Gerechtigkeit als Respekt, in: Berliner Debatte INITIAL, Jg. 12, Heft3

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Gerechtigkeit als Respekt, in: Berliner Debatte INITIAL, Jg. 12, Heft3, 2001, S. 28-37.
Heinz Bude
Gerechtigkeit als Respekt.
Sozialmoralische Folgen von Ungerechtigkeit durch Exklusion
Es dürfte kein Zweifel bestehen, daß wir uns nicht mehr in der glücklichen Wohlstands- und
Wohlfahrtsperiode des Nachkriegskapitalismus befinden, in der sich für eine inklusive
„Mehrheitsklasse“ (Ralf Dahrendorf 1992) die Steigerung individueller Optionen mit der
Ausgestaltung kollektiver Anrechte verband. Beschreibungsformeln wie „postfordistische
Regulationsweise“ (Michel Aglietta 2000), „Netzwerkgesellschaft“ (Manuel Castells 1996)
oder „flexibler Kapitalismus“ (Richard Sennett 1998) kennzeichnen eine neuartige Formation
der Gesellschaftsverhältnisse, wo der Kapitalismus sozialen Ballast abwirft und gleichzeitig
organisatorische Kontrolle zurückgewinnt. Man erlebt auf der einen Seite, wie neue Quellen
des Wachstums erschlossen und andere Formen des Erfolgs experimentiert werden, und
erfährt auf der anderen Seite, daß gesellschaftliche Globalisierungsprozesse bisher nicht
bekannte soziale Verwerfungen mit sich bringen. In diesem Zwiespalt zerbricht die soziale
Vernunft, an die wir uns in einer „langen Nachkriegszeit“ gewöhnt hatten. Gewachsenes
Sozialeigentum wird zugunsten individueller Dispositionsgewinne aufs Spiel gesetzt. Im
herrschenden Verständnis moralischer Ökonomie werden die Aussichten auf kurzfristige
Investitionserfolge an die Stelle des Versprechens auf langfristige Solidaritätsgewinne gesetzt.
Ein auf unbedingte Effizienz und Egalität rekurrierendes Kundenverhältnis triumphiert über
organisierte und koordinierte Produzentenverhältnisse (Rainer Hank 2000). Vor allem wird
der Staat nicht mehr unbedingt als Verwalter des Gemeinwohls angesehen. In den
Wohlfahrtsbilanzen einer jüngeren „postsozialstaatlichen“ Generation (Lutz Leisering 2000a)
findet das Staatsversagen heute genauso wenig Gnade wie früher das Marktversagen.
Diese driftende Entwicklung bildet den Hintergrund für eine neue Wahrnehmung des
Problems der sozialen Gerechtigkeit. Wer heute an einer bloßen Gleichheitsmoral als
Grundlage eines Begriff sozialer Gerechtigkeit festhält, gerät schnell in den Ruf eines
partikularistischen Besitzstandswahrers und mechanistischen Glücksmaximalisten. Die
Reduktion der Gerechtigkeitsfrage auf den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in ihrer
bisherigen institutionellen Exekutierung in einem System wohlfahrtsstaatlicher
„Versorgungsklassen“ (M.Rainer Lepsius 1990) macht einen blind für die neuen Spaltungen
innerhalb der alten Ungleichheiten. Allerdings ist, was das sozialphilosophische und
sozialpolitische Denken angeht, alles andere als klar, wie ein aus dem Bewußtsein
„komplexer Gleichheit“ (Michael Walzer 1992) kommender Begriff „komplexer
Gerechtigkeit“ zu entwickeln wäre.
Dazu will ich im folgenden aus der Sicht der soziologischen Exklusionsforschung einen
Beitrag leisten, indem ich einen gleichermaßen kontextualistischen wie absolutistischen
Begriff sozialer Gerechtigkeit vertrete. Kontextualistisch insofern, als historisch wechselnde
Bezugsprobleme als konstitutiv für die Auffassung sozialer Gerechtigkeit angesehen werden;
und absolutistisch insofern, als für einen vom Respekt für den einzelnen ausgehenden Begriff
sozialer Gerechtigkeit plädiert wird, der auf die Definition sozialer Normen und öffentlicher
Güter zielt und sich nicht in der Umverteilung von Ressourcen erschöpft. Im Zentrum eines
solchen Begriffs des sozialen Gerechtigkeit stehen Interpretationen und Maßnahmen, die dem
einzelnen das Gefühl vermitteln, daß er/sie nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden
kann. Ein Raum des Respekts entsteht dadurch, daß der einzelne die Möglichkeit hat, zu
einem Angebot ja und nein zu sagen, und daß er/sie sich durch diese existentielle Möglichkeit
als jemand hervorbringt, auf der/die man rechnen und mit dem/der man etwas unternehmen,
verwirklichen und zustandebringen kann. Das Selbstseinkönnen des einzelnen ist die
Voraussetzung seiner lebendigen, auf Reziprozität angelegten gesellschaftlichen Teilhabe.
Was man in der angelsächsischen Diskussion, schwer übersetzbar, als „agency“ bezeichnet,
wird dann zum Maßstab eines Begriffs der Gerechtigkeit als Respekt.
1. Verteilungsgerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat
Robert Castel (2000) hat zuletzt in seiner Linien langer Dauer verfolgenden Untersuchung
über die „Metamorphose der sozialen Frage“ herausgearbeitet, wie durch das Institut der
sozialstaatlichen Pflichtversicherung aus einer herumtreibenden Population von Lohnarbeitern
eine mit bürgerlichen Sicherheiten ausgestattete Klasse von Staatsbürgern wurde. Am
französischen Fall läßt sich gewissermaßen in republikanischer Reinkultur studieren, wie die
zivilisatorische Symbiose von National- und Sozialstaat die Auftrittschance für eine eigene
Klasse von Arbeitern schafft, die im Recht auf Arbeit das Gegenstück zum Eigentumsrecht
verteidigen. Der Clou von Castels Rekonstruktion besteht darin, daß entgegen der am
britischen Fall dargelegten Ansicht von Edward P. Thompson (1987) weniger der
ursprüngliche Lernprozeß einer Bewegung, als der Einbezug in die Emergenz des Staates aus
unwürdigen Lohnarbeitern stolze Arbeiter gemacht hat. Die Welt der Arbeiter, sowohl was
ihre historische Rolle als auch was ihren kulturelle Einheit anbelangt, ist zumindest
ebensosehr als Teil der Nation wie aus dem gemeinsamen Gefühl der Ausbeutung und
Unterdrückung entstanden. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit war daher von Anfang an auf
den Staat und seine Institutionen gerichtet, die überhaupt erst eine Vorstellung davon
vermittelten, was gesellschaftliche Teilhabe für eine anerkannte Großgruppe bedeutete.
Ein Blick auf die deutsche Sozialgeschichte fügt der Genealogie Castels insofern
Wesentliches hinzu, als die Form der „negativen Integration“ (Günter Roth 1963) der
Sozialdemokratie im Kaiserreich verdeutlicht, wie der Klassenkampf als Verfassungskampf
gesellschaftliche Geltung gewann. Der Beitrag der Sozialdemokratie zur Identitätspolitik der
Arbeiterbewegung ist nämlich in einer doppelten Leistung zu sehen: Einerseits gelang es ihr,
die einzelnen mit der Industrialisierung und Urbanisierung aufkommenden sozialen Probleme
wie Arbeitsdisziplin, Entlohnungsmaßstäbe, Wohnungsversorgung zu einem allgemeinen
Klassenkonflikt zu aggregieren, der den unterschiedlich betroffenen Teilgruppen von
Lohnarbeitern den Begriff einer einheitlichen Klasse vermittelte; andererseits wurde dieser
identitäre Klassenkampf aufgrund des versperrten Zugangs zu den zentralen Arenen der
politischen Herrschaft zum revolutionären Verfassungskampf stilisiert. Was die
sozialdemokratische Arbeiterkultur nach innen integrierte, wurde von der
sozialdemokratischen Partei nach außen in Stellung gebracht. Der typische Klassenkonflikt
unter der Form der „negativen Integration“ war daher nicht primär Ausdruck von
Verteilungskämpfen, sondern von Verfassungskämpfen, die auf die politische Beteiligung der
„organisierten Interessen“ der Arbeiterklasse zielten. In dem Maße, wie sich der bürgerliche
Staat für die Partei der Arbeiter öffnete und sich die SPD von einer Weltanschauungs- und
Milieupartei (Theodor Geiger) zu einer Allerwelts- und Volkspartei (Otto Kirchheimer)
entwickelte, verlor der Klassenkonflikt seinen Charakter als Verfassungskonflikt und
desaggregierte sich in eine Vielzahl sozialstaatlich kodifizierter Verteilungskonflikte. Das
Gerechtigkeitsproblem betrifft dann nicht mehr den verwehrten Anerkennungsanspruch als
Klasse oder Kollektiv, sondern den ungleichen Zugang einzelner Personengruppen oder
Problemkategorien zu staatlich garantierten öffentlichen Gütern, die doch allen Staatsbürgern
in gleiche Weise zugute kommen sollen.
Die hier angerissene Transformation moderner Staatlichkeit von den bürgerlichen
Freiheitsrechten des 18. Jahrhunderts, den politischen Bürgerrechten des 19. Jahrhunderts und
schließlich zu den sozialen und ökonomischen Wohlfahrtsrechten des 20. Jahrhunderts (T.H.
Marshall 1950) veranschaulicht die historisch sich wandelnden Kontexte für die jeweilige
Auffassung des Gerechtigkeitsproblems. Was als kollektiver Anspruch auf gleiche
Anerkennung innerhalb eines nationalen Raumes des politischen Respekts begann, endete mit
den individuellen Ansprüchen auf die gleiche Verteilung von Gütern innerhalb eines
sozialstaatlichen Raumes öffentlicher Versorgung. Es ist das Ergebnis einer langen
Geschichte der Wohlfahrtsstaatlichkeit, daß heute die Bedeutung von Besitz und Einkommen
für die Bestimmung der Lebenslage nicht mehr ohne die Filter öffentlicher
Versorgungschancen bewertet werden kann. Allerdings erlaubte allein die Verstaatlichung der
sozialer Frage die Verwandlung von kollektiven Ungerechtigkeitserfahrungen (Barrington
Moore 1982) in politische Gerechtigkeitsbegriffe und institutionelle Anrechtsgarantien. Sonst
wäre reiner Protest geblieben, was des Ausgleichs durch Verfahren bedarf. Aber erkauft
wurde dieser Rationalisierungsgewinn durch die Dominanz der Ressourcenverteilung über die
Durchsetzung des Anerkennungsanspruchs. Das hat den Trittbrettfahrer als Laus in den Pelz
des Wohlfahrtsstaats gesetzt (Mancur Olson 1968). Denn dadurch wurden unter der Hand
private Zuteilungen als Kompensation für öffentliche Benachteiligungen gerechtfertigt. Dieser
Zwiespalt zwischen dem politischen Ursprung und der bürokratischen Bewerkstelligung
belastet seitdem die moralische Rechtfertigung des Wohlfahrtsstaats. Wie Mitnahmeeffekte
von Förderungsprogrammen und Transferleistungen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu
beurteilen sind, ist zu einer immer wieder aufbrechenden Scheidelinie zwischen linken und
rechten Befürwortern und rechten und linken Verächtern des Wohlfahrtsstaats geworden
(Albert O. Hirschman 1992).
