Mit dem Center kam der Leerstand Eine Untersuchung in Bautzen relativiert die Versprechungen von Einkaufszentrums-Entwicklern. Ergebnis: Stadtväter, die es sich leisten, die Baugenehmigung für ein Center zu erteilen, können sich nicht zur Ruhe setzen. Von Dankwart Guratzsch Berlin - Betreiber und Investoren von Einkaufszentren werben wie mit Engelszungen für "neue Handelsformen", als deren Krönung sie das überdachte Center preisen. Aber fragt man nach den Folgen dieser Handelseinrichtungen für die jeweilige Gemeinde, fallen die Antworten schwammig aus. Da ist von Erhöhung der Attraktivität, Vergrößerung des Einzugsbereiches, Zuwachs an Kaufkraft die Rede. Wie sich diese versprochenen Effekte aber tatsächlich quantifizieren lassen, welche Folgen sie für den ortsansässigen Einzelhandel und die umliegenden Gemeinden haben, das alles bleibt im Ungewissen. Obwohl die Centerschwemme inzwischen ganze Regionen erfasst und in ihren Wirtschaftsstrukturen von Grundauf umgekrempelt hat, gab es bisher keine einzige wissenschaftlich fundierte "ExPost-Analyse". Nicht einmal die Handelskammern verfügten über seriöse Schätzungen. Bürgermeister, Gemeinderäte, politische Parteien und Wirtschaftsexperten tappten mit ihren Prognosen praktisch im Dunkeln. Das ist von nun an anders. Denn mit einer 150 Seiten starken Untersuchung hat der Geograf Martin Franke jetzt am Frankfurter Institut für Humangeographie (Fachbereich Geowissenschaften/Geographie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität) die erste umfassende Studie zu den Auswirkungen der CenterGründung in einer Mittelstadt vorgelegt. Unter dem Titel "Lokaler Einzelhandel und integriertes Shopping-Center - Konkurrenz oder Symbiose?" analysiert er detailliert, welche Auswirkungen sich fünf Jahre nach dem Bau eines mitten in der Stadt errichteten Einkaufscenters zeigen. Frankes Befund ist zwiespältig. Das Shopping-Center habe die Innenstadt zwar unzweifelhaft attraktiver gemacht. Gleichzeitig aber habe es Geschäftslokale reihenweise brach fallen lassen. Die Schuld daran gibt der Autor dem "ungebührlich andienerischen" Verhalten der Politiker. Sie hätten nach seiner Einschätzung "sowohl in finanzieller als auch in städtebaulicher Hinsicht für die Stadt weitaus mehr aus den Verhandlungen mit dem Investor herausschlagen können, als dies der Fall war". Das von Franke gewählte Beispiel ist die 42 000 Einwohner zählende sächsische Stadt Bautzen, die mit ihrem annähernd gleichen geographischen Abstand zu Dresden, Hoyerswerda, Görlitz und Zittau (jeweils 40 bis 60 Kilometer) für die Forschung Voraussetzungen wie unter Laborbedingungen bietet. Hier wurde 2000 gegen beträchtlichen öffentlichen Widerstand für 51 Mio. Euro das "Kornmarktcenter" errichtet. Seine Gesamtfläche von 12 000 qm (9000 für Einzelhandel, 580 Gastronomie und 400 Dienstleis tungen) weist es als einen mittelgroßen Centertyp aus. Fünf Jahre nach Eröffnung bilanziert Autor Franke, was sich von den Versprechungen der Vorkämpfer dieses Investments tatsäc hlich erfüllt hat. So war das Center als "einzige Mö glichkeit" propagiert worden, "viele Menschen in die Bautzner Innenstadt zu bekommen", "Wettbewerbsanforderungen standzuhalten" und die Attraktivität der Stadt zu steigern. "Ohne Magnet", so hatten Politiker gewarnt, "verlieren wir an Bedeutung": "Die Leute sollen ihr Geld nicht in Dresden oder Hoyerswerda ausgeben. Die Kaufkraft muss hier in der Innenstadt abgeschöpft werden." Was aber hat Bautzen tatsächlich gewonnen? Franke untersucht zunächst das Center selbst auf Herz und Nieren: Seine Sperrigkeit und (mangelnde) architektonische Eingliederung in die Altstadt, seine (gute) Erreichbarkeit mit PKW, sein (üppiges) Stellplatzangebot, seine (tolerablen) Lärmemissionen, seine (textillastige) Mieter- und Handelsstruktur, seinen (hohen) Filialisierungsgrad (66 von 68 Läden) und die durch das Center verursachte Störung des gesellschaftlichen Friedens. Über das Käuferverhalten erbrachten Befragungen von 1200 Kunden durch den Centerbetreiber ECE laut Franke bezeic hnende Aufschlüsse: 30 Prozent kaufen ausschließlich im Center ein, rund 50 Prozent wohnen im näheren Einzugsgebiet, 30 Prozent im "Ferneinzugsgebiet" und 14 Prozent noch darüber hinaus. Zwei Drittel aller Besucher kommen mit dem Auto. Franke misst dieser Befragung allerdings "wenig Aussagekraft" zu, da sie wichtige Gesichtspunkte ausspare. So habe man vermieden zu fragen: "Besuchen Sie in der Regel nur die Geschäfte im Center, oder gehen Sie auch in der Innenstadt von Bautzen einkaufen?" Die Mängel der Umfrage gleicht der Wissenschaftler mit eigenen Analysen aus, die deshalb wie das Aufbrechen eines Tabuthemas wirken. Sie zeigen eine deutliche Verschiebung der Käuferströme mit empfindlichen Auswirkungen auf die Innenstadtstruktur. Fußend auf Forschungsergebnissen von Susanne Haenchen (TU Dresden) für die Jahre 1980 bis 2000, kann Franke nachweisen, "dass es einerseits zu einem gravierenden Abschmelzungsprozess in einzelnen Einzelhandelsbranchen kam, andererseits manche Branchen dazugewonnen haben". Zu den "Verlierern" gehören die Textilbranche (die Anzahl der Betriebe in Bautzen nahm von 67 auf 47 ab) sowie Freizeit/Hobby und Elektronik. Dagegen nahm die Zahl der Dienstleistungsbetriebe zu (Friseure, Kosmetik, Telefon-Shops, Gastronomie). Überschattet wird das Bild durch die Vielzahl von Geschäftsaufgaben. Danach hat der Leerstand von Ladenlokalen im 300-Meter-Umkreis um das Center seit dessen Eröffnung flächenhaft zugeno mmen. Allein 35 Bekleidungsgeschäfte gaben ihren Standort auf. Betroffen sind insbesondere die 1b- und Streulagen, an denen die Käuferströme jetzt vorbeigehen. Was Franke nicht vertieft, was aber strukturanalytisch zu ergänzen ist, das sind die Auswirkungen auf den Stadtkörper. Wenn ganze Straßenzüge wie in Bautzen die Kornmarktpassage, die Tuchmacher-, Wendische und Kleine Reichenstraße einen Gro ßteil ihrer Geschäfte einbüßen, können Folgen für die Bausubstanz nicht ausbleiben. Es nützt wenig, neue Käuferströme in die Stadt zu locken, wenn diese an den traditionellen Geschäftslagen vorbeigehen und die Einzelhandelsumsätze durch Handelsketten aus der Stadt herausgezogen werden. "Mehr als die Hälfte der Betriebe im Kornmarkt-Center (sind) an bundesweit tätige Filialisten vermietet", vermerkt Franke - und liefert damit den Beweis dafür, welches Ausmaß diese Abschöpfung in Bautzen angeno mmen hat. Was der Autor demgegenüber an "Reparaturmaßnahmen" empfiehlt, muss den Bautzner Stadtvätern und den Gewerbetreibenden wie eine Sisyphusaufgabe erscheinen - und anderen Städten als Vorbeugung: - Das Abstellen von Autos muss auf allen Parkplätzen und in allen Parkhäusern kostenlos sein; - die innerstädtischen Einzelhandelsstandorte müssen durch ein Fußgängerleitsystem verbunden werden; - die Wegebeziehungen dürfen sich nicht zwangsläufig auf das Center fokussieren; - die Innenstadt braucht einen Lebensmittel-Supermarkt von mindestens 500 qm; - die Einzelhändler außerhalb des Centers müssen ihr Warenangebot anpassen und sich einem Management unterwerfen; - Einkaufen in der Innenstadt muss zum Erlebnis werden. In der Summe heißt das: Stadtväter, die es sich leisten, die Baugenehmigung für ein Center zu erteilen, können sich nicht zur Ruhe setzen. Sie müssen im Gegenteil jetzt erst recht investieren, wenn sie Teile ihrer Stadt nicht aufgeben wollen. Es dürfte eine Schlussfolgerung sein, von der man sich mancherorts bisher nichts hat träumen lassen. Artikel erschienen am Do, 24. August 2006 © WELT.de 1995 - 2006