Seitenblick

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Harpfe 4/12
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andres C. Pizzinini
Seitenblick
Häuser stehen selten allein, sondern haben andere Gebäude, Straßen und Landschaften als Nachbarn. Ein Rückblick in die Geschichte und ein Seitenblick auf die Umgebung der Architektur.
Schräge, spitze und flache Dächer, Holz, Beton, Aluminium und Stahl; kubische, runde, halbrunde, turmhohe
und einstöckige Gebäude – so bunt ist Architektur heute.
„Nein“, drängt mich Peter, „sieh genauer hin, alle Abbildungen haben etwas gemeinsam!“ Ich beginne von vorn
und durchblättere nochmals die Bücher und Zeitschriften über zeitgenössiche Architektur in Südtirol, die vor
22
mir ausgebreitet auf dem Tisch liegen – auf der Suche
nach dem allgemeinsten gemeinsamen Nenner. Nichts,
nur ein Urwald von Formen, Farben und Materialien.
„All diese Bilder zeigen nichts anderes als das Gebäude
selbst!“, lüftet Peter das Geheimnis. Tatsächlich: In den
Bildern ist nur das jeweilige Gebäude zu sehen, nur in
den seltensten Fällen erscheinen das architektonische
Umfeld und die natürliche Landschaft im Bild, obwohl
Architekten und Raumplaner oft davon reden. Angeregt
durch den Hinweis des Fotografen Peter Unterthurner
begab ich mich auf die Suche nach dem, wie Gebäude
zu dem stehen, was sich rechts und links, vor und hinter
ihnen befindet.
Genius loci
In der Sprache der Architekten nennt man die Eigenart
des Umfeldes, an dem etwas errichtet wird, den genius
loci. Der Begriff stammt aus dem antiken Rom, wo die
Leute verschiedensten Ereignissen und Situationen im
Alltag eine eigene Gottheit, einen genius, zuteilten. Unter genius loci verstand der antike Mensch einen nicht genauer bestimmten Geist, der jedem eigenständigen Wesen Leben und Identität verleiht. Auch ein bestimmter
Abb. 1
Ort war vom genius loci geprägt, sodass es dort, wo das
Leben stattfand, galt, sich mit diesem Geist in Einklang
zu bringen. Die Architekten sprechen daran anlehnend
vom genius loci als der Besonderheit eines Ortes.1
Seitenblick
Dass ein neues Gebäude den genius loci berücksichtigt,
heißt, dass es sich in seiner Machart an das Umfeld anlehnt und aus ihm heraus entsteht. Es geht also um das
23
Abb. 2
1 Darstellung eines römischen Castrum: Ausgehend von
den beiden Achsen cardo (Längsachse) und decumanus
(Querachse) wird die Siedlung errichtet.
2 Vier Entwicklungsphasen einer hypothetischen historischen Stadt: die Stadt um 1250, um 1350, um 1550 und um
1750
Die Antike
Abb. 3
Verhältnis des Gebäudes zu seiner Umgebung. Folgende Punkte können bei einem solchen „Seitenblick“ auf
das Umfeld unterschieden werden:
– Stil;
– Form und Farbe;
– Baumasse;
– Material;
– Disposition im Raum;
– natürliches Umfeld.
Sowohl die Griechen als auch die Römer verwendeten
den rechten Winkel zur Städteplanung, wobei Letztere die Stadt von den beiden sich lotrecht kreuzenden
Hauptachsen cardo und decumanus ausgehend planten2
(Abb. 1). Dies betrifft die Form des Gebäudes und vor
allem ihre Disposition im Raum. Hinsichtlich Stil und
Material hatte der antike Mensch eine sehr konservative
Auffassung. Eine Abweichung von der Norm aus persönlichem Einfall gab es nicht. Der römische Architekt
Vitruv (geb. ca. 84 v. Chr.) war gleichzeitig der bedeutendste Architekturtheoretiker der Antike. Er gibt peinlich genaue Anweisungen zu Proportionen, Material
und Stil, in denen die Gebäude – vor allem Privatgebäude, d. h. Villen – errichtet werden sollen.3 Die Verwendung von Materialien aus der Umgebung gilt ihm als
ökonomische Selbstverständlichkeit.4 Diese konservative Haltung der Antike hatte größten Einfluss auf die
Entwicklung Europas und hat über die Jahrhunderte viel
dazu beigetragen, dass die Städte und überhaupt die Gebäude untereinander ein relativ homogenes Aussehen
haben. Die hier kurz angeschnittene Städteplanung ist
ein wichtiger Punkt dieser Untersuchung, da es um das
Verhältnis der Gebäude zueinander geht.
