Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... Italien drängt auf schnelle Wahlen – doch die dürften die Krise nur vergrößern ..................................................................................................... Experte Dr. Alberto Mingardi Region: Europäische Union Ehemalige Ministerpräsidenten und bittere Konkurrenten: Matteo Renzi (Vordergrund) und Silvio Berlusconi wollen vorgezogene Wahlen und ein neues Wahlsystem (Foto: dpa) Nach zahlreichen Diskussionen sieht es nun plötzlich danach aus, dass die Italiener nicht im September 2017 zu den Wahlurnen gehen, um eine vorgezogene Parlamentswahl abzuhalten. Der unerwartete Wahlausgang der britischen Premierministerin Theresa May, die bei der von ihr spontan angesetzten Neuwahl mit einem Erdrutschsieg rechnete und stattdessen ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse erhielt, wurde zum mahnenden Beispiel für Matteo Renzi, den Parteichef der Demokratischen Partei und früheren Ministerpräsidenten (2014-16). Dabei stand Renzi, der auf schnelle Neuwahlen drängte, seit er im Dezember 2016 ein Verfassungsreferendum und damit sein Amt als Premierminister verlor, kurz davor, sein Ziel zu erreichen – er hatte bereits entsprechende Absprachen mit seinen größten Gegnern, Beppe Grillo von der „Fünf-Sterne-Bewegung“ (M5S) und Silvio Berlusconi von der „Forza Italia“, getroffen. Die drei einigten sich auf ein neues www.gisreportsonline.com SEITE 1 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... Wahlsystem, das weitgehend von dem deutschen Modell inspiriert wurde, im Austausch für die Zustimmung der M5S und der Forza Italia zu Renzis vorgezogenen Wahlen. Dieser Deal wurde nun auf Eis gelegt, womit sich die Amtszeit der Übergangsregierung in Italien verlängert. Aber tot ist der Plan keineswegs. Die jüngsten Kommunalwahlen, bei denen die traditionellen linken und rechten Parteien weitaus besser abschnitten als die populistische M5S, könnten der Idee der vorgezogenen Wahlen neues Leben einhauchen, vor allem bei Renzi und Berlusconi. Obsessive Idee Die Situation ist etwas verworren, doch für italienische Verhältnisse eigentlich recht seriös. Ein schlechtes Wahlgesetz könnte für das Land gefährlich sein und es entweder in einen Zustand des permanenten politischen Aufruhrs versetzen oder in die Arme einer Populisten-Regierung treiben. Renzi, der die Rolle des Nachwuchsstars der europäischen Politik lange vor Emmanuel Macron innehatte, verhob sich am Verfassungsreferendum im vergangenen Dezember. Die Verfassungsreform, die er als Ministerpräsident unablässig verfolgt hatte, zielte darauf ab, die Regierungsführung Italiens zu straffen, aber sie sollte keine konsequente Umstrukturierung des dysfunktionalen politischen Systems des Landes herbeiführen. Trotzdem präsentierte Renzi diese Reform als den seit langem erwarteten Wandel und machte sein eigenes politisches Schicksal von der Zustimmung der Wähler abhängig. Als diese ihr Placet verweigerten, trat er sofort zurück. Um der politischen Stabilität Willen, ersetzte eine von der gleichen parlamentarischen Mehrheit unterstützte Regierung bald seine eigene Ministerriege, fortan fungierte der bisherige Außenminister Paolo Gentiloni als Premierminister. Seit diesem bedauerlichen Ergebnis forderte Renzi unablässig vorgezogene Neuwahlen, um seine Anhängerschaft zu versammeln und so zu versuchen, 40 Prozent der Stimmen zu gewinnen – jene schwer fassbare Schwelle, die ihm in Italiens gegenwärtigem Wahlsystem eine zumindest bequeme parlamentarische Mehrheit garantieren würde. Das würde jedoch nicht ausreichen, um Renzis www.gisreportsonline.com SEITE 2 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... Verfassungsänderungen durchzubringen – ein Ziel, dem er sich trotz des Desasters an den Wahlurnen weiterhin verschrieben hatte. Nach langwierigen Gesprächen gab Berlusconi schließlich Renzi grünes Licht für eine vorgezogene Wahl – im Austausch für ein Wahlgesetz, das er