finnische lernlandschaften

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FINNISCHE
LERNLANDSCHAFTEN
Finnland steht Innovationen im Bildungswesen aufgeschlossen gegenüber.
Dank dem Fehlen starrer Baugesetze und einer gut eingespielten Diskussionskultur zwischen den Entscheidungsträgern können neue Entwicklungen –
klassenübergreifende Gruppenarbeit, individuelle Förderung, kooperative
Unterrichtsmethoden oder exploratives Lernen – rasch in architektonische
Form gebracht werden. Meist sind die Gebäude nicht nur vom Schulbetrieb
flexibel nutzbar, sondern stehen auch der Bevölkerung zur Verfügung.
01 Aurinkolai-Schule, Helsinki: Jeskanen-RepoTeränne & Leena Yli-Lonttinen (Architektur),
Isinööritoimisto Oy Matti Ollila & Co (Tragkonstruktion) (Bilder: Jussi Tiainen)
02 Aussichtsturm als Wahrzeichen der naturwissenschaftlich orientierten AurinkolahtiSchule
Das finnische Bildungswesen gilt als eines der besten und leistungsstärksten der Welt und
steht im Ruf, landesweit in allen sozialen Schichten ein hohes Bildungsniveau zu erzielen.
Die Transparenz und die Flexibilität einer dezentral organisierten Verwaltung erlauben es,
schnell und unkompliziert auf neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen
oder auf spezifische lokale Bedürfnisse zu reagieren. Dies gilt sowohl für das gesamte
Schulwesen als auch für den Schulhausbau. Anhand zweier gebauter Beispiele werden im
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Folgenden einige der wichtigsten Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte erläutert,
durch die sich zeitgenössische Schulen in Finnland auszeichnen und die sich in den
vergangenen Jahren bewährt haben.
AURINKOLAHTI-SCHULE, HELSINKI
03 Aurinkolahti-Schule: Das Atrium ist das Herz
der Schule und dient als Kommunikations- und
Erschliessungsraum, Treffpunkt, Cafeteria und
Theater (Bild: Jussi Tiainen)
Die 2002 erbaute Aurinkolahti-Schule in Helsinki ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, aus
dem der Entwurf von Jeskanen-Repo-Teränne & Leena Yli-Lonttinen als Sieger hervorging.
Erklärtes Ziel der Auslobung war es, ein Lernumfeld zu schaffen, in dem die Schulkinder –
gemäss dem vorgesehenen neuen pädagogischen Konzept – aktiv und eigenverantwortlich
im Selbststudium, aber auch in der Gruppe lernen können. Daher sollte eine Atmosphäre
geschaffen werden, die sowohl die Interaktion innerhalb der Gruppe als auch den Austausch mit der Umgebung fördert.
Wie viele andere Schulen in Finnland steht auch diese in unmittelbarer Nähe eines Parks
und öffentlicher Sportanlagen, die den Schülerinnen und Schülern offen stehen. Das
Gebäude selbst dient nicht nur als Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz, sondern auch als
kulturelles Begegnungszentrum für den umgebenden Stadtteil; ausserhalb der Unterrichtszeiten steht es der Nachbarschaft zur Verfügung. Für die meisten Kommunen ist eine derart
erweiterte Nutzung von Schulgebäuden und deren Ausstattung auch wirtschaftlich sinnvoll,
da die hochwertigen Investitionen deutlich besser ausgelastet sind.
