gebäudes zu seiner Umgebung. Folgende Punkte können bei einem solchen „Seitenblick“ auf das Umfeld unterschieden werden: – Stil; – Form und Farbe; – Baumasse; – Material; – Disposition im Raum; – natürliches Umfeld. Sowohl die Griechen als auch die Römer verwendeten den rechten Winkel zur Städteplanung, wobei Letztere die Stadt von den beiden sich lotrecht kreuzenden Hauptachsen cardo und decumanus ausgehend planten2 (Abb. 1). Dies betrifft die Form des Gebäudes und vor allem ihre Disposition im Raum. Hinsichtlich Stil und Material hatte der antike Mensch eine sehr konservative Auffassung. Eine Abweichung von der Norm aus persönlichem Einfall gab es nicht. Der römische Architekt Vitruv (geb. ca. 84 v. Chr.) war gleichzeitig der bedeutendste Architekturtheoretiker der Antike. Er gibt peinlich genaue Anweisungen zu Proportionen, Material und Stil, in denen die Gebäude – vor allem Privatgebäude, d. h. Villen – errichtet werden sollen.3 Die Verwendung von Materialien aus der Umgebung gilt ihm als ökonomische Selbstverständlichkeit.4 Diese konservative Haltung der Antike hatte größten Einfluss auf die Entwicklung Europas und hat über die Jahrhunderte viel dazu beigetragen, dass die Städte und überhaupt die Gebäude untereinander ein relativ homogenes Aussehen haben. Die hier kurz angeschnittene Städteplanung ist ein wichtiger Punkt dieser Untersuchung, da es um das Verhältnis der Gebäude zueinander geht. Historische Entwicklung Die mittelalterliche Stadt erhält ihre Struktur von der hierarchischen Ordnung der Stände, wobei der Adel und der Klerus den oberen Abschluss bilden. Um diese Machtzentren herum und innerhalb der befestigten Stadtmauern entwickelt sich relativ frei die Stadt der Zünfte und aufstrebenden Bürger (Abb. 2). Ein Beispiel aus Südtirol ist Bozen mit seiner verwinkelten Altstadt. Dies ist eine „gewachsene Stadt“, die durch mehrmalige Erweiterungen naturgemäß weniger kompakt und regelmäßiger ist als der Typus der „gegründeten Stadt“.5 Die letzte große Synthese in der Städteplanung ist das Zeitalter des Barock. Auch hier ist es die politische Hierarchie, die die Einheit ermöglicht. Ohne Rücksicht auf Altbauten überformt man ganze Stadtviertel und Abb. 4 24 3 Die barocke Vorliebe für entfernte Fluchtpunkte und Geometrie: Ansicht vom Belvedere in Wien von Canaletto (1760) 4 Umbauarbeiten in Rom unter Papst Sixtus V. (1585 bis 1590): Von der Piazza del Popolo (unten Mitte) ließ er drei Straßen sternenartig ausgehen. Breite, gerade und große Achsen gehören zur barocken Städteplanung. durchzieht sie mit großen Alleen und Plätzen. Großzügige, symmetrische Achsen mit einem abschließenden Fluchtpunkt bestimmen das Straßen- und Stadtbild. In der Kunst ist es entsprechend das Zeitalter der Veduten und Stadtansichten (Abb. 3–6). Das 19. Jahrhundert Die industrielle Revolution und der demografische Wachstum bewirken im 19. Jahrhundert ein explosionsartiges Wachstum der Städte. Große Erweiterungen werden vorgenommen, die die alte Maßstäblichkeit und das einheitliche Bild sprengen. Die Frage nach dem neuen Gesicht der Stadt rückt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund und erlangt eine Bedeutung, die sie nie zuvor hatte. Historische Stile, Historismus genannt, sollen die Stadt gewanden und die neue Einheit ermöglichen. Doch die Fassade täuscht eine Einheit vor, die inzwischen nicht mehr der Bauaufgabe und der Konstruktion entspricht. Dementsprechend gehen auch die Theorien auseinander, nach welchen Kriterien die Stadt erweitert werden soll. Auf der einen Seite werden rein pragmatische und baurechtliche Gesichtspunkte bedacht. Dies ist im ersten Kompendium