Doch die heutigen Legitimationsprobleme wohlfahrtsstaatlich implementierter Vorstellungen
sozialer Gerechtigkeit resultieren aus dem Umstand, daß die entscheidenden
Vorausssetzungen für den Ausbau der Wohlfahrtssysteme in der Nachkriegszeit nach und
nach entfallen sind: Der materielle Ressourcenüberschuß durch den Nachkriegsboom, der den
institutionell tief greifenden wohlfahrtstaatlichen Expansionsschüben der sechziger Jahre
zugrundegelegen hat, ist schon seit dem legendären Ölpreisschock von 1973/74 nicht mehr
vorhanden (Knut Borchardt 1990); die Standardisierung des Lebenszuschnitts durch das
„male breadwinner“-Modell und das Vollerwerbsverhältnis hat sich im Zuge der achtziger
Jahre als „Normalitätsfiktion“ (Wolfgang Bonß und Wolfgang Plum 1990) entpuppt; die für
die Entwicklung eines „koordinierten Kapitalismus“ nicht zu unterschätzende ideologische
Systemkonkurrenz zwischen dem sozialistischen Wohlfahrtsstaat im Osten und dem
sozialdemokratischen im Westen hat sich seit 1989 erübrigt; vor allem jedoch hat sich die
traumatische Erfahrung der Weltwirtschaftskrisen der frühen und späten zwanziger Jahren
und die daraus folgende Angst vor einem katastrophischen Marktversagen in der Erfahrung
der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generationen jetzt endgültig verflüchtigt. Der
„jungen Generation“ von heute sind greifbare individuelle Optionen wichtiger als prinzipielle
soziale Rechte (Heinz Bude 2001).
Nachdem noch in den siebziger und achtziger Jahren eine kulturalistisch gefärbte Skepsis
gegenüber den bedrohlichen und zerstörerischen Folgen einer wohlfahrtsstaatlichen
Herstellung sozialer Gerechtigkeit vorgeherrscht hatte, die in neoidealistischer Manier auf das
Partizipationsdefizit (Jürgen Habermas 1985), in neoaristotelischer Manier auf das
Praxisdefizit (Charles Taylor 1988) und in neonietzscheanischer Manier auf das
Authentizitätsdefizit (Michel Foucault 1977) einer Agentur zur Verbesserung von
Lebenslagen abhob (dazu insgesamt Christoph Menke 2000), ist die Kritik heute ökonomisch
härter und politisch drängender geworden. Der Wohlfahrtsstaat wird vor allem aus zwei
Gründen als Quelle von Ungerechtigkeiten zweiter Ordnung kritisiert: Der eine betrifft die
nachlassende Erwerbsneigung, die immer weniger Erwerbstätige für immer mehr NichtErwerbstätige aufkommen läßt, die sich aufgrund staatlicher Transfereinkommen eines
akzeptablen Lebensstandards erfreuen können, ohne den Kräften des Marktes ausgesetzt zu
sein. Wohlfahrtsstaatliche „Dekommodifizierungsregimes“ neigen, so Wolfgang Streeck
(1998), dazu, wachsende Teile der Bevölkerung aus dem Markt zu nehmen, um sie dann auf
Kosten der Allgemeinheit zu alimentieren. So gerät die schlichte Tatsache in Vergessenheit,
daß durch private ökonomische Aktivitäten überhaupt erst Wohlstand, Beschäftigung und die
steuerlichen Grundlagen für öffentliche Ausgleichs- und Befriedungsprogramme geschaffen
werden. Der zweite, damit zusammenhängende Kritikpunkt zielt auf die von
Wohlfahrtsstaaten gezüchtete „Abhängigkeitskultur“, die den Versorgten den Anreiz nimmt,
etwas für sich selbst zu tun, und sie damit zu ewigen Bittstellern macht und zu ständigen
Offenbarungseiden zwingt. Was einst als neoliberale Ideologie gebrandmarkt wurde, ist heute
zur Selbstverständlichkeit einer aufgeklärten Linken geworden (Anthony Giddens 1998).
Exklusion ist der Titel für die Wahrnehmung neuer Problemlagen und für die Suche nach
anderen Angriffspunkten einer Politik der sozialen Gerechtigkeit. Es geht um Ausgrenzung
durch stillgestelltes Arbeitsvermögen und um Mißachtung durch erlernte Hilflosigkeit.