Historische Entwicklung
Die mittelalterliche Stadt erhält ihre Struktur von der
hierarchischen Ordnung der Stände, wobei der Adel
und der Klerus den oberen Abschluss bilden. Um diese Machtzentren herum und innerhalb der befestigten
Stadtmauern entwickelt sich relativ frei die Stadt der
Zünfte und aufstrebenden Bürger (Abb. 2). Ein Beispiel
aus Südtirol ist Bozen mit seiner verwinkelten Altstadt.
Dies ist eine „gewachsene Stadt“, die durch mehrmalige
Erweiterungen naturgemäß weniger kompakt und regelmäßiger ist als der Typus der „gegründeten Stadt“.5
Die letzte große Synthese in der Städteplanung ist das
Zeitalter des Barock. Auch hier ist es die politische Hierarchie, die die Einheit ermöglicht. Ohne Rücksicht
auf Altbauten überformt man ganze Stadtviertel und
Abb. 4
24
3 Die barocke Vorliebe für entfernte Fluchtpunkte und
Geometrie: Ansicht vom Belvedere in Wien von Canaletto
(1760)
4 Umbauarbeiten in Rom unter Papst Sixtus V. (1585 bis
1590): Von der Piazza del Popolo (unten Mitte) ließ er drei
Straßen sternenartig ausgehen. Breite, gerade und große
Achsen gehören zur barocken Städteplanung.
durchzieht sie mit großen Alleen und Plätzen. Großzügige, symmetrische Achsen mit einem abschließenden
Fluchtpunkt bestimmen das Straßen- und Stadtbild. In
der Kunst ist es entsprechend das Zeitalter der Veduten
und Stadtansichten (Abb. 3–6).
Das 19. Jahrhundert
Die industrielle Revolution und der demografische
Wachstum bewirken im 19. Jahrhundert ein explosionsartiges Wachstum der Städte. Große Erweiterungen
werden vorgenommen, die die alte Maßstäblichkeit und
das einheitliche Bild sprengen. Die Frage nach dem
neuen Gesicht der Stadt rückt in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund und erlangt
eine Bedeutung, die sie nie zuvor hatte. Historische
Stile, Historismus genannt, sollen die Stadt gewanden
und die neue Einheit ermöglichen. Doch die Fassade
täuscht eine Einheit vor, die inzwischen nicht mehr der
Bauaufgabe und der Konstruktion entspricht. Dementsprechend gehen auch die Theorien auseinander, nach
welchen Kriterien die Stadt erweitert werden soll. Auf
der einen Seite werden rein pragmatische und baurechtliche Gesichtspunkte bedacht. Dies ist im ersten Kompendium für Städtebau von Reinhard Baumeister aus
dem Jahr 1876 der Fall. Der Autor meidet konsequent
künstlerische Gesichtspunkte.6 Auf der anderen Seite
bezieht Camillo Sitte gegen die planerische „Motivenarmut“ Position, indem er dem ästhetischen Aspekt der
Stadtplanung einen Primat einräumt. Sittes Vorstellungen eines „malerischen Städtebaus“ waren von 1900
bis 1910 besonders einflussreich (Abb. 7). Ein wichtiges
Problem, das es in dieser Zeit zu lösen gilt, sind die Einheitlichkeit und der Zusammenhang mehrer Gebäude,
der Stadtviertel, ja ganzer Städte (Abb. 8). Auch auf philosophischer Ebene beschäftigt man sich zur selben Zeit
nicht von ungefähr mit der ästhetischen Frage nach dem
Zusammenhang einzelner Erscheinungen. Theodor
Fechner postuliert 1876 das Assoziationsprinzip, das
besagt, dass jede Erscheinung mit Erinnerungsbildern
aus der Vergangenheit und damit mit anderen Erscheinungen zusammenhängt. Mit anderen Worten: Wenn
Abb. 5
wir etwas Bestimmtes wahrnehmen, verknüpfen wir es
automatisch mit etwas anderem, das wir bereits kennen.