für Städtebau von Reinhard Baumeister aus dem Jahr 1876 der Fall. Der Autor meidet konsequent künstlerische Gesichtspunkte.6 Auf der anderen Seite bezieht Camillo Sitte gegen die planerische „Motivenarmut“ Position, indem er dem ästhetischen Aspekt der Stadtplanung einen Primat einräumt. Sittes Vorstellungen eines „malerischen Städtebaus“ waren von 1900 bis 1910 besonders einflussreich (Abb. 7). Ein wichtiges Problem, das es in dieser Zeit zu lösen gilt, sind die Einheitlichkeit und der Zusammenhang mehrer Gebäude, der Stadtviertel, ja ganzer Städte (Abb. 8). Auch auf philosophischer Ebene beschäftigt man sich zur selben Zeit nicht von ungefähr mit der ästhetischen Frage nach dem Zusammenhang einzelner Erscheinungen. Theodor Fechner postuliert 1876 das Assoziationsprinzip, das besagt, dass jede Erscheinung mit Erinnerungsbildern aus der Vergangenheit und damit mit anderen Erscheinungen zusammenhängt. Mit anderen Worten: Wenn Abb. 5 wir etwas Bestimmtes wahrnehmen, verknüpfen wir es automatisch mit etwas anderem, das wir bereits kennen. Bozen und Meran Zwei wichtige Beispiele in Tirol um die Jahrhundertwende sind Bozen und Meran. In Bozen ist Sebastian Altmann von 1857 bis 1894 Stadtbaumeister. Vom Abb. 6 5 Prospekt des Belvedere in Wien von J. A. Corvinus nach Salomon Kleiner 6 Schulgebäude und Kindergarten des Bozner Stadtbaumeisters Gustav Nolte in Oberau: Der genius loci veranlasste den Planer, sich an den ortstypischen Überetscher Stil anzulehnen – Loggien, Rundsäulen, große Rundbögen und gewalmte Dächer. 25 Abb. 7 Bahnhof aus lässt er strahlenförmig Straßen ausgehen, zur Altstadt, zur Pfarrkirche, nach Süden und nach Norden. Dabei schafft er über den Domikanerplatz eine Verbindung zur Neustadt. Altmann erzeugt ein einheitliches Bild, indem er streng geometrisch plant, große achsiale Verbindungen anlegt, gleiche Bauhöhe der Gebäude fordert, die er im Sinne der Münchner Schule historistisch „einkleidet“. Sein Plan ist nicht ein Kontrast zur alten Stadt, sondern deren Fortführung (Abb. 9, 9.1). Wenig später ist in Meran der Stadtbaumeister Theodor Fischer am Werk, ein bedeutender Architekt und Städteplaner aus München. Im neuen Gelände zwischen dem Bahnhof und der ehemaligen Reichsstraße versucht er bewusst, die verwinkelte und malerische „Tiroler Art der Straßen“ zu berücksichtigen, um seine Worte zu gebrauchen. Er meidet konsequent eine allzu strenge Geometrisierung sowie den beliebigen Historismus, den er mit Worten des Hohns versieht.7 Die scharfen Töne, die Fischer in seinen Ausführungen anschlägt, verraten die ungelösten Probleme des Städtebaus jener Zeit.8 Soll sich die Städteplanung nur mit baurechtlichen oder auch mit sozialen und stilistischen Fragen beschäftigen? Welcher Stil soll den neuen Stadtteilen ihr Gesicht verleihen? Sollen die Erweiterungen auf einem streng geometrischen Raster aufbauen oder den verwinkelten Grundriss mittelalterlicher Stadtkerne fortsetzen? All dies betrifft die Architektur, sofern sie eine Antwort auf das Verhältnis unterschiedlicher Gebäude zueinander ist. Moderne 26 Abb. 8 Der Faschismus betreibt noch Städteplanung im großen Stil – stattliche Plätze und lange, breite Straßen mit repräsentativen Gebäuden und Fluchtpunkten. Beispiele aus Bozen sind die Freiheitsstraße mit dem Siegesplatz, der IV.-November-Platz von Marcello Piacentini und Paolo Rossi dè Paoli. Gute Städteplaung erfordert eine Über- und Unterordnung der Gebäude, wie auch Fischer bemerkt9, und der Faschismus fühlt sich dazu berufen. Wenn dieses Regime mit der Klassischen Mo- 7 Theodor Fischers Straßenplan für das neue Bahnhofsgelände in Meran: Der Straßentyp der Altstadt wird darin fortgesetzt. 