Andres C. Pizzinini Regional oder international? Die industrielle Revolution und die globale Vernetzung unseres Planeten haben das Bauen im 20. Jahrhundert grundlegend verändert. Auch in Tirol tauchte die Frage auf, ob Architektur überhaupt noch regionale Bezüge aufweisen soll. Ein geschichtlicher Aufriss und die Antwort auf die Frage. Der Gentleman bestaunt ehrfürchtig den hölzernen Bauernwagen. Er zieht seinen Zylinderhut und spricht dem Besitzer seine innigste Bewunderung für dieses rustikale Kunstwerk aus. Begeistert erkundigt er sich weiter, ob der Bauer auch eine Zeichnung vor der Errichtung seines Wagens angefertigt habe. Der Bauer sieht ihn mit großen Augen an, springt kopfschüttelnd auf sein Fahrzeug und fährt los. Der Gentelman dieser tatsächlich stattgefundenen Episode war William Richard Lethaby, einer der führenden Köpfe der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung. Der Name des Bauern ist nicht überliefert, gewiss war er aber einer der vielen Landbewohner, die über das plötzliche Interesse der Städter, der Gentlemen, für ihre Art zu leben nicht wenig staunten. Die Anhänger der Arts-and-Crafts-Bewegung studierten und zeichneten im 19. Jahrhundert unprätentiöse Gebäude und Gerätschaften der ländlichen Gegend. Hier im country fanden sie jene enge Verkettung von Planung und handwerklicher Ausführung, die ihnen so am Herzen lag. Gleichzeitig sahen sie die Welt der Bauern vor der unerbittlichen Gleichschaltung durch die Industrialisierung bedroht. Die Nähe sowie die gleichzeitige Distanz zwischen Herrn Lethaby und dem Bauern ist Ausdruck jenes 12 schwelenden Konfliktes, der im 20. Jahrhundert offen ausgetragen wurde. Die beiden Ideale der Arts-andCrafts-Bewegung, einerseits die funktionale Schönheit, andererseits das Vorbild regionaler Identität, sollten Jahre später größten Einfluss auf die deutschösterreichische Moderne auf der einen Seite sowie auf die konservativen Strömungen auf der anderen ausüben. Doch worüber die Briten mit common sense parlieren, das wird in Deutschland zum Heiligen Krieg der Ideen ausgerufen, und dementsprechend gründlich durchgeführt. Und so kam es, dass wir heute in der Peripherie deutsch-österreichischer Lande, in Tirol, ein preisgekröntes Würfelhaus aus Beton neben einer Holzscheune unter Denkmalschutz finden. Der Internationale Stil Vorweg sei präzisiert, dass diese Untersuchung ihres begrenzten Umfanges wegen lediglich den ländlichen Bereich ins Auge fasst. Die moderne Architektur erhielt ihre Impulse bereits aus dem 19. Jahrhundert, wie im Fall der Arts-and-Crafts. Ihre Ästhetik und Ideale kamen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu voller Entfaltung. Die wichtigsten Vertreter waren der Franzose Le Corbusier, der Amerikaner Frank Loyd Wright, der Deutsche Peter Behrens und der Wiener Adolf Loos. Die konsequenteste Durchführung der neuen Ideale realisierte die Bauhausschule, 1919 in Weimar gegründet, wenig später nach Dessau verlegt und bereits 1933 auf Betreiben der Nationalsozialisten geschlossen. Ihre Harpfe 2/10 Beiträge Abb. 1 wichtigsten Architekten waren der Gründer der Schule Walter Gropius, Mies Van der Rohe und Henry Van der Velde. Dies sind ihre Grundsätze: - Verzicht auf jegliche Ornamentik - Vermeidung jeglichen Bezugs zu historischen Stilvorbildern, schließlich grundsätzlicher Verzicht auf die Vorstellung des Stiles überhaupt - Anlehnung an einfache geometrische und stereometrische Formen wie z. B. Kreis und Würfel, die in unterschiedlicher Kombinatorik das jeweilige Gebäude ergeben - Verwendung seriell hergestellter Bauelemente und ihr dementsprechender Einsatz in „Serien“, d. h. gleichen Reihen - Verzicht auf das tektonische Prinzip, d.h. auf jenen konstruktiven Aufbau, der zwischen oben – Dach – und unten – Boden – klar unterscheidet, wie z.B. in der Natur ein Baum oder in der Architektur