2. Das Phänomen der Exklusion
Der Exklusionsbegriff gehört mit dem der Polarisierung oder dem der underclass zu einer
Gruppe von Begriffen, mit denen seit der Mitte der neunziger Jahre
Prekarisierungsphänomene in der Gegenwartsgesellschaft herausgestellt werden. So hat in der
Sozialberichtserstattung der Europäischen Union der Exklusionsbegriff sich an die Stelle des
früher verwendeten Armutsbegriff gesetzt (Ernst-Ulrich Huster 1997). Es handelte sich zuerst
um politische Begriffe, von denen sich zumindest die Sozialwissenschaften in Deutschland
überfahren fühlten (Rudolf Stichweh 1997). Armutsforscher, Sozialstrukturanalytiker und
theoretische Soziologen mußten sich plötzlich mit Begriffsbildungen und Problemanzeigen
beschäftigen, die in ihren eigenen Gesellschaftsbeschreibungen noch gar nicht vorkamen.
Pierre Bourdieu (1997) war einer der ersten, der sich in Gestalt einer wilden Ethnographie des
Schicksals der Untauglichen und Unerwünschten angenommen hat. Aber mit einiger
Verspätung zur amerikanischen, französischen und britischen Diskussion sind jetzt auch bei
uns Phänomensicherung und Begriffsklärung in vollem Gange.
Das Bemerkenswerte am Exklusionsbegriff besteht darin, daß er eine Verbindung zwischen
Rand und Kern der Gesellschaft herstellt (Lutz Leisering 2000b). Die methodische
Voraussetzung dafür hat die Verzeitlichung der Ungleichheitsforschung durch die Umstellung
von Herkunft auf Karriere geschaffen. Wohin das Leben führt, ergibt sich nicht mehr so ohne
weiteres daraus, woher man kommt. Zwar läßt sich die Karriere als endogener
Kausalzusammenhang konzeptualisieren, bei dem sich spätere Ereignisse aus den
Bedingungen, Entscheidungen, Ressourcen und Erfahrungen vorangegangenen Ereignisreihen
erklären (Karl Ulrich Mayer und Hans-Peter Blossfeld 1989), aber die Geschichte ist nach
vorne für kontingente Zusammenballungen von biographischen „Lebensereignissen“ und
historischen „Periodeneffekten“ (Paul Baltes 1979) gleichwohl offen. Weil im Lebenslauf als
Institution (Martin Kohli 1985) der Erwerbszusammenhang der Karriere den
Determinationszusammenhang der Herkunft überlagert, richtet sich die Aufmerksamkeit auf
kohortenspezifische Anschlußselektionen von Familie, Bildung, Beschäftigung und
Versorgung. Schon der Kohortenbegriff bricht mit der Vorstellung eines stetigen
Fortkommens, indem er das Augenmerk auf Gewinner- und Verlierergenerationen auf den
Arbeitsmärkten und im Sozialstaat richtet. Aber im Ganzen ging es trotz „Armutspassagen“
und „Warteschleifen“ doch um „Reichstumsungleichheiten“ (Peter A. Berger und Stefan
Hradil 1990, S. 16) mit sozialem Netz und doppeltem Boden.
Der Exklusionsbegriff wendet nun den Blick von regelbaren Unregelmäßigkeiten zu
existentiellen Gefährdungen gesellschaftlicher Teilhabe. Der Kontingenzspielraum im
Lebenslauf wird nicht mehr allein als Bedingung der Steigerung von Inklusionschancen,
sondern zugleich als eine der Mehrung von Exklusionsrisiken gesehen. Wo die
„Risikogesellschaft“ der achtziger Jahre noch die Freiheit der Wahl feierte, wächst in einer
„Kultur des Zufalls“ um unsere Jahrhundertwende die Angst, nicht mehr gewählt zu werden.
Wenn sich im allgemeinen Bewußtsein der Existenz als Karriere die Gewißheit, daß man sich
im Prinzip in einem kollektiven Fahrstuhl nach oben befindet, durch das Gefühl ersetzt wird,
daß immer auch alles schief gehen kann, dann lassen sich die Probleme von Ausgrenzung und
Ausschluß nicht länger auf Randgruppen projezieren, sondern werden als Gefährdungen im
Kern der Gesellschaft wahrgenommen. Jeder kennt jemanden, dem es trotz guter Bildung und
früher Beschäftigungserfolge nicht gelungen ist, seinen Weg zu finden und seine Sache zu
machen. Was als Beginn einer lebenslangen Linie rationierten Statuserwerbs aussah, brach
mit einem Mal ab und kam nicht wieder ins Gleis. In solchen Fällen enthüllt die Logik der
Wahl ihre teuflische Doppelgesichtigkeit: Wer nicht mehr gewählt wird, der verliert
schließlich die Fähigkeit, sich selbst zu wählen.