bevorzugt. Überraschenderweise reihte sich dann noch Grillos Bewegung in diese Allianz ein. Die drei Männer mögen unterschiedliche Prioritäten haben – aber ihre Ziele ähneln sich. Überleben und Selbsterhaltung Für Grillo geht es darum, seine derzeitige Position zu festigen, da die Fünf-SterneBewegung in den Umfragen vorn liegt. Obwohl ihre kommunalen Regierungen in den Städten, die sie kontrollieren (wie in Rom), nur wenig erreichen, hat die M5S weiterhin einen Lauf. Es stimmt, dass keiner ihrer Bürgermeister-Kandidaten es in die zweite Runde der Kommunalwahlen in den großen Städten schaffte, aber dies könnte die Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Die Fülle an örtlichen Listen, die Bedeutung der starken Verbindungen zwischen den Kandidaten und den Bezirken und die Tatsache, dass die Wähler bei den Bürgermeisterwahlen tendenziell stillen Verwaltern vor lauten Agitatoren den Vorzug geben – all dies dürfte hier zum Versagen der Bewegung beigetragen haben. Doch auf nationaler Ebene ist dies nicht wahrscheinlich. Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der politischen Klasse Italiens, die als selbstreferentiell und korrupt wahrgenommen wird, ließ die M5S wachsen. Die Bewegung ist deutlich kritisch gegenüber der Europäischen Union und dem, was sie als „Austeritäts“-Politik bezeichnet, eingestellt. Ihr politisches Programm ähnelt dem einer extremen linken Plattform, mit einem Hauch von Skepsis gegenüber den Vorteilen des Wirtschaftswachstums. In der Tagespolitik tendiert M5S jedoch dazu, sich auf die Seiten der etablierten Interessengruppen Italiens zu schlagen, von den starken Gewerkschaften bis hin zu den Taxifahrern. Irgendwie scheint ihre lautstarke Kritik an den italienischen Machtverhältnissen nicht für die organisierten Arbeitskräfte und die Beamten zu gelten – zwei Gruppen, die eigentlich zum Establishment gehören. www.gisreportsonline.com SEITE 3 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... Berlusconi wiederum wünscht sich ein Wahlsystem, das sein politisches Überleben garantieren würde. Sofern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht ein entsprechendes Verbot für ihn aufhebt, darf Berlusconi für kein Amt kandidieren. Er bleibt jedoch die bestimmende Kraft in der Forza Italia, der Partei, die er 1994 gegründet hat. In dieser Partei konnte sich keine alternative Führungsfigur durchsetzen, doch die Popularität von Forza Italia ist zurückgegangen: Von ihrer Blütezeit im Jahr 2008, als eine Allianz, die sie angeführt hat, 47 Prozent gewann, sank ihre Zustimmung bis heute auf armselige 10-12 Prozent. Aus diesem Grund zeigt Berlusconi Unbehagen über seine ehemaligen politischen Verbündeten, vor allem die „Lega Nord“. Diese hat sich unter der neuen Führung von Matteo Salvini zu einem erfolgreichen Le Pen-Ableger entwickelt, der in den Umfragen etwa 15 Prozent erhält. Priorität: Kontrolle Wenn die jüngsten Kommunalwahlen etwas signalisierten, dann, dass das MitteRechts-Lager in Italien auch nach fünf Jahren der politischen Lethargie überraschend lebensfähig ist. Wenn dieses Lager eine Koalition schaffen kann, könnte es sich an den Wahlurnen als wettbewerbsfähig erweisen – falls es für seinen Wahlkampf einige neue Gesichter findet und so ein Déjà-vu vermeiden kann. Eine derartige Koalition zusammenzuhalten würde jedoch eine aktive Diplomatie von Berlusconi erfordern. Dennoch scheint er zu zögern, den ehemaligen Verbündeten die Hand zu reichen. Stattdessen begann er, mit der Idee zu flirten, zum JuniorPartner in einer nicht-populistischen Links-Rechts-Regierung zu werden, die von Renzi angeführt würde. Mit diesem strategischen Ziel vor Augen wollte der Chef der Forza Italia zudem die totale Kontrolle über die Kandidatenliste seiner Partei behalten – dieses Ziel teilt er mit Renzi. Die Minimierung des internen Dissenses und die Verschärfung der Kontrolle über den Parteiapparat haben für beide Männer Priorität. Die Stärkung seiner Führung der