ein Haus mit Satteldach - Verwendung neuer Materialien, vor allem Beton, Glas und Eisen - Ästhetisches Vorbild der Maschine, folglich die stilistische Orientierung am Fabriks- und Ingenieursbau1 1 L. Welzenbacher, Haus Buchroithner, Zell am See, Bundesland Salzburg, 1928–1930 2 L. Welzenbacher, Haus Koppe, Karwendel in Oberbayern, 1934 Abb. 2 Diese Aufzählung berücksichtigt nicht die einzelnen Stufen der historischen Entwicklung und die unterschiedlichen Facetten der einzelnen Architekten sowie der verschiedenen Länder. Trotzdem ist die Zusammenfassung berechtigt, denn die Gemeinsamkeiten waren gewiss größer als die Unterschiede, und schließlich waren es dieselben Architekten, die den Länder übergreifenden „International Style“ proklamierten. Genau unter dieser Rücksicht ist die Bewegung für diese Untersuchung von Belang: Insofern sie ein internationaler Stil ist, der sich dem regionalen, traditionellen entgegenstellt. Regionalismus Die Grundsätze des Regionalismus können nicht in derselben Klarheit dargelegt werden, wie die des Neuen Bauens. Dass in der Vergangenheit Häuser im ländlichen Bereich bestimmte Formen aufwiesen, hat vor allem damit zu tun, dass bestimmte Siedlungsgebiete denselben natürlichen und ähnlichen wirtschaftlichen Umständen unterlagen, sodass derselbe Zweck des Gebäudes ähnliche Formen hervorbrachte. Dass vornehmlich das Material aus der nahen Umgebung 13 Abb. 3 Abb. 4 verwendet wurde, war eine Selbstverständlichkeit. Der Regionalismus wurde erst dann zu einer stilistischen Option, als ihn die neuen Produktionsmethoden, die Urbanisierung sowie die zunehmende Vernetzung unseres Planeten in Frage stellten. Von dieser Option sei hier die Rede. Der Kontrahent des International Style war in Deutschland die konservative, völkische Bewegung, die schließlich in den Nationalsozialismus mündete. Der wichtigste Denker aus diesem Lager war der Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker Paul SchultzeNaumburg. Gegen das Neue Bauen wandte er vor allem ein, dass es auf den Menschen entfremdend wirkt. Die Übertragung von Formen und Materialien aus dem funktionalen Bereich der Industrie auf Wohnbauten und repräsentative Gebäude sei letztlich Ausdruck eines „eisigkalten Materialismus“. Insgesamt wurde der International Style vom NS-Regime als eine jüdisch-bolschewistische Verschwörung abgelehnt. Die richtige Reaktion darauf bestehe laut Naumburg allerdings nicht im beliebigen Zurückgreifen auf historische Stile – den Historismus, den er als „Schwindelwesen der neunziger Jahre“ geißelte2 und der auch der Moderne so viel Bauschmerzen 14 3 F. Baumann, Hotel Montepana, St. Christina in Gröden, Südtirol, 1931 beschert hatte. „Das Gemeinsame von all den Häusern der Zukunft muss aber sein, dass es deutsche Häuser sind.“3 So wurde der vergangene Stil der Deutschen genauestens studiert und mit einigen Abänderungen im so genannten Heimatschutzstil fortgesetzt. 1904 entstand auf Betreiben Naumburgs zu diesem Zweck der Deutsche Bund Heimatschutz. Der RegionalisAbb. 5 mus stand nach führenden NS-Denkern wie Hitler, Rosenberg und später auch Naumburg unter rassistischem Vorzeichen. Beide Seiten, der International Style und der rassische Regionalismus wollten die gesamte Stadtplanung, die Gestaltung der Gebäude, bis zur Einrichtung alles konsequent in ihrem Sinne verstanden wissen. Der Duktus ihrer Thesen war deklamatorisch, ihr Gültigkeitsanspruch absolut. So kam es zum Zusammenstoß, die Politik war auf der Seite der Völkischen und die Bauhausschule wurde geschlossen. Seitdem haben die Häuser in Deutschland wieder ein Satteldach – zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg. Moderne in Tirol Tirol empfing die wesentlichen architektonischen Impulse – die modernen wie die restaurativen – aus Deutschland und Österreich, vor allem aus Wien. Das Neue Bauen drang