Bozen und Meran
Zwei wichtige Beispiele in Tirol um die Jahrhundertwende sind Bozen und Meran. In Bozen ist Sebastian Altmann von 1857 bis 1894 Stadtbaumeister. Vom
Abb. 6
5 Prospekt des Belvedere in Wien von J. A. Corvinus nach
Salomon Kleiner
6 Schulgebäude und Kindergarten des Bozner Stadtbaumeisters Gustav Nolte in Oberau: Der genius loci veranlasste den Planer, sich an den ortstypischen Überetscher Stil
anzulehnen – Loggien, Rundsäulen, große Rundbögen und
gewalmte Dächer.
25
Abb. 7
Bahnhof aus lässt er strahlenförmig Straßen ausgehen,
zur Altstadt, zur Pfarrkirche, nach Süden und nach
Norden. Dabei schafft er über den Domikanerplatz eine
Verbindung zur Neustadt. Altmann erzeugt ein einheitliches Bild, indem er streng geometrisch plant, große
achsiale Verbindungen anlegt, gleiche Bauhöhe der
Gebäude fordert, die er im Sinne der Münchner Schule
historistisch „einkleidet“. Sein Plan ist nicht ein Kontrast zur alten Stadt, sondern deren Fortführung (Abb.
9, 9.1). Wenig später ist in Meran der Stadtbaumeister
Theodor Fischer am Werk, ein bedeutender Architekt
und Städteplaner aus München. Im neuen Gelände zwischen dem Bahnhof und der ehemaligen Reichsstraße
versucht er bewusst, die verwinkelte und malerische
„Tiroler Art der Straßen“ zu berücksichtigen, um seine
Worte zu gebrauchen. Er meidet konsequent eine allzu
strenge Geometrisierung sowie den beliebigen Historismus, den er mit Worten des Hohns versieht.7
Die scharfen Töne, die Fischer in seinen Ausführungen
anschlägt, verraten die ungelösten Probleme des Städtebaus jener Zeit.8 Soll sich die Städteplanung nur mit
baurechtlichen oder auch mit sozialen und stilistischen
Fragen beschäftigen? Welcher Stil soll den neuen Stadtteilen ihr Gesicht verleihen? Sollen die Erweiterungen
auf einem streng geometrischen Raster aufbauen oder
den verwinkelten Grundriss mittelalterlicher Stadtkerne
fortsetzen?
All dies betrifft die Architektur, sofern sie eine Antwort
auf das Verhältnis unterschiedlicher Gebäude zueinander ist.
Moderne
26
Abb. 8
Der Faschismus betreibt noch Städteplanung im großen Stil – stattliche Plätze und lange, breite Straßen mit
repräsentativen Gebäuden und Fluchtpunkten. Beispiele aus Bozen sind die Freiheitsstraße mit dem Siegesplatz, der IV.-November-Platz von Marcello Piacentini
und Paolo Rossi dè Paoli. Gute Städteplaung erfordert
eine Über- und Unterordnung der Gebäude, wie auch
Fischer bemerkt9, und der Faschismus fühlt sich dazu
berufen. Wenn dieses Regime mit der Klassischen Mo-
7 Theodor Fischers Straßenplan für das neue Bahnhofsgelände in Meran: Der Straßentyp der Altstadt wird darin
fortgesetzt.
8 Stadtplan von Barcelona. Links die Altstadt, rechts und
oben die Stadterweiterung von Cerdà aus dem Jahr 1859:
Das rasterartige Neue setzt sich vom malerischen Alten ab.
derne auch eine gewisse Verbindung eingeht, bringt
die Avantgarde doch ein völlig anderes Raumkonzept
ins Spiel. Nicht mehr Straßenzüge mit fortlaufenden
Fassaden, geschlossen und symmetrisch, sollen die
neue Stadt kennzeichnen. Das Diktat der Stunde lautet:
allein stehende und freiplastische Baukörper, von Luft
und Licht umgeben und durchflossen (Abb. 10.1, 10.2,
10.3). Diese Ideen von Le Corbusier werden direkt von
der Interantionalen Architektenvereinigung CIAM aufgegriffen. Die Gebäude sind fortan Solitäre, die sich in
einem abstrakten Raum befinden und überall auf der
Welt stehen könnten. Trotz dieser Vereinzelung der Gebäude plädiert der CIAM in seiner berühmten Charta
von Athen dafür, dass Städteplanung in einer möglichst
großen Maßstäblichkeit erfolgen sollte.10 Mit anderen
Worten, die Klassische Moderne hatte noch eine umfassende Vorstellung vom Raum, in dem gebaut wird.