Solche Exklusionskarrieren weisen drei charakteristische Merkmale auf: Sie vollziehen sich
erstens als Serie von Anerkennungsverlusten, bei der die Grenzen zwischen den
verschiedenen Lebensbereichen zusammenbrechen. Defizite in der Kreditwürdigkeit schlagen
sich als solche in der Arbeitsfähigkeit nieder, Urteile über den Wohnort müssen als solche
über die Diszipliniertheit der Lebensführung hingenommen werden, das nicht mehr ganz
frische Aussehen wird als Ausdruck reduzierter Vermögen und Antriebe aufgefaßt. Der
einzelnen muß es sich schließlich gefallen lassen, daß alles, was er/sie tut oder läßt, auf einen
bestimmten Mangel zurückgeführt wird. Sie organisieren sich zweitens um bestimmte
Umschlagspunkte, die eine Vorgeschichte des Fortkommes und Werdens von einer
Hauptgeschichte der Vergeblichkeit und des Verfalls trennen. Es zeigen sich Brüche,
Schwellen und Stufen, die eine Drehung vom Gefühl des Handelns in ein Gefühl des
Erleidens markieren. Daraus resultiert drittens eine Wende von kontinuierlichen zu
diskontinuierlichen Unterscheidungen in der Selbsteinstufung und im Sozialkontakt. Vor die
graduelle Differenz von oben nach unten schiebt sich die existentielle von drinnen und
draußen. Man fühlt sich aus der Welt der Chancen verbannt und in eine Welt des
Ausschlusses geworfen.
Die drei Merkmale veranschaulichen eine Logik der Vereinzelung, die nur schwer in ein
kollektives Verständnis geschweige in kollektives Handeln überführt werden kann.
Exklusionsprozesse folgen einem „negativen Individualismus“ (Robert Castel 2000), der
selbst soziologischen Kollektivkonstruktionen Grenzen setzt. Man kann zwar eine Logik des
Verlaufs von Exklusionsprozessen identifizieren, aber es fällt schwer, den davon betroffenen
Individuen und Familien einen bestimmtem sozialen Ort zuzuweisen. Natürlich gibt es
spezielle Risokogruppen wie die von der Armutsforschung immer wieder herausgestellten
Gruppen der weiblichen Alleinerziehenden, der arbeitslosen Jugendlichen in „sozialen
Brennpunkten“, der Rentner mit geringer Altersversorgung, der Migranten mit
problematischem Legalitätsstatus, der Langzeitarbeitslosen, der Personen in verdeckter
Armut, die im Prinzip einen Sozialhilfeanspruch haben, diesen aber aus irgendwelchen
Gründen nicht geltend machen, und schließlich die Gruppe derer mit „ungewöhnlichen
Arbeits-, Lebens- und Wohnsituationen“, die sowieso aus den gängigen Erhebungen
herausfallen. Aber das Brisante und Irritierende am Exklusionsphänomen ist seine soziale
Entgrenzung. Es gehört zur Erfahrung des sozialen Wandels unserer Gegenwart, daß man im
Prinzip von jeder Stufe der sozialen Leiter abrutschen kann. Die Augenärztin, die wegen
Überschuldung ihre vor zwei Jahren eröffnete Praxis wieder schließen mußte; der
Friseurmeister in der Lebensmitte, dem keine andere Chance blieb, als sich selbständig zu
machen, aber sich dann auf dem spiegelglatten Bürgersteig das Bein brach; der illegal
beschäftigte Bauarbeiter aus der Ukraine, der mit nachgewiesenen 0,7 Promille Alkohol im
Blut in einen Verkehrsunfall mit erheblicher Schadensumme verwickelt war; die 38jährige
Web-Designerin, deren Beziehung nach der Geburt des ersten Kindes in die Brüche ging und
die dadurch ihr haltendes Milieu verlor; oder der Fondsmanager mit mehreren losen
Wohnsitzen, welcher der Fusion zweier Großbanken zum Opfer fiel – sie alle bevölkern die
transversale Klasse der Überflüssigen (Heinz Bude 1998), die einen scharfen Schnitt quer
durch unser wohlfahrtsstaatlich abgefedertes System sozialer Ungleichheit legt. Nicht
ungleiche Verteilung von Vermögen, Einkommen und Versorgungsleistungen ist hier das
Problem, sondern die schleichende Abkoppelung von den gesellschaftlichen
Anerkennungssystemen. Die Überflüssigen drohen aus der öffentlichen Aufmerksamkeit und
sozialen Beachtung überhaupt herauszufallen und im sozialen Aus zu landen.