zwar ins Alpenland vor, trat allerdings selten in Reinform auf. In Tirol finden sich allerdings einige Architekten des Neuen Bauens, deren Namen weit über die Landesgrenzen hinaus reichten. Der bedeutendste ist wohl der Österreicher Lois Welzenbacher (1889–1995), der u.a. in Inns- 4 F. Baumann, Bergstation Hafelekar, auch Adlerhorst genannt, Nordtirol, 2.256 m, 1927–1928 5 C. Holzmeister, Berghaus, Kitzbühel/Hahnenkamm, Nordtirol, 1930 Abb. 7 Abb. 6 bruck und Südtirol tätig war. Welzenbacher hatte in München bei Theodor Fischer studiert. Sein Schaffen war anfänglich von Fischers „Münchner Schule“ sowie vom Jugendstil und Expressionismus beeinflusst. Das Haus Settari in Bad Drei Kirchen ist eine beachtliche Synthese aus regionalistischen Elementen und der verspielten Formsprache der neuen Tendenzen. Die Vorliebe für kurvige Fassaden wird Welzenbacher auch beibehalten, wenn er sich dem International Style verschreiben wird. So im Haus Buchroithner in Zell am See. Flachdach, Ornamentlosigkeit und frei tragende, auskragende Bauelemente sind die Kennzeichen des Gesinnungswandels. (Abb. 1) Ein bedeutendes Beispiel für eine schmucklose, rationalistische Komposition ist das Verwaltungsgebäude der Städtischen Elektrizitätswerke in Innsbruck. Als einziger österreichischer Architekt war Welzenbacher an der Ausstellung International Style im Museum of Modern Art in New York vertreten. Es handelte sich um eine Schau der neuen Bewegung von epochaler Bedeutung. Nach dem Antritt der NS-Regierung und den neuen Vorgaben für Architekten, passt er sich dem ländlichen Baustil an – volens, nolens. Ironie des Schicksals, seine Gebäude aus dieser Zeit galten als vorbildlicher Heimatschutzstil.4 (Abb.2) Ein weiterer Architekt der Tiroler Moderne war der Innsbrucker Franz Baumann (1892–1974). Seine bedeutendsten Bauten stehen im Zusammenhang mit 6 C. Holzmeister, Hotel Post in St. Anton, Nordtirol, 1927 7 C. Holzmeister, Hotel Drei Zinnen in Sexten, Südtirol, 1926 Abb. 8 Abb. 9 dem aufkommenden Bergtourismus. Vor dem Ersten Weltkrieg war Meran ein beliebter Erholungsort des europäischen Großadels. Dementsprechend aristokratisch war das Aussehen der Gebäude, die zwar von schöner Landschaft umgeben waren, doch die Herrschaften in gediegener Distanz zu den Bergen bewahrte. Ganz anders die neuen Hotels, die nach den 30er Jahren entstanden. Baumann nimmt die umliegende Landschaft in die Gestaltung des Grundrisses und der Fassade gleichsam auf. Sein Hotel Monte Pana in St. Christina zeichnet in einer lang gespannten Kurve die Rundung des Sellamassivs nach. (Abb. 3) Vom amerikanischen Pionier der Moderne Frank Lloyd Wright hat er den „offenen Grundriss“ übernommen, der sich aus kubischen Modulen in Anlehnung an das jeweilige Umfeld und gleichzeitig „von innen heraus“ zusammensetzt. Die Fassade „reagiert“ lediglich und verliert damit den Charakter einer Repräsentation des Inneren, d.h. eines Gesichtes. Die neuen Gäste wollten die Alpen nicht aus der Distanz betrachten, sondern sie begehen und besteigen. Baumanns Nordkettenbahn oberhalb von Innsbruck ist ein sprechendes Beispiel für den abenteuerlichen Geist, was ihm auch zum Durchbruch als Architekt verhalf. (Abb. 4) Ein großer Neuerer war auch der Tiroler Clemens Holzmeister (1886–1983), der zwar nicht gänzlich der klassischen Moderne zugerechnet werden kann, 8 Gió Ponti, Hotel Paradiso im Martelltal, Südtirol, 1936 9 F. Baumann, Landhaus Zach, Reith bei Seefeld, Nordtirol, 1932 15 Abb. 10 sich aber vom traditionellen Stil lossagte. Während er anfänglich noch starke Anleihen bei regionalen Stilmitteln machte, befreite er sich später davon, wie sein Berghaus in Kitzbühel bezeugt. (Abb. 5) Im Hotel Drei Zinnen in Sexten beweist Holzmeister sein Können in der Verteilung großer Massen. Die wuchtige Fassade ist in der Mitte nach innen abgestuft, wodurch eine