Trotzdem: Der Baukörper steht fortan isoliert für sich
und ist durch eine intrinsische Schönheit (oder Hässlichkeit) gekennzeichnet. Dies ist eine Folge vom Pos-
Abb. 9
tulat der Autonomie der Kunst, das die Schönheit zu
einem autonomen Wert macht, der in keinem größeren
sozialen Zusammenhang steht und ohne inhaltliche Bezugnahme zur außerkünstlerischen Realität ist.11
Architektur vs. Stadt
Abb. 9.1
9 Stadtplan von Sebastian Altmann für das Zentrum von
Bozen
Stadtarchiv Bozen, Öffentliches Bauwesen
„Die Geschichte des neuzeitlichen Städtebaus ist geprägt von der Dichotomie zwischen Architekten und
Stadt. Das Bauwerk löst sich aus dem kollektiven räumlichen Verband.“12 Das Zitat stammt von Thomas Will,
Professor an der Technischen Universität Dresden.
9.1 Sebastian Altmann, Stadtbaumeister in Bozen von 1857
bis 1894
Stadtarchiv Bozen, Öffentliches Bauwesen
27
Abb. 10.1
Abb. 10.2
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Sitte’sche Forderung nach einem malerischen Zusammenhang der
Stadt grundsätzlich abgelehnt und in die reaktionäre
Ecke gestellt, wie Will weiter ausführt.13 Der Wiederaufbau zerstörter Stadtteile geht schnell voran, doch bereits
in den 1960er Jahren erheben sich zahlreiche Stimmen
gegen diese entfremdende und anonyme Bauweise,
die eine Sedimentierung der Moderne ist (Abb. 11). Die
Kurzatmigkeit politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen erschweren weiters eine langfristige und umsichtige Planung.14 Städteplaner bescheiden sich in dieser Zeit zumeist mit baurechtlichen Einschränkungen.
Verschiedene Vordenker der Moderne selbst erkannten
bald, dass ihre unmalerische und abstrakte Auffassung
der Stadt anonymisierende Folgen für die Bewohner
hat. Ein Beispiel ist Sigfried Gideons Gesinnungsänderung aus dem Jahre 1954.15
Auch in Südtirol interessiert man sich nach dem Krieg
kaum noch für Städteplanung, da sie noch zu sehr
„nach Ideologie und Herrschaftsarchitektur“ riecht,
wie Zeno Abram schreibt.16 Man baut in dieser Zeit vor
allem condomini, Mehrfamilieneigentumswohnungs-
Abb. 11
28
10.1 Zeichnungen von Gerald Haning, die die Ziele Le Corbusiers und der Charta von Athen veranschaulichen: „Das
Elend hinter der historischen Fassade“
10.2 „Ordnung – Unordnung“
10.3 „Lichtfülle und Finsternis“
Abb. 10.3
häuser (da das Wort länger als das Gebäude hoch ist,
wurde das Südtiroler Wort Kondominium erfunden), die
in einem parkartigen Raum isoliert und lose mit allseitigem Grenzabstand errichtet werden. Die Wohnqualität in diesen neuen Vierteln ist nicht notwendigerweise
schlecht, doch es fehlt ein umfassendes raumplanerisches Konzept, das auch ästhetische Gesichtspunkte bedenkt.