Die Exklusionsforschung ist stark in der Rekonstruktion von biographischen Erleidenskurven
und handlungslogischer Fallen, aber sie ist schwach in der Erklärung der Ursachen und der
Relevanz dieser Tatbestände. Das hängt vermutlich mit ihrer Herkunft aus einer
gesellschaftstheoretisch zurückhaltenden, aber moralisch ambitionierten
Randgruppenforschung zusammen. Dabei muß man die Gründe für das Hervortreten des
Exklusionsphänomens nicht lange suchen. Sie liegen zunächst in der seit zwanzig Jahren
anhaltenden Dynamisierung der Arbeitsmärkte, die in der Zunahme von Teilzeitarbeit,
„kapazitätsorientiertvariabler Arbeitszeit“ und ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse zum
Ausdruck kommt. Hinter dieser Ausbreitung von „Nichtnormalarbeitsverhältnissen“ steckt
nicht nur die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen, sondern stärker noch die enger
werdende Koppelung zwischen Produkt- und Arbeitsmärkten unter den Bedingungen eines
durch „schöpferischen Zerstörung“ sich selbst revolutionierenden Kapitalismus. Hatten 1970
noch 84 Prozent aller abhängig Beschäftigten in der alten Bundesrepublik eine unbefristete
Vollzeitstelle, so waren dies 1995 nur noch 68 Prozent. Im dem selben Zeitraum ist die Zahl
der befristeten Vollzeitstellen leicht von 4 auf 5 Prozent angestiegen, zugleich hat sich jedoch
der Anteil der Teilzeitbeschäftigten von knapp 5 auf über 10 Prozent verdoppelt. Noch stärker
ist in letzter Zeit die Gruppe der ausschließlich geringfügig Beschäftigten von knapp 6 auf
mehr als 13 Prozent gewachsen sowie der Anteil der Quasi-Selbständigen, der 1970 noch bei
einem halben Prozent und 1995 schon bei 2 Prozent der Erwerbstätigen lag. Viel dramatischer
stellen sich die Verhältnisse dar, wenn nicht allein im Querschnitt die Zahl der Stellen in
Rechnung stellt, sondern im Längsschnitt die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse einzelner
Erwerbspersonen über einen längeren Zeitraum verfolgt. Da zeigt sich, daß schon bei einem
Beobachtungszeitraum von über 5 Jahren nur noch ein Drittel der ins Auge gefaßten
Population in den achtziger Jahren in einem dauerhaften Vollzeitbeschäftigung stand. Die
meisten anderen pendelten dagegen zwischen Beschäftigung, Nichtbeschäftigung und
Wiederbeschäftigung hin und her (Wolfgang Bonß 2000, S. 339f). In dem Maße wie dieses
Wechselverhalten zur arbeitsgesellschaftlichen Normalität wird, machen sich natürlich auch
andere Sortierungs- und Auslesemechanismen geltend: Es geht jetzt um die Fähigkeit zur
Terminierung von berufsbiographischen Erwartungen und betrieblichen Bindungen und zum
Wechsel zwischen Tätigkeitsbereichen und Arbeitsverhältnissen. Daß die Fähigkeit dazu
nicht allein von beruflichen Qualifikationen und kognitiven Kompetenzen abhängt, liegt auf
der Hand. Verlangt werden so wenig greifbare Dinge wie psychosoziale Teamfähigkeit,
biographische Risikotoleranz und intrinsische Motivationsbereitschaft. Dazu ist man nicht in
jeder Lebenssituation und unter allen Umständen in der Lage. Deshalb können momentane
biographische Schwäche- oder kritische lebenszyklische Übergangsphasen oder einfach nur
unglückliche Ereignisverkettungen einen Prozeß der „Abweichungsverstärkung“ in Richtung
auf eine marginalisierte Position des einzelnen im Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten in
Gang setzen.
Als ein weiterer Grund für eine wachsende Exklusionsanfälligkeit ist die Wandel in der
funktionalen Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu nennen. Damit ist die
Durchsetzung von sozialkoordinativen und systemanalytischen Tätigkeitsformen in allen
Wirtschaftsbereichen und Industriesektoren gemeint. In der Regel muß man beides können:
Die neuen Kommunikationsformen und die neuen Kommunikationstechnologien beherrschen.
In direkten Fertigungsfunktionen waren in Deutschland 1997 nur noch 26 Prozent der
Beschäftigen tätig, während bereits 28 Prozent den höheren Dienstleistungen von Forschung
und Entwicklung, Organisation und Verwaltung sowie den unternehmensbezogenen
Transaktionstätigkeiten von Datenverarbeitung, Marketing, Rechtsberatung und Finanzierung
nachgingen. Nach funktionalen Tätigkeitskategorien erbrachten insgesamt 74 Prozent aller
Beschäftigten eine wie auch immer geartete Dienstleistung, ob sie auf dem Papier nun als
Facharbeiter, Sachbearbeiterin oder Bedienungskraft angestellt waren (vgl. zu dieser
„funktionalen“ im Unterschied zur „sektoriellen“ Betrachtungsweise Stefan Krätke und
Renate Borst 2000, S.54ff). Daran kann man den Wandel von „konkreten“ zu „abstrakten“
Produktionsfunktionen in der sogenannten Wissens- und Kommunikationsgesellschaft
erkennen. Es entsteht eine allumfassende „Dienstklasse“, die sich nach der Auffassung von
Robert. B. Reich (1996, S. 191ff) in „routinemäßige Produktionsdienste“, „kundenbezogenen
Dienste“ und „symbolanalytische Dienste“ gliedert. Auf der Strecke bleiben diejenigen, die
mit dieser neuartigen Informalisierung und Informatisierung der Arbeit nicht zurechtkommen,
weil ihre Fähigkeit, Anweisungen entgegenzunehmen und auszuführen, und ihre Bereitschaft,
Zuverlässigkeit und Loyalität zu zeigen, nichts mehr gilt. Die ganzen Rand- und
Fülltätigkeiten in der herkömmlichen Fabrikproduktion wie Magazinbetreuung,
Gebäudeaufsicht oder Fahrbereitschaft fallen weg oder werden fremdvergeben. Wer dann
nicht über eine gepflegte äußere Erscheinung und über die Fähigkeit zu unverbindlicher
Freundlichkeit und unangestrengter Höflichkeit verfügt, die einem immer noch einen Job als
Kassierer, Krankenpfleger oder Gärtner sichert, hat schnell beruflich ausgedient und wird
sozial ausgemustert.