erschlagende Wirkung unter Bewahrung von Monumentalität vermieden wird. (Abb. 7) Welzenbacher, Baumeister und Holzmeister sind vielleicht die wichtigsten, doch nicht die einzigen Repräsentanten der Tiroler Moderne. Weitere Namen sind Wilhelm Nikolaus, Theodor Prachensky, Ettore Sottsass und Siegfried Mazagg. Ein Monument des Neuen Bauens statuierte sprichwörtlich der Mailänder Giò Ponti mit seinem Hotel Paradiso im entlegenen Martelltal. (Abb. 8) Zwei weitere Architekten, die besonders von der Schlichtheit des neuen Bauens beeinflusst waren, doch einen stärkeren Bezug zum Regionalen bewahrten, waren Marius Ammon und Erich Pattis. 16 Wichtig ist, dass die Moderne über Deutschland und vor allem Wien nach Tirol gelangte, nicht von Italien. Auch hier, besonders in der ersten Zeit des Faschismus hatte das Neue Bauen Fuß gefasst, namentlich im Razionalismo. Doch die Faschisten haben es nicht verstanden „hinc ceteros“, wie die Aufschrift am Siegesdenkmal in Bozen lautet, ihren Stil schmackhaft erscheinen zu lassen. Durch die Zugehörigkeit zu Italien nahm die architektonische Entwicklung in Südtirol einen etwas anderen Verlauf als in Nordtirol, wie im Folgenden gezeigt wird. Regionalismus in Tirol Wie lautete nun die Antwort der Vertreter regionalistischer Architektur? Auch dieser Impuls kam, wie der moderne, von Deutschland. Der Münchner Architekt Theodor Fischer war der Lehrer Welzenbachers und baute auch in Südtirol. Er gilt als Vordenker der regi- 10 Antoine Predock, Wissenschaftszentrum Arizona, USA Abb. 11 onalistischen, alpinen Architektur im 20. Jh. Fischer lehnte sich an Theodor Fechners Theorie des „ästhetischen Assotiationsprinzips“ an. Dieses Prinzip versucht die ästhetische Wirksamkeit einer Erscheinung als Summe von „Erinnerungsbildern“ zu erklären, die dem Betrachter aufgrund vergangener Erfahrungen gegeben sind. In Fischers Theorie und in seinen Gebäuden verdichten sich diese Erinnerungsbilder in Stil und Tradition. Damit war er ein Vertreter eines „historischen Regionalismus“, dem es um regionale Bezüge in der neuen Architektur ging.5 Es sei daran erinnert, dass die regionale Architektur genauso wie die Moderne eine Überwindung der historistischen Fassadenarchitektur bedeutete – was oft vergessen wird. Auch Naumburgs frühe Gedanken zur Architektur sind durchaus fortschrittlich in diesem Sinne.6 Zur Rechtfertigung seines verwinkelten Baulinienplanes, den Fischer für Meran erstellt hatte, meinte er: „Was zieht jährlich Tausende von Fremden und ihr Geld an, neben der Freude an der großartigen Natur und den klimatischen Vorzügen? Es ist eben diese Tiroler Art der Straßen, der Häuser und Kirchen. In geraden Straßen werden sie diese Art aber nicht erhalten können, denn sie ist vorwiegend malerisch“.7 Im Sinne dieses „regionalistischen Historismus“ baute auch Gustav Nolte zu Beginn des Jahrhunderts in Bozen. Das „regionalistische Korrektiv“ des Historismus war in Tirol konkret der Heimatschutzverein, 11 Kitschiges Hotel mit turmartigen Elementen als Imitation des nebenan befindlichen Schlosses, Rodeneggerhof in Rodeneck, Südtirol 12 Fassadenarchitektur in Stern im Gadertal: dekorative Balken ohne tragende Funktion am Balkon einer neuen Scheune, Südtirol Abb. 12 1909 in Bozen gegründet. Kunibert Zimmeter, der Vordenker der Bewegung, gab in seinem Büchlein „Unser Tirol“, konkrete Richtlinien fürs Bauen vor. Wie auch die Moderne wandte er sich gegen den beliebigen und spielerischen Einsatz stilistischer Elemente, bestand allerdings darauf, dass das Haus ein „Gesicht“ bewahre, an dem man sein Inneres ablesen könne. „Mit den Häusern soll es sein wie mit den Menschen, man soll nicht enttäuscht sein, wenn man das Innere kennen lernt.