Demokratischen Partei (DP) ist vielleicht der Hauptgrund, warum Renzi seit Dezember 2016 konsequent Neuwahlen gefordert hat. Die Partei selbst hätte durch vorgezogene Wahlen viel zu verlieren, da sie weiterhin www.gisreportsonline.com SEITE 4 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... die Regierung dominiert und mit Gentiloni den Premierminister stellt. Darüber hinaus erlaubte das vorherige Wahlgesetz – das später vom Obersten Gerichtshof als verfassungswidrig eingestuft wurde –, dass die DP eine eindrucksvolle Mehrheitsprämie erhielt. Wie auch immer die nächsten Wahlen ausgehen: Die Chancen sind groß, dass die Zahl der DP-Abgeordneten sinkt. Allerdings passt die derzeitige Parlaments-Vertretung seiner Partei Renzi nicht unbedingt, da viele der derzeitigen Abgeordneten von seinen Vorgängern ausgewählt wurden und für ihn keine zuverlässigen Anhänger darstellen. Was der Parteichef anzustreben scheint, ist eine kleinere, aber loyalere Gruppe von Parlamentariern. Matteo Salvini hat die rechtsextreme Anti-EU-Partei „Lega Nord“ zu einer Bewegung umgewandelt, die auf den Spuren von Le Pen wandelt – und bei den nächsten Wahlen in Italien könnte sie bis zu 15 Prozent der Stimmen erhalten (Foto: dpa) Schlechte Ideen Das Wahlsystem, auf das sich Renzi und Berlusconi in zähen Verhandlungen geeinigt haben, imitiert in Teilen das deutsche System. Basierend auf einem reinen www.gisreportsonline.com SEITE 5 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... Verhältniswahlrecht, verfügt es über eine Fünf-Prozent-Hürde für jede Partei, die ins Parlament einziehen will. Im ursprünglichen deutschen Modell erhält jeder Wähler zwei Stimmen: eine für einen einzelnen Kandidaten und eine andere für eine regionale Parteiliste, mit deren Hilfe die Parlamentssitze proportional verteilt werden. In der italienischen Version würde es nur eine Stimme, nämlich die für die regionale Liste geben. Alle Änderungen des Wahlgesetzes sollen die Macht der politischen Parteien stärken. Dieser Entwurf schien am Ende, als sich die Fünf-Sterne-Bewegung plötzlich gegen die Vereinbarung stellte, die sie mit Renzi und Berlusconi getroffen hatte. Der Haken war die Region Südtirol, die weiterhin ein anderes Wahlsystem hätte. Wenn Renzi und Berlusconi rationale, selbstinteressierte Akteure wie aus dem Lehrbuch wären, bestünde die Lektion, die sie aus den letzten Kommunalwahlen gelernt hätten, darin, dass Populisten nur dann zu schlagen sind, wenn die Wähler die Chance bekommen, zwischen ihnen und soliden, seriösen Kandidaten zu wählen. Grillos Kader sind im Durchschnitt weniger versiert und vorzeigbarer als jene Berufspolitiker, Universitätsprofessoren oder Kleinunternehmer, die die linken und die rechten Parteien routinemäßig als Kandidaten für öffentliche Ämter aufstellen. Aber falls es Grillo gelänge, die Wahlen in einen Wettbewerb zwischen sich selbst, einem selbst ernannten Savonarola, und dem korrupten politischen Establishment zu verwandeln, und die üblichen Parteiführer mit diesem Establishment identifiziert würden, könnte das Ergebnis ein ganz anderes sein. Die Interessen der Herren Renzi und Berlusconi sind eng definiert. Sie wollen ein reines Verhältniswahlrecht, um ihre Parteilisten zu kontrollieren. Obwohl Berlusconi zwei Wahlen mit dem Mehrheitswahlrecht (1994 und 2001) gewonnen hatte, zeigen beide Männer eine starke instinktive Abneigung gegen den auch nur geringsten Anschein von politischem Wettbewerb innerhalb ihrer eigenen Parteien. Drei Szenarien Damit dürfte ein reines Verhältniswahlrecht das wahrscheinlichste Ergebnis ihrer Verhandlungen sein. Ein derartiges System dürfte jedoch zwei Szenarien www.gisreportsonline.com SEITE 6 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... hervorbringen, die beide ziemlich schlecht für das Land wären. Laut der Umfragen ist es nicht unmöglich, dass die nächsten Wahlen zu einer „populistischen Mehrheit“ führen könnten. Da man erwartet, dass die M5S über 