Architektur und Landschaft in Südtirol
Die Frage nach der Raumgestaltung und dem architektonischen Umfeld stellt sich vor allem in der Stadt, da
hier die großen Erweiterungen stattfinden. Doch die
touristische Entwicklung in den Alpen bringt auch am
Land eine starke Bautätigkeit mit sich. Wie verhalten
sich nun diese Gebäude zur Besonderheit des Ortes,
dem genius loci? Die Architektur der Klassischen Moderne grenzt sich in Stil und Material vom natürlichen
und kulturell gewachsenen Umfeld ab. Die Tiroler Moderne ist allerdings oft darauf bedacht, die umliegende
Landschaft in das Gebäude aufzunehmen. Ein Beispiel
ist Franz Baumanns gespannte Fassade des Hotels
Monte Pana in St. Christina, das der Kurve des davor
befindlichen Gebirges folgt. Die kitschigen Jodlerhütten, die seit der zweiten Jahrhunderthälfte das Land
übersäen, sind in gewissem Sinne alpenländisch und
respektieren ebenfalls quomodo den genius loci. Doch
begegnet der Betrachter zumeist einer serienmäßig erzeugten Romantik, die vom Engadin in der Schweiz bis
ins östliche Pusteral kaum Unterschiede aufweist. Das
11 Der „Betonbrutalismus“ der 60er-Jahre: Märkisches
Viertel in Berlin
Südtiroler Verdienst zur Raumgestaltung und Berücksichtigung des genius loci ist ein anderes – der LEROP,
der Landesentwicklungs- und Raumordnungsplan,
dessen erste Fassung (1973) auf Alfons Benedikter zurückgeht. Es ist ein erklärtes Ziel dieses umfassenden
Planes, eine Zersiedelung zu vermeiden. Das Einfamilienhaus mitten im Grün ist nicht erlaubt! Nur 6,1 Prozent der Siedlungsfläche ist für Dauersiedlungen geeignet, und die ist bereits aufgebraucht, wie das Dokument
ermahnt.17 Weitere Ziele sind der Erhalt des charakteristischen Siedlungsbildes der Dörfer und Landschaften
sowie eine harmonische Siedlungsentwicklung.18 Dass
in der Architektur das umliegende Territorium berücksichtigt werden muss, ist nach wie vor ein Anliegen politischer Verteter des Landes. In einer Publikation der
Landesabteilung für Natur und Landschaft aus dem Jahr
2008 heißt es: „Die Realisierung von Gebäuden, die die
Umgebung schlichtweg ignorieren und überall stehen
könnten, ist zu vermeiden. Das Ergebnis bewusster
Planung muss sich in begründeten Entscheidungen im
Hinblick auf die Standortfrage, die Baumassenordnung,
die Materialien und gegebenenfalls im Baustil widerspiegeln und sollte an den Gebäuden ablesbar sein.“19
Eine Ode an den genius loci und weitsichige Gedanken
zu einer einheitlichen Raumplanung. Der einzige Haken: Es sind eben Gedanken.
Worüber die Postmoderne nicht spricht
Um letztgenannten Punkt auszuführen, sei ein weiterer Blick auf eine internationale Architekturströmung
gerichtet. Die zweite Jahrhunderthälfte brachte viel
Unsicherheit und einen neuen Gedanken hervor – die
Postmoderne. Diese nicht leicht zu definierende Strömung bricht ein Tabu der Moderne und greift erneut
auf historische Stile zurück. Die ironische Distanz, die
diesen Gestus begleitet, hat einen Eklektizismus zur
Folge, der ein wichtiger Bestandteil der gesamten Bewegung ist. Es sei nicht weiter ausgeführt, was Postmoderne Autoren sagen, sondern was sie totschweigen – den
Städtebau sowie ein Raumkonzept, in dem die Gebäude
vorkommen. Charles Jencks, der vielleicht wichtigste
12 Werbemäßiges Computer-Rendering von Matteo
Thun – Architekturwettbewerb für ein Hotel in Reischach
bei Bruneck
Abb. 12
Autor, beschäftigt sich kaum mit dem Thema. Gleich
wie Robert Venturi, ein weiterer bedeutender Theoretiker, verliert kaum ein Wort darüber. Venturi selbst interessiert weit mehr die Einheit des einzelnen Gebäudes
– des „schwierigen Ganzen“, wie er es nennt, nicht des
Stadtbildes. Ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen, kommen beide Autoren zum Schluss, dass das urbane Ganze durch eine pluralistische „widersprüchliche
Ordnungsstruktur“ bestimmt sein soll.20 Und der Autor
dieser Untersuchung kommt zum Schluss, dass dies
Chaos bedeutet. Was im Vordergrund steht, ist vielmehr
der einzelne Bau und damit der Planer, der es entworfen
hat (Abb. 12)!