Um die erweiterte Nutzung zu ermöglichen, sind viele finnische Schulbauten in kleinere
Gebäudeteile oder Einheiten aufgegliedert, die sich um einen grosszügigen, zentralen
Gemeinschaftsbereich gruppieren. Dieser bildet mit Bibliothek, Bühne, Aula und Cafeteria
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04 Aurinkolahti-Schule: Situation
05–07 Aurinkolahti-Schule: Grundrisse
2. Obergeschoss, 1. Obergeschoss und
Erdgeschoss, Mst. 1:1000
(Bilder: Jeskanen-Repo-Teränne & Leena YliLonttinen Architekten / Autorin)
Unterrichtsbereich Klassenzimmer
Unterrichtsbereich Fachklassen
Gemeinschaftszonen
Sport und Freizeit
Schülerfürsorge und Sozialeinrichtungen
Schulleitung und Lehrerbereich
Erschliessungszonen
Nebennutzflächen
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häufig den kommunikativen Mittelpunkt des Gebäudes und das multifunktionale Herz der
Schule. Als offener Raum verknüpft er die verschiedenen Teilbereiche der Anlage funktional
und optisch – und schafft dabei auch räumliche Grosszügigkeit. Die einzelnen Gebäudeteile
sind durch eine dezentrale Erschliessung kontrolliert zugänglich. Zum einen ergibt sich
dadurch die Möglichkeit, sie auch abends oder an den Wochenenden voneinander unabhängig zu nutzen. Zum anderen werden die Verkehrsflächen insgesamt deutlich seltener
frequentiert. Die daraus resultierende Ruhe innerhalb des Bauwerkes und die Grosszügigkeit der Korridorflächen lassen es zu, die Verkehrsflächen als Aufenthalts- oder zusätzliche
Unterrichtsbereiche zu nutzen. Damit erhöht sich der Anteil der Nutzfläche gegenüber dem
der Nebenflächen. Dank dieser geschickten Raumorganisation werden Funktionserweiterungen und Mehrfachnutzungen erreicht, ohne dass die Baukosten in die Höhe getrieben
würden. Transparenz und ein hohes Mass an räumlich-visueller Kommunikation vermitteln
ein Gefühl der Sicherheit.
FLEXIBEL NUTZBARE CLUSTER UND KLASSENZIMMER
08 Aurinkolahti-Schule: offener, flexibel
möblierbarer Innenraum (Bild: Jussi Tiainen)
09 Klassencluster der Aurinkolahti-Schule:
Der Gemeinschaftsbereich ist visuell mit den
Klassenräumen verbunden
(Bild: Christian Schmidt)
Durch neue Unterrichtsmethoden und Lerninhalte hat der Schulbetrieb in Finnland umfassende Veränderungen erfahren, die besonders grossen Einfluss auf die Arbeit im Klassenzimmer hatten. Die Aneignung von Wissen entwickelt sich zunehmend zu einem aktiven
Prozess, in dem die Lernenden mit explorativen, experimentellen und kooperativen Unterrichtsmethoden arbeiten: Die Schülerinnen und Schüler sollen unterschiedliche Lernstrategien als mögliche Methoden kennen lernen, um auch ohne Anleitung am Prozess des
lebenslangen Lernens teilnehmen zu können.1
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Die vermehrte Wissensvermittlung in Gruppen- und Projektarbeit, die eigenständige
Recherche am Computer, erweiterte Aktivitätsprogramme der Schule im Ganztagesbetrieb
und die zunehmende Individualisierung des Lernprozesses wirkten sich besonders stark auf
die Raumprogramme und die innere Struktur der Schulen aus. In der Aurinkolahti-Schule
findet der Unterricht in Klassenclustern statt: Die Räume sind um einen gemeinschaftlichen
Aufenthalts- und Lernbereich gruppiert, der über grosszügige Glasflächen mit den Klassenzimmern verbunden ist. Dass die Schulkinder zunehmend in Kleingruppen oder in Einzelbetreuung gefördert werden, erhöht wiederum den Bedarf an unterschiedlich grossen und
verschieden ausgestatten Unterrichtsräumen beziehungsweise Werkstätten.