“8 Der geradlinigen Vereinheitlichung des Neuen Bauens stellt er eine malerische Unregelmäßigkeit sowie die Vielfalt der Tiroler Bauweisen entgegen. Von ihnen sollten sich Bauherren und Architekten inspirieren lassen.9 Der Heimatschutzverein hatte von 1926 bis 1938 in Nordtirol den Rang einer behördlichen Instanz, d.h. dass die Gemeinden ein Gutachten des Vereins für ihre Bauvorhaben einholen mussten.10 Dies, um ungebremste Industrialisierung und Tourismus einzugrenzen. Mithin kann diese Periode als Blüte des Regionalismus in Nordtirol angesehen werden, was zur Folge hatte, dass viel in diesem Sinne gebaut wurde. In Südtirol wurde der Verein hingegen von den Faschisten zwar nicht aufgelöst, aber nach 1926 mundtot gemacht.11 In Tirol war die Trennung zwischen Regionalismus und Internationalismus allerdings nicht so radikal wie in Deutschland. So wurde der „genius loci“, die Besonderheit des Ortes, von den Neuerern stets mitbe- 17 Abb. 13 rücksichtigt und auch bezüglich des Materials nutzte man meist das, was die Umgebung, sprich der Wald, bot. Franz Baumann war ein großer Naturliebhaber und selbst eifriger Anhänger der Heimatschutzbewegung, dementsprechend baute er fallweise auch nach traditioneller Art. Auch Bauten von Holzmeister wie z.B. das Hotel Post in St. Anton am Arlberg ernteten den Beifall der Heimatschutzbewegung. (Abb. 6) Gesinnungswandel nach dem Krieg Dann kam der Krieg und nichts mehr war wie zuvor. Ein Blick nach Deutschland ist, wie gezeigt, stets aufschlussreich für die Tiroler Situation. Werner Haftmann war der Kurator der ersten beiden Ausstellungen Dokumenta I und II, die damals größte Schau für zeitgenössische Kunst in Europa. Die Documenta II zeigte fast ausschließlich abstrakte Kunst, d.h. den über den ganzen Erdball verbreiteten Informellen Stil. Haftmann erklärte: „Wo Freiheit sich vollständig durchsetzt, gibt es keine regionalen Unterschiede mehr.“12 Die Botschaft ist unmissverständlich. Wie in den 30er Jahren bahnte sich erneut eine Auseinandersetzung zwischen universalistischen und regionalistischen Strömungen an. Nur: Diesmal stand die Politik auf der anderen Seite. Heute wissen wir, dass nach dem Krieg der amerikanische Geheimdienst CIA systematisch die Informelle und folglich anti-regionalistische Kunst sowie andere kulturelle Bereiche in diesem Sinne in Europa förderte und finanzierte.13 Das gebrochene Deutschland war ein Durchgangsposten für die Einflussnahme der USA auf den Rest Europas. Seitdem gilt regionale Kultur weitgehend als „uncool“ – mit Ausnahme von Jazz, Country und Blues, doch 18 die stammen aus den USA –, nicht nur unter Jugendlichen, sondern vor allem unter Intellektuellen. Auch aus dem Duktus der jüngeren Literatur zum Thema regionalistische Architektur geht klar hervor, dass die „Beweislast“ heute bei den Vertretern dieser Position liegt, da sie sich ständig für ihre Meinung zu rechtfertigen scheinen.14 Auf der anderen Seite finden wir eine internationale Strömung, die einesteils von den Diktaten der klassischen Moderne und andernteils von der von Haftmann proklamierten Freiheit des Einzelnen geleitet sind. Jeder Architekt will sich von allen anderen hervorheben, indem er seiner Kreativität durch Ausgefallenheit Ausdruck verleiht – ein Umstand, der im höchsten Maße Form bildend ist, den allerdings die einschlägige Literatur totschweigt. Was verloren geht, ist indes die regionale Einheitlichkeit des Siedlungsbildes. (Abb. 13) Tirol nach dem Krieg Zurück nach Tirol, wo man zunächst mit Problemen beschäftigt war, die höchstens indirekt damit zusammenhängen. Der Tourismus war nach dem Krieg der Motor des Wachstums und des Wiederaufbaus. Der Stil hatte allerdings nichts mit der internationalen Strömung gemein, man lehnte sich wieder an traditionelle Vorbilder an, wahrscheinlich auch um die Gäste mit einer alpinen Idylle zu ködern. Es soll überdies bedacht werden, dass die meisten Touristiker bis kurz zuvor größtenteils Bauern waren und von Architektur kaum Ahnung hatten. In Südtirol war man auch aus dem Grund auf traditionelle Bauweise bedacht, da man in diesen Jahren um die eigene Identität im italienischen Staat kämpfte. 