Südtiroler Partikularismus
Es ist nicht leicht zu beweisen, dass es den Planern vornehmlich um ihr eigenes Projekt geht, nicht um das
Umfeld. Wer einen roten Würfel als Wohnhaus auf der
Seiser Alm errichtet, könnte argumentieren, dass er
29
Abb. 13
30
damit das abendliche Leuchten des Schlerns aufgreife,
der außerdem wie sein Haus oben flach sei. Damit sei
der genius loci durchaus berücksichtigt. Falls der Leser
Gefallen an solchen Beispielen findet, lese er Don Quijote oder Architekturzeitschriften. Sein Tag wird gerettet
sein. In diesem argumentativen Kampf gewinnt derjenige, der das höchste Kartenhaus zustande bringt. Deshalb sei ein anderer Weg beschritten. Es ist jener Weg,
auf den mich der Fotograf und Wahrnehmungspsychologe Peter Unterthurner verwies.
Man betrachte Abbildungen von Gebäuden in Zeitschriften, auf Homepages von Architekten und in
Wettbewerbsprojekten, in diesem Fall sei lediglich von
Südtiroler Quellen die Rede. Man wird bald erkennen:
Nicht das Umfeld, sondern das einzelne Gebäude ist
zu sehen. Von den Gebäuden ringsum ist lediglich eine
Kante oder ein anderer, begrenzter Ausschnitt erkennbar. Einen Gegenstand lediglich anzudeuten, ist ein ästhetisch wirksames Mittel, weil dadurch die Phantasie
des Betrachters angeregt wird. Es liefert allerdings nicht
jene Information, die man braucht, um zu beurteilen,
ob ein Gebäude tatsächlich ins Umfeld passt oder nicht.
Auch wenn sich das Gebäude am Land befindet, wird
sorgfältig ausgespart, was sich ringsum befindet – außer es handelt sich um unberührte Natur, die als Kulisse
die Qualität des Bildes steigert. Doch unberührte Natur
gibt es in Südtirol kaum noch, außer auf Werbeprospekten und in der Architekturfotografie. Dass das Umfeld
eines Gebäudes nicht gebührlich im Bild vorkommt,
fällt besonders bei den vielgerühmten Architekturwettbewerben auf. Die Computerdarstellungen, Renderings
genannt, zielen wie die Werbung eher darauf ab, einen
gefälligen Eindruck zu erwecken, als Informationen
zum genius loci zu liefern, der gerade von Südtiroler
Politikern lautstark deklamiert wurde. Eine Darstellung
mit Weitwinkel aus der Ferne kommt nicht vor. Dies
entspricht der Meinung des renommierten Fotografiehistorikers Rolf Sachsse, demzufolge Darstellungen von
Architektur im 20. Jahrhundert allmählich zu „Werbeträgern der beschriebenen Architekten“ wurden. „Dem
hatte sich die Photographie unterzuordnen“, schlussfolgert Sachsse21 (Abb. 13).
13 Versuch einer städtebaulichen Überlegung: Das Museion in Bozen sollte laut Vorgabe der Architekten eine Verbindung zwischen Alt- und Neustadt sein. Dieses suggestive
Bild verschleiert allerdings, dass vom Musieon aus die
Achse mit den beiden Brücken ins Leere führt.
Abb. 14
14 Die Bilder zeigen das Naturparkhaus in Villnöß als
flächiges Gebilde mit warmen Farbverläufen. Der Fotograf
benutzt die Architektur, um ein abstraktes Kunstwerk zu
erzeugen.24
31
Die Art und Weise, wie ein Gebäude dargestellt wird, ist
ein Indiz dafür, was daran als relevant erachtet wird. Die
Darstellungen, die wir täglich betrachten, beeinflussen
unsere Wahrnehmung der Realität und bestimmen unser Urteil über das, was wir daran relevant und schön,
hässlich und unbedeutend finden.22 Und diese Art der
Darstellung verrät den Egozentrismus des Nutznießers
und vor allem des Planers des Gebäudes. Der Philosoph
G. W. F. Hegel vertrat die These, dass die Kunst u. a.
daran zugrunde geht, dass die Persönlichkeit der Künstler – dazu gehören auch Architekten – vor den allgemeinen Interessen einer Gemeinschaft steht.23 Diese „Heldenverehrung“ schadet der Kunst und noch weit mehr
der Stadt- und Raumplanung, wo allgemeine Interessen
an erster Stelle stehen.