8 Stadtplan von Barcelona. Links die Altstadt, rechts und oben die Stadterweiterung von Cerdà aus dem Jahr 1859: Das rasterartige Neue setzt sich vom malerischen Alten ab. derne auch eine gewisse Verbindung eingeht, bringt die Avantgarde doch ein völlig anderes Raumkonzept ins Spiel. Nicht mehr Straßenzüge mit fortlaufenden Fassaden, geschlossen und symmetrisch, sollen die neue Stadt kennzeichnen. Das Diktat der Stunde lautet: allein stehende und freiplastische Baukörper, von Luft und Licht umgeben und durchflossen (Abb. 10.1, 10.2, 10.3). Diese Ideen von Le Corbusier werden direkt von der Interantionalen Architektenvereinigung CIAM aufgegriffen. Die Gebäude sind fortan Solitäre, die sich in einem abstrakten Raum befinden und überall auf der Welt stehen könnten. Trotz dieser Vereinzelung der Gebäude plädiert der CIAM in seiner berühmten Charta von Athen dafür, dass Städteplanung in einer möglichst großen Maßstäblichkeit erfolgen sollte.10 Mit anderen Worten, die Klassische Moderne hatte noch eine umfassende Vorstellung vom Raum, in dem gebaut wird. Trotzdem: Der Baukörper steht fortan isoliert für sich und ist durch eine intrinsische Schönheit (oder Hässlichkeit) gekennzeichnet. Dies ist eine Folge vom Pos- Abb. 9 tulat der Autonomie der Kunst, das die Schönheit zu einem autonomen Wert macht, der in keinem größeren sozialen Zusammenhang steht und ohne inhaltliche Bezugnahme zur außerkünstlerischen Realität ist.11 Architektur vs. Stadt Abb. 9.1 9 Stadtplan von Sebastian Altmann für das Zentrum von Bozen Stadtarchiv Bozen, Öffentliches Bauwesen „Die Geschichte des neuzeitlichen Städtebaus ist geprägt von der Dichotomie zwischen Architekten und Stadt. Das Bauwerk löst sich aus dem kollektiven räumlichen Verband.“12 Das Zitat stammt von Thomas Will, Professor an der Technischen Universität Dresden. 9.1 Sebastian Altmann, Stadtbaumeister in Bozen von 1857 bis 1894 Stadtarchiv Bozen, Öffentliches Bauwesen 27 Abb. 10.1 Abb. 10.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Sitte’sche Forderung nach einem malerischen Zusammenhang der Stadt grundsätzlich abgelehnt und in die reaktionäre Ecke gestellt, wie Will weiter ausführt.13 Der Wiederaufbau zerstörter Stadtteile geht schnell voran, doch bereits in den 1960er Jahren erheben sich zahlreiche Stimmen gegen diese entfremdende und anonyme Bauweise, die eine Sedimentierung der Moderne ist (Abb. 11). Die Kurzatmigkeit politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen erschweren weiters eine langfristige und umsichtige Planung.14 Städteplaner bescheiden sich in dieser Zeit zumeist mit baurechtlichen Einschränkungen. Verschiedene Vordenker der Moderne selbst erkannten bald, dass ihre unmalerische und abstrakte Auffassung der Stadt anonymisierende Folgen für die Bewohner hat. Ein Beispiel ist Sigfried Gideons Gesinnungsänderung aus dem Jahre 1954.15 Auch in Südtirol interessiert man sich nach dem Krieg kaum noch für Städteplanung, da sie noch zu sehr „nach Ideologie und Herrschaftsarchitektur“ riecht, wie Zeno Abram schreibt.16 Man baut in dieser Zeit vor allem condomini, Mehrfamilieneigentumswohnungs- Abb. 11 28 10.1 Zeichnungen von Gerald Haning, die die Ziele Le Corbusiers und der Charta von Athen veranschaulichen: „Das Elend hinter der historischen Fassade“ 10.2 „Ordnung – Unordnung“ 10.3 „Lichtfülle und Finsternis“ Abb. 10.3 häuser (da das Wort länger als das Gebäude hoch ist, wurde das Südtiroler Wort Kondominium erfunden), die in einem parkartigen Raum isoliert und lose mit allseitigem Grenzabstand errichtet werden. Die Wohnqualität in diesen neuen Vierteln ist nicht