13 Buntscheckige „VillenMeile“ bei der Hungerburg oberhalb von Innsbruck. Die Individualität des Architekten ist das stärkste stilbildende Element. Abb. 16 Abb. 14 Besonders im Sektor des Tourismus kam es bald zu einem Bauboom. Baute man in den fünfziger und sechziger Jahren aus Gründen der wirtschaftlichen Knappheit noch bäuerlich-schlicht, entstand in den Folgejahren eine Unmenge von Gastbetrieben, die zwar dieselbe architektonische Grundstruktur aufwiesen, doch wie – italienische – Weihnachtsbäume mit allem möglichen Flitter- und Zierwerk behangen wurden: der so genannte „Lederhosen-Stil“, oder anders, Kitsch, was nach der Definition von Milan Kundera eine „Welt ohne Scheiße“ ist. Diese Architektur finden wir auch in der Gegenwart zur Genüge. (Abb. 11, 12) Otto Kapfinger, ein renommierter Architekturkritiker, verweist mit folgenden Worten darauf: „Gerade der Tourismus ist aber ein Bereich mit gravierenden Defiziten in architektonischer und siedlungsplanerischer Hinsicht.“15 Neue Architektur in Tirol Mit den 60er Jahren kam frischer Wind ins Land und 1969 wurde die Fakultät für Architektur in Innsbruck gegründet. Seitdem begann sich laut Kapfinger allmählich eine „Architekturszene“ zu bilden. Eine solche, die der Moderne verpflichtet ist, wobei unter verstärkter Berücksichtigung des natürlichen Umfeldes die persönliche Handschrift des Architekten weiterhin das stärkste Stil bildende Element ist.16 14 Gion A. Caminada, Vrin in der Schweiz 15 Einfamilienhaus, Weyarn in Oberbayern Abb. 15 Kritischer Regionalismus Als Tirol in den 80er Jahren endlich ein Herz für die fortgesetzte Moderne fasst, ist international wieder ein neuer Stil angesagt: der „kritische Regionalismus“, ein Begriff der durch Kenneth Framton in die Architekturtheorie Eingang fand. Die Bewegung ist eine Wiederaufnahme regionaler Bezüge, die man durch „analoge Inspiration“ architektonisch umsetzt. Es geht um eine freie Interpretation der regionalen Elemente und niemals um eine schlichte Übernahme traditionellen Stils, wie die Autoren stets präzisieren.17 Wie bereits gesagt, die Individualität des Architekten ist inzwischen das nicht hinterfragbare Dogma. Materialien wie z.B. Beton, die zu Sinnbildern der Moderne wurden, finden indes weiterhin Verwendung. (Abb. 10) Der „Kritische Regionalismus“ will gezielt die Anonymität des Internationalen Stils durch Lokalkolorit ersetzen. So wie damals der Regionalismus eines T. Fischer der Willkür des Historismus Einhalt gebot, verpflichtet der gegenwärtige Regionalismus heute die Postmoderne mit ihren ironischen, stilistischen „Zitaten“ zu etwas mehr Ernst. 16 Mehrfamilienhaus, Teufen in der Schweiz 19 Abb. 17a Abb. 17b Kritischer Regionalismus in Tirol Die neue Bewegung ist auch in die Alpen vorgedrungen. Der namhafte Architekturpreis „Neues Bauen in den Alpen“ findet seit 1999 jährlich in Sexten statt. Dass es zunehmend auch um regionale Bezüge geht, erkennt man an der Auswahl der Werke. Der Schweizer Bruno Reichlin, Architekturhistoriker und Leiter des Projektes, sieht in der neuen regionalistischen Strömung eine Fortsetzung der Gedanken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Die Erfindung des Heimatschutzes war ein hervorragender Schritt. Man begann, die kulturelle Qualität der Landschaft und der Bauten darin zu schützen“.18 Betrachtet man die regionale Architektur in Tirol, scheint das Land davon allerdings ziemlich unberührt. Der Südtiroler Architekt Gerd Bergmeister – gewiss kein Traditionalist – meint zur Frage, ob sich die Architektur im Lande in diese Richtung entwickeln wird: „Das glaube ich aus folgendem Grund weniger: Die Architekten, die heute in Südtirol arbeiten, haben in