Die vom Kapitalismus der dritten Art (Luc Boltanski und Ève Chiapello 1999) geforderte
Flexibilität auf den Arbeitsmärkten und Abstraktion des Arbeitsvermögens findet seinen
normativen Ausdruck in dem neuen Qualifikations- und Performationsideal der
„Employability“ oder „Beschäftigungsfähigkeit“ (Rosabeth Moss Kanter 1994). Darin liegt
der dritte Grund für die schärfer werdende Unterscheidung zwischen denen, die dazugehören,
und denen, die überflüssig sind. Es geht dabei im Prinzip um die Umstellung von der
„Kollektivbetrieblichkeit“ auf die „Individualbetrieblichkeit“ (Götz Briefs) der Arbeit.
Beschäftigungsfähigkeit wird als Fähigkeit des einzelnen zur Verwertung seiner eigenen
Arbeitskraft gefaßt (Susanne Blancke, Christian Roth und Josef Schmid 2000). Der einzelne
muß nicht nur für seine vielseitige Einsetzbarkeit durch lebenslanges Mitlernen im
organisatorischen und technologischen Wandel selbst sorgen, er muß darüberhinaus seine
Leistungs- und Wertschöpfungsfähigkeit im Blick auf sich wandelnde Arbeitsmärkte immer
wieder zur Darstellung bringen und im Zweifelsfall durch einen Stellenwechsel unter Beweis
stellen. Man muß also nicht nur sein Können pflegen, sondern auch das Können seines
Könnens präsentieren können. Wer bei diesem die ganze Person in Anspruch nehmenden
Selbstverwertungswettbewerb wiederum nicht mithalten kann, erweckt bald den
bemitleidenswerten Eindruck eines Zuspätkommenden oder Zurückgebliebenen.
Man kann jetzt genauer bestimmen, woraus Exklusionsgefahren erwachsen und worin sie
bestehen: Die Arbeitsmarktdynamik erzeugt eine individuelle Verwundbarkeit jenseits der
standardisierten Lebenskrisen und Existenzsrisiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit,
Behinderung und Alter. Denn im Wechsel zwischen Beschäftigung, Nichtbeschäftigung und
Wiederbeschäftigung wächst die Bedeutung „nicht-normativer Lebensereignisse“, die einem
zufälligerweise ein Fenster öffnen oder einen fatalerweise auf Grund laufen lassen. Was die
Flexibilisierung an Autonomiegewinn für den einzelnen gewährt, ist nicht ohne die
Konditionierung für Zufälle zu haben. Aber wenn man überraschende Gelegenheiten nur noch
als sinnlose Schicksalsschläge aufzufassen vermag, können daraus Dynamiken der sozialen
Degradierung und des existentiellen Rausfallens entstehen, die einen aus der Mitte über den
Rand hinaus ins Nichts führen.
Die menschlichen Kosten der Kommunikations- und Wissensgesellschaft lassen sich nicht auf
den „funktionalen Analphabetismus“ der Älteren reduzieren, denen die neuen
Informationstechnologien ein Buch mit sieben Siegeln sind. Viel schärfer können die
Anforderungen ans Verhalten in den „elastischen Spinnennetzen“ (Reiner Franzpötter und
Christian Renz 2000) der neuen Welt der Arbeit wirken. Man bekommt zwar höhere
Verantwortung übertragen, steht aber immer zur Disposition. Wer unter den Bedingungen von
flachen Hierarchien, horizontaler Kommunikation und „total quality management“ nach
eindeutigen Anweisungen verlangt, auf zertifizierte Statusansprüche pocht oder kumulative
Senioritätsrechte in Anspruch nimmt, wirkt nur als Störfaktor und wird von der
Betriebsorganisation über lang oder kurz ausgeschieden.
Schließlich zieht das Lebensführungsideal des Individualbetriebs einen Strich zwischen
denen, die aktiv sind oder sich doch aktivieren lassen, und denen, die sich von anderen
durchziehen und selbst hängen lassen. Wo die einen den Zusammenhang von Selbstkontrolle
und Kontrolle durch den Markt akzeptieren, kennen die anderen nur Fremdanklage und
Staatsversorgung. So produzieren die Autonomen und Produktiven ihre Entbehrlichen und
Überflüssigen.
3. Eine Politik des Respekts
Das Phänomen der Exklusion stellt heute die eigentliche Herausforderung für eine moralisch
treffende und politisch gebotenen Reformulierung des Problems der sozialen Gerechtigkeit
dar. Zwar hat in der Sozialphilosophie der „Why-Equality?“-Debatte schon die nötige Kritik
an einer bloßen gleichheitsmechanistischen und glücksmaximalistischen Führung des Begriffs
der Verteilungsgerechtigkeit gebracht (vgl. als Überblick und Zusammenfassung Angelika
Krebs 2000), aber die seit Avishai Margalits „Politik der Würde“ (1996) anhaltende
Diskussion über eine gleichermaßen effiziente und würdige Wohlfahrtsstaatlichkeit hat die
Sicherheit in den Phänomenen noch nicht erreicht. Hier ist der Anschluß zwischen
sozialphilosophischer Gerechtigkeitstheorie und soziologischer Exklusionsforschung noch
herzustellen.