notwendigerweise schlecht, doch es fehlt ein umfassendes raumplanerisches Konzept, das auch ästhetische Gesichtspunkte bedenkt. Architektur und Landschaft in Südtirol Die Frage nach der Raumgestaltung und dem architektonischen Umfeld stellt sich vor allem in der Stadt, da hier die großen Erweiterungen stattfinden. Doch die touristische Entwicklung in den Alpen bringt auch am Land eine starke Bautätigkeit mit sich. Wie verhalten sich nun diese Gebäude zur Besonderheit des Ortes, dem genius loci? Die Architektur der Klassischen Moderne grenzt sich in Stil und Material vom natürlichen und kulturell gewachsenen Umfeld ab. Die Tiroler Moderne ist allerdings oft darauf bedacht, die umliegende Landschaft in das Gebäude aufzunehmen. Ein Beispiel ist Franz Baumanns gespannte Fassade des Hotels Monte Pana in St. Christina, das der Kurve des davor befindlichen Gebirges folgt. Die kitschigen Jodlerhütten, die seit der zweiten Jahrhunderthälfte das Land übersäen, sind in gewissem Sinne alpenländisch und respektieren ebenfalls quomodo den genius loci. Doch begegnet der Betrachter zumeist einer serienmäßig erzeugten Romantik, die vom Engadin in der Schweiz bis ins östliche Pusteral kaum Unterschiede aufweist. Das 11 Der „Betonbrutalismus“ der 60er-Jahre: Märkisches Viertel in Berlin Südtiroler Verdienst zur Raumgestaltung und Berücksichtigung des genius loci ist ein anderes – der LEROP, der Landesentwicklungs- und Raumordnungsplan, dessen erste Fassung (1973) auf Alfons Benedikter zurückgeht. Es ist ein erklärtes Ziel dieses umfassenden Planes, eine Zersiedelung zu vermeiden. Das Einfamilienhaus mitten im Grün ist nicht erlaubt! Nur 6,1 Prozent der Siedlungsfläche ist für Dauersiedlungen geeignet, und die ist bereits aufgebraucht, wie das Dokument ermahnt.17 Weitere Ziele sind der Erhalt des charakteristischen Siedlungsbildes der Dörfer und Landschaften sowie eine harmonische Siedlungsentwicklung.18 Dass in der Architektur das umliegende Territorium berücksichtigt werden muss, ist nach wie vor ein Anliegen politischer Verteter des Landes. In einer Publikation der Landesabteilung für Natur und Landschaft aus dem Jahr 2008 heißt es: „Die Realisierung von Gebäuden, die die Umgebung schlichtweg ignorieren und überall stehen könnten, ist zu vermeiden. Das Ergebnis bewusster Planung muss sich in begründeten Entscheidungen im Hinblick auf die Standortfrage, die Baumassenordnung, die Materialien und gegebenenfalls im Baustil widerspiegeln und sollte an den Gebäuden ablesbar sein.“19 Eine Ode an den genius loci und weitsichige Gedanken zu einer einheitlichen Raumplanung. Der einzige Haken: Es sind eben Gedanken. Worüber die Postmoderne nicht spricht Um letztgenannten Punkt auszuführen, sei ein weiterer Blick auf eine internationale Architekturströmung gerichtet. Die zweite Jahrhunderthälfte brachte viel Unsicherheit und einen neuen Gedanken hervor – die Postmoderne. Diese nicht leicht zu definierende Strömung bricht ein Tabu der Moderne und greift erneut auf historische Stile zurück. Die ironische Distanz, die diesen Gestus begleitet, hat einen Eklektizismus zur Folge, der ein wichtiger Bestandteil der gesamten Bewegung ist. Es sei nicht weiter ausgeführt, was Postmoderne Autoren sagen, sondern was sie totschweigen – den Städtebau sowie ein Raumkonzept, in dem die Gebäude vorkommen. Charles Jencks, der vielleicht wichtigste 12 Werbemäßiges Computer-Rendering von Matteo Thun – Architekturwettbewerb für ein Hotel in Reischach bei Bruneck Abb. 12 Autor, beschäftigt sich kaum mit dem Thema. Gleich wie Robert Venturi, ein weiterer bedeutender Theoretiker, verliert kaum ein Wort darüber. Venturi selbst interessiert weit mehr die Einheit des einzelnen Gebäudes – des „schwierigen Ganzen“, wie er es nennt, nicht des Stadtbildes. Ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen, kommen beide Autoren zum Schluss, dass das urbane Ganze durch eine pluralistische „widersprüchliche Ordnungsstruktur“ bestimmt sein soll.20 Und der Autor dieser Untersuchung kommt zum Schluss, dass dies Chaos bedeutet. Was im Vordergrund steht, ist vielmehr der einzelne Bau und damit der Planer, der es entworfen hat (Abb. 12)! Südtiroler Partikularismus Es ist nicht leicht zu beweisen, dass es den Planern vornehmlich um ihr eigenes Projekt geht, nicht um das Umfeld. Wer einen roten Würfel als Wohnhaus auf der Seiser Alm errichtet, könnte argumentieren, dass er 29 Abb. 13 30 damit das abendliche Leuchten des Schlerns aufgreife, der außerdem wie sein Haus oben flach sei. Damit sei der genius loci durchaus berücksichtigt. Falls der Leser Gefallen an solchen Beispielen findet, lese er Don Quijote oder Architekturzeitschriften. Sein Tag wird gerettet sein. In diesem argumentativen Kampf gewinnt derjenige, der das höchste Kartenhaus zustande bringt. Deshalb sei ein anderer Weg beschritten. Es ist jener Weg, auf den mich der Fotograf und Wahrnehmungspsychologe Peter Unterthurner verwies. Man betrachte Abbildungen von Gebäuden in Zeitschriften, auf Homepages von Architekten und in Wettbewerbsprojekten, in diesem Fall sei lediglich von Südtiroler Quellen die Rede. Man wird bald erkennen: Nicht das Umfeld, sondern das einzelne Gebäude ist zu sehen. Von den Gebäuden ringsum ist lediglich eine Kante oder ein anderer, begrenzter Ausschnitt erkennbar. Einen Gegenstand lediglich anzudeuten, ist ein ästhetisch wirksames Mittel, weil dadurch die Phantasie des Betrachters angeregt wird. Es liefert allerdings nicht jene Information, die man braucht, um zu beurteilen, ob ein Gebäude tatsächlich ins Umfeld passt oder nicht. Auch wenn sich das Gebäude am Land befindet, wird sorgfältig ausgespart, was sich ringsum befindet – außer es handelt sich um unberührte Natur, die als Kulisse die Qualität des Bildes steigert. Doch unberührte Natur gibt es in Südtirol kaum noch, außer auf Werbeprospekten und in der Architekturfotografie. Dass das Umfeld eines Gebäudes nicht gebührlich im Bild vorkommt, fällt besonders bei den vielgerühmten Architekturwettbewerben auf. Die Computerdarstellungen, Renderings genannt, zielen wie die Werbung eher darauf ab, einen gefälligen Eindruck zu erwecken, als Informationen zum genius loci zu liefern, der gerade von Südtiroler Politikern lautstark deklamiert wurde. Eine Darstellung mit Weitwinkel aus der Ferne kommt nicht vor. Dies entspricht der Meinung des renommierten Fotografiehistorikers Rolf Sachsse, demzufolge Darstellungen von Architektur im 20. Jahrhundert allmählich zu „Werbeträgern der beschriebenen Architekten“ wurden. „Dem hatte sich die Photographie unterzuordnen“, schlussfolgert Sachsse21 (Abb. 13). 13 Versuch einer städtebaulichen Überlegung: Das Museion in Bozen sollte laut Vorgabe der Architekten eine Verbindung zwischen Alt- und Neustadt sein. Dieses suggestive Bild verschleiert allerdings, dass vom Musieon aus die Achse mit den beiden Brücken ins Leere führt. Abb. 14 14 Die Bilder zeigen das Naturparkhaus in Villnöß als flächiges Gebilde mit warmen Farbverläufen. Der Fotograf benutzt die Architektur, um ein abstraktes Kunstwerk zu erzeugen.24 31 Die Art und Weise, wie ein Gebäude dargestellt wird, ist ein Indiz dafür, was daran als relevant erachtet wird. Die Darstellungen, die wir täglich betrachten, beeinflussen unsere Wahrnehmung der Realität und bestimmen unser