30 Prozent und die Lega Nord wahrscheinlich rund 15 Prozent erhalten werden – beide Parteien werden wohl von den Demoskopen unterschätzt –, könnten sie gemeinsam tatsächlich eine Regierungsmehrheit stellen. Doch die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega Nord liegen ideologisch weit auseinander: Die eine ist eine idiosynkratische neue Bewegung, deren Führung nach links tendiert, während die andere eine Partei darstellt, die offen auf den Spuren von Frankreichs Marine Le Pen wandelt. Beide teilen eine sehr kritische Haltung gegenüber der Europäischen Union und der gemeinsamen Währung, aber ein „Italexit“ wäre kaum vorstellbar. Eine Regierung aus unerfahrenen Neulingen hätte kaum eine Chance, eine radikale Exit-Politik angesichts einer offenen Opposition durch die Bürokratie umzusetzen. Um den Euro zu verlassen, wären sowohl eine verfassungsrechtliche Reform (laut Gesetz darf Italien keine Referenden über internationale Verträge abhalten) als auch die einstimmige Zustimmung der anderen Mitglieder der Eurozone nötig. Das Ausräumen solcher Hürden würde eine visionäre innenpolitische Führung und eine diplomatische Spitzenleistung auf der europäischen Bühne erfordern. Doch weder Grillo noch Salvini gelten als die Talleyrands unserer Tage. Das andere realistische Szenario ist, dass aus den Wahlen keine überlebensfähige Regierung hervorgeht. Dies könnte passieren, falls der M5S und der Lega Nord die Stimmen oder der politische Wille fehlen, um gemeinsam eine Regierung zu bilden. Es ist kaum absehbar, dass Renzi und Berlusconi genug Stimmen erhalten, um eine gemeinsame Regierung zu bilden, und das wäre zugleich das dritte Szenario. Ewige Verhandlungen Die Fünf-Prozent-Hürde, die kleinere Parteien aus dem Parlament hält, macht es schwieriger, eine Rechts-Links-Koalition als notwendige, wenn auch bedauerliche Lösung für das Land zu verkaufen. Sowohl Renzi als auch Berlusconi sind sich www.gisreportsonline.com SEITE 7 Dienstag, 20. Juni 2017 ...................................................................................................... bewusst, dass, falls sie jemals wieder die Chance haben zu wollen, zu regieren, dies in einer Partnerschaft erfolgen muss. Diese Tatsache aus der Öffentlichkeit zu halten, wird aber nicht einfach sein. Je mehr ihre jeweiligen Wähler damit hadern, desto anfälliger würden sie für die pikanteren Optionen wie Salvini (im rechten Spektrum) oder Giuliano Pisapia, der damit beschäftigt war, eine neue linke Hardliner-Partei zusammenzustellen. In jedem Fall beinhaltete das Verhältniswahlrecht auch jene andauernde politische Schacherei, die so typisch war für das italienische System zwischen 1948 und 1992. Das war eine Periode des ständigen Feilschens unter den politischen Parteien, was in der Regel zu höheren Ausgaben und letztlich zu einer vernichtenden Staatsverschuldung führte, die die italienischen Steuerzahler noch immer belastet. Keiner der jetzigen Parteichefs sieht danach aus, als wäre er die beste Lösung für den Spitzenposten des Landes. Sie verhalten sich eher wie Straßenkämpfer und nicht wie Schachspieler. Gleichzeitig erfordert die aktuelle ökonomische und geopolitische Situation Italiens dringende Reformen, um das politische System effizienter zu gestalten. Die Aufrechterhaltung des Friedens durch fortgesetzte Ausgaben bleibt für die Eurozone problematisch und es ist angesichts der überholten öffentlichen Finanzen Italiens nicht nachhaltig. Doch seit nunmehr 25 Jahren, also seit Berlusconi die Politbühne betrat, wurde das Land ermahnt, „Strukturreformen“ vorzunehmen. Dies erwies sich als schwierig, selbst wenn die Wahlen klare Mehrheiten hervorbrachten. Im derzeitigen Kontext aber wären sie einfach undenkbar. Sowohl Renzi als auch Berlusconi gewannen Wahlen als angeblich fähige Reformer. Jetzt sind sie dazu entschlossen, jegliche Hoffnung zu begraben, die noch auf die Rettung ihres Landes übrig geblieben ist. www.gisreportsonline.com SEITE 8