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10 Hiidenkivi-Schule, Helsinki: Das Kunstwerk
von Stig Baumgarten am Eingang zum Schulhof
stiftet Identität. Seppo Häkli, Arkkitehtoimisto
Häkli Ky (Architketur) (Bild: Jussi Tiainen)
11 Klassencluster der Hiidenkivi-Schule: In den
Pausen dienen die Vorbereiche als Treffpunkt
(Bild: Jussi Tiainen)
HIIDENKIVI-SCHULE, HELSINKI
Die 2005 fertiggestellte Hiidenkivi-Schule in Helsinki von Seppo Häkli veranschaulicht, wie
das Lernen und Lehren in Klassengruppen stattfinden kann. Klassenzimmer unterschiedlicher Grösse sind zu räumlichen Einheiten zusammengefasst, die mit einem zu den
Unterrichtsräumen verglasten Gemeinschaftsbereich, eigenen Nebenräumen sowie einem
Zugang zu den Aussenanlagen ausgestattet sind. Auch die Arbeitsräume der Lehrpersonen
gehören häufig zum Raumangebot der Klassen-Cluster; Verbindungstüren zwischen den
Klassenzimmern laden zum gruppenübergreifenden Unterricht ein. Viele Pädagoginnen und
Pädagogen haben festgestellt, dass diese räumliche Organisation schülerzentrierte
Unterrichtsmethoden unterstützt und zu einem höheren Grad an Identifikation mit der
Bildungsanstalt führt: Schulkinder und Lehrpersonen fühlen sich zu Hause, Vandalismus ist
nahezu unbekannt.
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12 Hiidenkivi-Schule: Situation
13–15 Grundrisse Ober- und Erdgeschoss,
ohne Mst. (Bilder: Seppo Häkli, Arkkitehtoimisto
Häkli Ky / Autorin)
Unterrichtsbereich Klassenzimmer
Unterrichtsbereich Fachklassen
Gemeinschaftszonen
Sport und Freizeit
Schülerfürsorge und Sozialeinrichtungen
Schulleitung und Lehrerbereich
Erschliessungszonen
Nebennutzflächen
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Die Differenzierung des Unterrichtsraumes in verschiedene Zonen – das heisst: die Abweichung vom klassischen rechteckigen Klassenzimmer mittels Ecken, Nischen, in manchen
Schulen auch Emporen – lädt zu wechselnden Bespielungsarten und variierenden Lehrmethoden ein. Die aus leichten, flexiblen Tischen und Stühlen sowie aus rollbaren Regalen und
Containern bestehende Möblierung erlaubt es, die Klassenzimmer für verschiedene
Lernszenarien schnell neu zu arrangieren; insbesondere in Primarschulen werden den
Kindern oft Sofas und Nischen als zusätzliche Rückzugsmöglichkeiten angeboten. Einbaumöbel mit ausreichend Stauraum vervollständigen in der Regel die Ausstattung der Klassenzimmer. In allen Unterrichtsräumen steht technisches Gerät auf dem jeweils aktuellen Stand
zur Verfügung.
DISKUSSIONSKULTUR STATT BAUGESETZLICHER VORLAGEN
Anmerkungen
1 Kaisa Nuikkinen: En sund och trygg skolbyggnad.
Opetushallitus/Utbildningsstyrelsen, Helsinki
2005, S. 12 ff.
2 Vgl. Ulrike Altenmüller: Koulu – Schule auf
Finnisch. Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte für zeitgenössische Schulen in Finnland.
Dissertation, Fakultät Architektur, BauhausUniversität Weimar 2008. In der Arbeit werden
zahlreiche zeitgenössische finnische Schulgebäude analysiert. Aus diesen Betrachtungen ergaben
sich oben genannte, wiederkehrende Parameter,
die als allgemeine Tendenzen im Schulbau des
nordischen Landes gewertet werden können
3 Vgl. Zentralamt für Unterrichtswesen (Hrsg.):
Rahmenlehrpläne und Standards für den grundbildenden Unterricht an finnischen Schulen.
Edita Prima Oy, Helsinki 2004, S. 19 ff.: «Unter
‹Lernumgebung› [verstehen wir] die mit dem
Lernen verbundene physische Umgebung sowie
die Gesamtheit der physischen Faktoren und
sozialen Beziehungen, in denen der Wissenserwerb und das Lernen erfolgt. Zum physischen
Lernumfeld zählen insbesondere das Schulgebäude, die Schulräume, die Unterrichtsmittel und
Lernmaterialien. Dazu gehören auch die sonstige
bebaute Umgebung der Schule und ihre natürliche
Umwelt.»