Die folgenden Fotografien von Peter Unterthurner bilden die
Gebäude von öffentlichen Verkehrswegen aus ab, gemeinsam
mit dem jeweiligen Umfeld. Dies kommt der alltäglichen Wahr­
nehmung näher als die beigefügten idealisierenden Bilder.
Anmerkungen
1 Christian Norberg-Schulz, Genius Loci/Landschaft, Lebensraum, Baukunst,
Stuttgart 1982, S. 18.
2 Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 18/19.
3 Vitruv, Zehn Bücher über Architektur, Übersetzung: Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, liber VI, S. 271 ff.
4 Ebd., liber I, S. 43.
5 Zur Unterscheidung „gegründete Stadt“ und „gewordene Stadt“, vgl. Theodor
Fischer, Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München/Berlin 1922, S. 57.
Naturparkhaus Villnöß: Kontrast im Umfeld
32
Idealisierte Darstellung
6 Vgl. Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung,
Darmstadt 2008, S. 21.
7 Architektur in Südtirol – 1900 bis heute, Hg. Architektenkammer der Provinz
Bozen, Bozen 1993, S. 64; vgl. auch Theodor Fischer, Zwei Vorträge über Proportionen, München/Berlin 1933, S. 9.
8 Vgl. Theodor Fischer, Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München/Berlin
1922, S. 11, 28, 34/35, 49, 85.
9 Ebd. 85.
10 Vgl. Artikel 83 der Charta von Athen, in: Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung, Darmstadt 2008, S. 26.
11 Vgl. Wassily Kandisky, Lo spirituale nell’arte, Milano 1999, S. 25–37.
12 Thomas Will, Bauen in der alten Stadt – Lehren aus der Geschichte? In: Architektur im Kontext, Hg. Hasso Hohmann, Graz 2007, S. 75.
13 Vgl. ebd., S. 76.
14 Vgl. Gerd Albers/Julian Wekel, Stadtplanung/Eine illustrierte Einführung,
Darmstadt 2008, S. 29.
15 Vgl. Christian Norberg-Schulz, Genius Loci/Landschaft, Lebensraum, Baukunst, Stuttgart 1982, S. 195.
16 Vgl. Architektur in Südtirol – 1900 bis heute, Hg. Architektenkammer der Provinz Bozen, Bozen 1993, Einleitung von Zeno Abram.
17 LEROP, 1995 genehmigte Ausgabe, Hg. Autonome Provinz Bozen-Südtirol, S. 26.
18 Ebd., S. 130, S. 245.
19 Architektur und Kontext, Tagungsreihe „Bauen in der Landschaft“, Hg. Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Abteilung Natur und Landschaft, Bozen 2008,
S. 6.
20 Vgl. Charles Jencks, Die Postmoderne/Der neue Klassizismus in Kunst und
Architektur, Stuttgart 1988, S. 187, sowie Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, Hg. Heinrich Klotz, Basel/Berlin 2000, S. 161,
S. 136–161.
21 Vgl. Rolf Sachsse, Photographie als Medium der Architekturinterpretation,
Studien zur Geschichte der deutschen Architekturphotographie im 20. Jahrhundert, München 1984, S. 183.
22 Vgl. Bernard Berenson, Ästhetik und Geschichte in der bildenden Kunst, Zürich 1950, S. 80/81.
23 Vgl. G. W. F. Hegel, Ästhetik II, Hg. Rüdiger Bubner, Stuttgart 2008, S. 660,
670.
Dasselbe Wohnhaus in Brixen: Kontrast im Umfeld
33
Idealisierte Darstellung
Haus Schnitzer in Tscherms im tatsächlichen Umfeld
Dr. Andres C. Pizzinini
Diplom der Malerei an der
Kunstakademie in Urbino,
2012 Promotion an der
Philosophischen Fakultät
Innsbruck, Dissertation
zum Thema „Antimoderne Ästhetik“
Idealisierte Darstellung:
dasselbe Haus als Alleindarsteller
34
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