Urteil über das, was wir daran relevant und schön, hässlich und unbedeutend finden.22 Und diese Art der Darstellung verrät den Egozentrismus des Nutznießers und vor allem des Planers des Gebäudes. Der Philosoph G. W. F. Hegel vertrat die These, dass die Kunst u. a. daran zugrunde geht, dass die Persönlichkeit der Künstler – dazu gehören auch Architekten – vor den allgemeinen Interessen einer Gemeinschaft steht.23 Diese „Heldenverehrung“ schadet der Kunst und noch weit mehr der Stadt- und Raumplanung, wo allgemeine Interessen an erster Stelle stehen. Die folgenden Fotografien von Peter Unterthurner bilden die Gebäude von öffentlichen Verkehrswegen aus ab, gemeinsam mit dem jeweiligen Umfeld. Dies kommt der alltäglichen Wahr­ nehmung näher als die beigefügten idealisierenden Bilder. Anmerkungen 1 Christian Norberg-Schulz, Genius Loci/Landschaft, Lebensraum, Baukunst, Stuttgart 1982, S. 18. 2 Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 18/19. 3 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Übersetzung: Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, liber VI, S. 271 ff. 4 Ebd., liber I, S. 43. 5 Zur Unterscheidung „gegründete Stadt“ und „gewordene Stadt“, vgl. Theodor Fischer, Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München/Berlin 1922, S. 57. Naturparkhaus Villnöß: Kontrast im Umfeld 32 Idealisierte Darstellung 6 Vgl. Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 21. 7 Architektur in Südtirol – 1900 bis heute, Hg. Architektenkammer der Provinz Bozen, Bozen 1993, S. 64; vgl. auch Theodor Fischer, Zwei Vorträge über Proportionen, München/Berlin 1933, S. 9. 8 Vgl. Theodor Fischer, Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München/Berlin 1922, S. 11, 28, 34/35, 49, 85. 9 Ebd. 85. 10 Vgl. Artikel 83 der Charta von Athen, in: Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 26. 11 Vgl. Wassily Kandisky, Lo spirituale nell’arte, Milano 1999, S. 25–37. 12 Thomas Will, Bauen in der alten Stadt – Lehren aus der Geschichte? In: Architektur im Kontext, Hg. Hasso Hohmann, Graz 2007, S. 75. 13 Vgl. ebd., S. 76. 14 Vgl. Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 29. 15 Vgl. Christian Norberg-Schulz, Genius Loci/Landschaft, Lebensraum, Baukunst, Stuttgart 1982, S. 195. 16 Vgl. Architektur in Südtirol – 1900 bis heute, Hg. Architektenkammer der Provinz Bozen, Bozen 1993, Einleitung von Zeno Abram. 17 LEROP, 1995 genehmigte Ausgabe, Hg. Autonome Provinz Bozen-Südtirol, S. 26. 18 Ebd., S. 130, S. 245. 19 Architektur und Kontext, Tagungsreihe „Bauen in der Landschaft“, Hg. Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Abteilung Natur und Landschaft, Bozen 2008, S. 6. 20 Vgl. Charles Jencks, Die Postmoderne/Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur, Stuttgart 1988, S. 187, sowie Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Hg. Heinrich Klotz, Basel/Berlin 2000, S. 161, S. 136–161. 21 Vgl. Rolf Sachsse, Photographie als Medium der Architekturinterpretation, Studien zur Geschichte der deutschen Architekturphotographie im 20. Jahrhundert, München 1984, S. 183. 22 Vgl. Bernard Berenson, Ästhetik und Geschichte in der bildenden Kunst, Zürich 1950, S. 80/81. 23 Vgl. G. W. F. Hegel, Ästhetik II, Hg. Rüdiger Bubner, Stuttgart 2008, S. 660, 670. Dasselbe Wohnhaus in Brixen: Kontrast im Umfeld 33 Idealisierte Darstellung Haus Schnitzer in Tscherms im tatsächlichen Umfeld Dr. Andres C. Pizzinini Diplom der Malerei an der Kunstakademie in Urbino, 2012 Promotion an der Philosophischen Fakultät Innsbruck, Dissertation zum Thema „Antimoderne Ästhetik“ Idealisierte Darstellung: dasselbe Haus als Alleindarsteller 34