Innsbruck, Wien, Venedig, Florenz, Zürich, München studiert und haben – auch von ihren Professoren – vielfältige Eindrücke erfahren, die zunächst nichts mit Südtirol zu tun haben. Sie kommen gleichsam als fremde Fachleute zurück, geprägt von vielen Einflüssen. Ich kann derzeit nicht erkennen, dass sie grundsätzliche Elemente aus Städtebau und Architektur der Südtiroler Bautradition in ihre Arbeit transformieren. Wir sind da anders als zum Beispiel die Architekten in Vorarlberg, die zu einer gemeinsamen, fast regionalen Haltung gefunden haben. Ich 20 17a + 17b Einfamilienhaus. Ein Gebäude in Weyern in Oberbayern lehnt sich an die Machart der dort befindlichen Harpfen an. 18 Das wieder aufgebaute Bergdorf Gondo in der Schweiz Abb. 18 denke da etwa an das Holzhaus, das von den Vorarlberger Architekten zu einem eigenen, aber der Tradition verpflichteten Typus weiterentwickelt wurde. In Südtirol gibt es das nicht, weil einfach zu viele Einflüsse vorherrschen.“19 Derselben Meinung sind auch Othmar Barth20 sowie Benno Weber, Vizepräsident des Heimatschutzvereines Bozen-Südtirol und selbst Architekt. In der Schweiz arbeiten indes namhafte Architekten wie Gion A. Caminada und Peter Zumthor in diesem Sinne.21 (Abb. 14) Auch Bayern, Vorarlberg und Slowenien – ebenfalls ein Alpenland – haben starke Akzente in diese Richtung gesetzt.22 (Abb. 15, 16, 17, 18) Was die Tiroler weiters hemmt, regional zu bauen, ist ihr Wille sich ostentativ fortschrittlich zu geben, wie aus einem Interview mit Bergmeister zu entnehmen ist.23 Möglicherweise verbirgt sich dahinter die Angst provinziell zu sein, was die provinziellste aller Ängste ist. Ob heute in Tirol regionalistisch gebaut werden soll oder nicht ist eine spezifische Frage, die mit der umfassenderen Frage zusammenhängt, ob es künftig überhaupt noch regionale Kulturen geben wird und soll. Dass indessen eine regionale, ja sogar bäuerliche Kultur mit modernen Tendenzen vereinbar ist, hat uns Herr Lethaby der Arts-and-Crafts-Bewegung gezeigt. Nicht in einem metallenen Dampfschiff, sondern in einem hölzernen Bauernwagen hat er Funktionalität gepaart mit Schlichtheit – zwei Grundsätze der Moderne – gefunden.24 Anmerkungen [1] Walter Gropius, Internationale Architektur, Mainz 1981, 5–8 sowie Jean-Louis Cohen, Le Corbusier, Köln 2009, 7–15. [2] Paul Schultze Naumburg, Kampf um die Kunst, München 1932, 55. [3] Ebd., 66. [4] August Sarnitz, Lois Welzenbacher, Wien 1989, 123–124. [5] Hort Harmrusch/Joachim Moroder/Bettina Schlorhaufer, Franz Baumann, Wien/Bozen Ein Plädoyer fürs Satteldach Betrachten wir die „260 sehenswerten Bauten“ im Buch „Bauen in Tirol seit 1980“ von Otto Kapfinger sowie den jüngst erschienen Katalog der Ausstellung „Wohnraum Alpen“, finden wir in ländlicher Gegend in Tirol fast ausnahmslos Flachdächer, manchmal Pultdächer, nie ein Satteldach. Letzteres kann als ein wichtiges Element regionalistischer Architektur in den Alpen angesehen werden. Dazu zwei Gedanken, einen funktionalen und geometrischen. Ein Satteldach ist zumindest in unseren Breitengraden funktionaler als ein Flachdach, da Letzteres im Unterschied zum Ersteren eine besondere Isolierung durch Folien erfordert, damit das Wasser abfließen kann und nicht durchsickert, d.h. ein Mehraufwand. Die Kubatur, die angeblich durch das Flachdach dazu gewonnen wird, kann auch durch eine sinnvoll eingerichtete Mansarde genutzt werden. Bedenken wir weiters die Form eines Satteldaches, können wir sie als einfachen stereometrischen Körper bestimmen, der durch den Schnitt eines Würfels längs der Diagonale erzeugt wird. Die einfache geometrische Form war ein wichtiges Element des Neuen Bauens in der Gründerzeit, vor allem bei Le Corbusier. Damit erfüllt das Satteldach zwei Kriterien der klassischen Moderne: Funktionalität und einfache geometri- 1998, 15, Fußnote. [6] Paul Schultze Naumburg, Kunst und