In den Rahmenlehrplänen und Standards für den
grundbildenden Unterricht des Zentralamtes für
Unterrichtswesen wird der Durchführung des Unterrichts ein eigenes Kapitel gewidmet. In diesem
werden unterschiedliche Bereiche betrachtet,
die über die Grundlagen des Rahmenlehrplanes
hinausgehen. Die Vermittlung von Lernstrategien,
Arbeits- und Motivationsmethoden, der Handlungskultur mit ihren Verhaltensmustern, Werten
und Prinzipien wird dort ebenso beschrieben wie
die Grundlagen der Lernumgebung, also der Räume, in denen Lehren und Lernen stattfindet
In den vergangenen Jahren sind in Finnland immer wieder Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte2 entstanden, die das Erlernen von sozialen Kompetenzen, Teamfähigkeit und
Gruppenarbeit fördern. Viele Neubauten bilden heute einen geeigneten Rahmen für soziale
Interaktion und stetiges Lernen. Dennoch müssen sie adaptierbar sein, um zukünftige pädagogische Innovationen zuzulassen und im besten Fall zu unterstützen. Gleichzeitig – und im
Widerspruch zu diesem Flexibilitätsanspruch – wird auch eine hohe Funktionalität gefordert,
die lokale Gegebenheiten und Bedürfnisse berücksichtigt.
Der Umstand, dass es in Finnland kaum restriktive gesetztliche Vorgaben im Schulhausbau
gibt, hat die neuen architektonischen Konzepte sehr gefördert. In den Rahmenlehrplänen und
Bildungsstandards haben die Empfehlungen für die Gestaltung der Lernumgebung3 den
Charakter einer generellen architektonischen Qualitätsbeschreibung, die genügend Raum für
spezifische, auf die funktionalen und pädagogischen Konzepte der jeweiligen Schule
abgestimmte Lösungen lässt. Bei der Ausarbeitung und der Umsetzung von Schulbauvorhaben stehen heute Behörden, Lehrpersonen und Architekturbüros in einem engen Dialog, der
auf nationaler Ebene vom Zentralamt für Unterrichtswesen, auf lokaler Ebene von Schulbeziehungsweise Bauämtern moderiert wird. In intensiver Kooperation werden innovative
Ansätze diskutiert, um angemessen auf die veränderte Erziehungswirklichkeit in den Schulen
reagieren zu können.
Die Frage, inwiefern die architektonische Gestaltung der Lernumgebung zum Erfolg der
finnischen Schulkinder bei internationalen Vergleichsstudien beiträgt, kann nicht abschliessend beantwortet werden: Der konkrete Einfluss des Bauwerkes auf die schulischen
Leistungen kann weder absolut noch relativ mit wissenschaftlicher Aussagekraft gemessen
werden. Dennoch bleibt festzustellen, dass die erwähnten architektonischen Parameter – vor
allem in ihrer Kombination – die Vermutung nahe legen, dass eine angenehme, ästhetisch
hoch stehende und funktionale Lernumgebung positive Effekte auf das Lernverhalten der
Schulkinder und auf das Wohlbefinden aller Nutzerinnen und Nutzer hat. Die architektonische Qualität von Schulbauten, die Ausstattung und die Gestaltung von Unterrichtsräumen
sind ein Spiegelbild der Wertschätzung, die eine Gesellschaft der Bildung entgegenbringt.
Das Beispiel Finnland zeigt, dass Investitionen in die Ausbildung der Bevölkerung und
insbesondere der Kinder sich trotz einem gewissen finanziellen Aufwand letztlich immer
auszahlen – als Investitionen einer Gesellschaft in ihre eigene Zukunft.
Ulrike Altenmüller, Architektin, [email protected]
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