Ein entsprechendes Problembewußtsein ist auf beiden Seiten vorhanden (siehe Michael
Walzer 1993 auf der einen und Volker H. Schmidt 2000 auf der anderen Seite). Ein
gemeinsamer Ausgangspunkt könnte sich aus einer doppelten Denkbewegung ergeben:
einerseits aus der Rückkehr zum einzelnen in seiner Menschlichkeit und andererseits aus der
Wiedergewinnung des Begriffs eines sozialpolitischen Republikanismus, der eine Vorstellung
der Vermittlung von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe besitzt.
Aus der Sicht der Exklusionsforschung ist der Blick auf den einzelnen Fall wichtig, weil nur
in der Konkretion einer Lebensgeschichte die Logik einer Entkoppelung zu erkennen ist. Die
Überflüssigen bilden eine virtuelle Klasse, die Zuläufe aus allen möglichen gesellschaftlichen
Zonen hat. Gemeinsam ist den Angehörigen dieser deterritorialisierten Population die
panische Frage, ob sie wirklich noch dazugehören oder nicht schon längst abgeschrieben sind.
Da kann auch keine soziologische Rekonstruktion Beruhigung bringen, indem sie dem
individuellen Schicksal eine typische Schablone verpaßt. Man muß sich im Gegenteil der
Negativität im einzelnen stellen, um seine gesellschaftliche Bedingtheit herauslesen zu
können. So wendet sich der Soziologe in seinem Fall dem Menschen zu, der aus speziellen
Gründen in diese singuläre Lage geraten ist. Selbst im kleinen Elend sind dann Spuren großen
sozialer Verschiebungen zu entdecken, die das Individuum trotz seiner „unaussprechlichen
Einzelheit“ zu einem Teil des Ganzen macht.
Andererseits ist aus Sicht der Gerechtigkeitstheorie der Rückgang auf den einzelnen nötig, um
so eine wichtige Unterscheidung wie die zwischen herablassendem Mitleid und
verpflichtendem Mitgefühl treffen zu können (vgl. Elizabeth S. Anderson 2000, S.142f).
Mitgefühl kommt aus dem kreatürlichen Impuls der Tröstung und entwickelt sich aus dem
Wissen um das Leiden eines anderen. Im Gegensatz dazu wird Mitleid durch den Vergleich
zwischen den Umständen des Beobachters und den Umständen des von ihm Bemitleidenden
erweckt. Im Mitgefühl öffnet man sich für die schwierige Situation eines anderen, im Mitleid
versichert man sich der traurigen Unterlegenheit des anderen. Mitgefühl fordert den anderen
heraus, indem man sich ihm unterstellt, Mitleid klassifiziert des anderen, um ihm nach den zur
Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. In diesem Sinne dient Mitleid der Kompensation von
Benachteiligungen, Mitgefühl dagegen der Aktivierung von Selbstseinkönnen.
Wenn die neuere Gerechtigkeitstheorie darlegt, daß Forderungen nach gleicher Verteilung mit
den Ansprüchen auf gleiche Anerkennung vereinbar sein müssen (etwa Axel Honneth 1992),
dann versucht sie, Vorstellungen von einem Raum sozialer Teilhabe zu entwickeln, in dem
der einzelne sich mit seinen persönlichen Wünschen und Bedürfnissen einen „generalisierten
anderen“ vor Augen führt, der ihm einen Begriff seiner selbst verleiht. In dieselbe Richtung
geht der im Blick auf das Phänomen der Exklusion entwickelte Begriff einer Politik des
Respekts. Respekt arbeitet mit der kontrafaktischen Unterstellung einer Reziprozität des
Austauschs. Wiewohl der mit dem Gefühl seiner Überflüssigkeit Kämpfende über die
entsprechenden „capabilities of functioning“ (Amartya Sen 1992) nicht verfügt, um sich den
harten Wettbewerbsbedingungen unserer Gegenwartsgesellschaft zu stellen, nimmt eine
Politik des Respekts die Adressaten einer Wohlfahrtshilfe oder eines Transfereinkommens in
der Weise ernst, daß staatliche Leistungen an individuelle Gegenleistungen gebunden werden.
Es geht um einen von der Allgemeinheit finanzierten Vorgriff auf Zukunft für die, die mit
einer Vergangenheit schlechter Ausgangsbedingungen und verpaßter Gelegenheiten hadern.
Die auf der Basis der Bedarfsgerechtigkeit gewährte Unterstützung wird an den Maßstäben
einer vorweggenommenen Leistungsgerechtigkeit gemessen, damit nicht einfach nur
Anrechte auf Verteilung gesichert sind, sondern immer auch Ansprüche auf Anerkennung
eingelöst werden können. Eine Politik des Respekts richtet sich zuerst an die Ignorierten und
Beleidigten und rechnet mit der prinzipiellen Fähigkeit aller Menschen, sich selbst
wiederaufzurichten. Sie ist in dem Sinne absolutistisch, als es ihr letztlich darauf ankommt, ob
der einzelne ein gutes Leben führen kann, und nicht, wie sein Leben im Vergleich zu dem
Leben anderer aussieht. So könnte es gelingen, den strukturell Ausgesteuerten und persönlich
Entmutigten wieder zu einem Gefühl für ihr eigenes Leben zu verhelfen, ohne ihnen eine
außengeleitete Aktivierungsethik überzustülpen, die doch nur der Selbstvergewisserung derer
dient, die nichts zu befürchten haben.
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