Kunstpflege, Leipzig 1901, 89–100. [7] Ebd. [8] Kunibert Zimmeter, Unser Tirol, Innsbruck 1919, 41. [9] Ebd., 4–11. [10] Hort Harmrusch/Joachim Moroder/Bettina Schlorhaufer, Franz Baumann, Wien/Bozen 1998, 22. [11] Helmut Rizzolli, Bilder von gestern und heute. In: Der Schlern, Dezember 2009, Heft 12, 73. [12] Werner Haftmann, Malerei nach 1945, Einleitung zum Katalog Documenta II, Köln 1959. [13] Uwe M. Schneede, Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, 189. Der Umstand trat auch in der Debatte um den österreichischen Monsignore Otto Mauer ans Tageslicht, der ein Förderer Informeller Kunst war. Vgl., http://www.ejournal.at/ArtSite/dommuseum/ monsignore.html. [14] Vgl., Catherine Slessor, Regionalismus in der mondernen Architektur, Stuttgart/Zürich 2000 sowie Vicky Richardson, Avantgarde und Tradition, Die Architektur des kritischen Regionalismus, Stuttgart 2001. [15] Otto Kapfinger, Bauen in Tirol seit 1980, Salzburg 2002. [16] Vgl. ebd. sowie Architektur in Südtirol, 1900 bis heute, Bozen 1993. [17] Vicky Richardson, Avantgarde und Tradition, Die Architektur des kritischen Regionalismus, Stuttgart 2001, 6. [18] Neues Bauen in den Alpen, Beilage zu Hochparterre Nr. 10, 2008, 5. [19] Andreas Gottlieb Hempel, Architektur in Südtirol, aktuelle Bauten – ein Architekturführer, München 2008, 13. sche Form. Es stellt sich mithin die Frage, warum diese Dachform mit regionalem Bezug in Nord- und Südtirol von den Architekten heute systematisch vermieden wird. Der Architekt G. Bergmeister meint dazu: „Die architektonische Moderne reduziert sich bei den Bauherren sehr oft auf das Flachdach ... denn sie bestehen geradezu auf Flachdächern, um sich von den Altbauten der Umgebung modern abzuheben. Das Flachdach symbolisiert für sie den Kubus der modernen Architektur, mit dem sie sich fortschrittlich vom Althergebrachten unterscheiden möchten.“25 Menschlich, allzu menschlich, wie Nietzsche meinte. Was das Pultdach betrifft, sei darauf verwiesen, dass es keine Erfindung der Moderne war. Gelegentlich als Dach von Holzschupfen, fand es zu Wohnzwecken vereinzelt nur in hochalpiner Lage Verwendung, um den Lawinen standzuhalten.26 Durch seine ungegliederte und asymmetrische Form kam es besonders aus ästhetischen Gründen für wichtigere Bauten nicht in Frage.27 In den 30er Jahren war seine verwegene Form Ausdruck des „heroischen Bergsteigertums“, heute entbehrt es auch dieser Berechtigung. Andres C. Pizzinini [20] Ebd. [21] Ein frappantes Beispiel ist das Dorf Vrin mit 180 Einwohnern im Lugnez in der Schweiz, wo Caminada mehrere Gebäude in Anlehnung an den traditionellen Stil, allerdings modern, errichtete, indem er lokale Materialien verwendete und gleichzeitig die Leute vom Dorf mit der Ausführung beauftragte. Von Zumpthor betrachte man vor allem die Thermen in Vals in der Schweiz. Sie scheinen wie aus dem Boden emporgewachsen. [22] Vgl., Wohnraum Alpen, Katalog der Wanderausstellung, Beispiele sind Bauten aus Slowenien, der Wiederaufbau des Bergdorfes Gondo und die Gemeinde Teufen in der Schweiz , 188, 314–315, 324–325. Ein Gebäude in Weyern in Oberbayern lehnt sich indes an die Machart der dort befindlichen Harpfen an, 330– 331. [23] Siehe Kasten nebenan. [24] Dass der Wegbereiter der Moderne Adolf Loos seine Gedanken am alpinen Bauernhaus realisiert sieht, deutet genau in dieselbe Richtung. Vgl. Regeln für den, der in den Bergen baut. In: Adolf Loos, Warum Architektur keine Kunst ist, Wien 2009. [25] Andreas Gottlieb Hempel, aktuelle Bauten – ein Architekturführer, Andreas Gottlieb Hempel, München 2008, 12. [26] Vgl., M. Rudoph Greiffenberg, Die Neugestaltung von Haus und Hof in Südtirol, Bozen 1960, 29 sowie Tirol, Land und Natur, Volk und Geschichte, Geistiges Leben, Hg. Hauptausschuss des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Band I, München 1933, 224. [27] Vgl., ebd. 21