__________________________________________________________________________ 2 II Indikativ In Buenos Aires sind die Schriften von Sigmund Freud am Zeitungskiosk erhältlich und heute noch besitzt Kagels Geburtsstadt die weltweit höchste Dichte an Psychoanalytikern. Das muss mit dem Identitätsproblem zusammenhängen, das Argentinien von Anfang an begleitet. Die Bevölkerung Argentiniens entstammt nicht den Ureinwohnern wie in den Andenstaaten oder den Sklaventransporten wie in Brasilien, sondern setzt sich überwiegend aus europäischen Einwanderern zusammen. Die dort jedoch keine Italiener, Spanier, Deutsche, Russen oder Galizier mehr sind, sondern irgend etwas zwischen Lateinamerika und Europa, das für die Meisten der Kontinent ihrer Träume blieb. Für argentinische Komponisten bedeutet dieser Zwiespalt: Bin ich europäisch-modern, obwohl ich gar nicht so genau weiß, was das ist, oder sollte ich nicht doch lieber mich der Folklore meines Landes bedienen? An Heine anknüpfend, einer seiner Lieblingsautoren, schreibt Kagel unter dem Titel „Denk ich an Argentinien in der Nacht“, offenbar nach vielen üblen Erlebnissen: „Wenn ich das Wort Argentinien höre, denke ich nicht zuerst an Musik, sondern an die Reihe miserabler Regierungen und Diktaturen, an die Zensur, an die triste Rolle der Kirche, an den charmanten Ausverkauf der Bodenschätze, an die Kurzsichtigkeit gegenüber sozialen Notwendigkeiten, an die unendliche Kette von Fehleinschätzungen, Selbstmitleid und Verrat, die diese menschenunwürdigen Menschen vollbrachten, die sich mit hierarchisch poliertem Blech behängen und die man ‚Militär’ nennt.“ Das notiert Kagel 1967, als er bereits zehn Jahre in Deutschland lebt und Argentinien die schlimmsten Heimsuchungen noch bevorstehen. Am Ende des Textes kommt er doch auf die Musik dort: „Und diese Pfadfinder der Bildung im südlichen Kontinent, die an den Konservatorien lehren und dabei Harmonie in Harakiri, Kontrapunkt in Kindsopferung, Gesang in Kehlabschneidung verwandeln, die Rhythmik motorisieren, Arrangements aus Arrangements verkaufen, sich ein Fell über die Ohren ziehen, 3 um elektronische Musik zu deuten, die tonangebend und in Wirklichkeit Klangschlächter sind. …Und wie viel von dem allen habe ich in Europa wiedergefunden.“ Besonders einen, in Argentinien damals sehr einflussreichen Komponisten hat Kagel hier im Blick: Alberto Ginastera. Ginastera: Estancia op. 5, Scene 5 3’28” Jerusalem Symphony Orchestra, Ltg. G. Ben-Dor Naxos 8.570999 LC 5537 Das Jerusalem Symphony Orchestra spielte den Tanz „Malambo“ aus der Suite „Estancia“ von Alberto Ginastera. Die Leitung hatte Gisèle Ben-Dor Die Musik der Gegenwart in Buenos Aires wurde in Kagels Jugend von Ginastera beherrscht, doch der hatte einen Gegenspieler, seinen Erzfeind Juan Carlos Paz. Der Komponist Paz, 1901 geboren, orientierte sich an der neuesten Musik Europas und der USA. Er gründete in den Vierziger Jahren die „Agrupacion Nueva Música“, die Gruppe Neue Musik, wo mit großem Engagement die Werke von Strawinsky, Cowell, Schönberg oder Satie zur Aufführung kamen, für das konservative Buenos Aires eher idealistische als populäre Aktivitäten. Einer der Helfershelfer von Paz war der junge Kagel, der nicht nur als Pianist dabei auftrat, sondern auch Plakate klebte oder an der Kasse saß. Nur wenige Aufnahmen von Paz sind in Deutschland verfügbar, darunter die „Tres movimientos de Jazz“, drei Jazz-Sätze für Klavier. Der dritte davon trägt – was man der Musik nicht unbedingt anhört – den gar nicht so revolutionären Titel „Spaziergang im Wald“. Es spielt Thomas Günther. Paz: Tres movimientos de jazz, Nr. 3 Th. Günther SWR 35-05177 2’38“ 4 Eine andere Stütze von Paz und der „Agrupacion Nueva Música“ war Michael Gielen, der langjährige Chef der Frankfurter Oper, später des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Gielen, seit 1940 in Buenos Aires, hat zum Beispiel das gesamte Klavierwerk Schönbergs gespielt, für Argentinien eine Erstaufführung. Als Kagel 1957 nach Deutschland emigriert war, wo er sich in Köln niederließ, trafen sich beide wieder. Jahrzehnte später beginnt er eine Preisrede auf Gielen mit den Sätzen: „Von den vielen Proben, die meine Erinnerung bevölkern, ist besonders eine lebendig geblieben. Es handelt sich um eine Gesang/Klavier-Probe im April 1981 während der Einstudierung meiner Lieder-Oper ‚Aus Deutschland’. Da die Sängerin rhythmisch unsicher war, suchte Michael Gielen hastig nach einem Taktstock, um seiner Hand durch Verlängerung die ultimative Deutlichkeit zu geben. Mangels eines geeigneten Requisits nahm er das erstbeste, was in seinem Blickfeld zu finden war: einen hölzernen Kleiderbügel. Wahrscheinlich würde keiner der Musiker und Sänger, die mit Gielen gearbeitet haben, seine Strenge unerwähnt lassen. Nun war der Kleiderbügel, so bizarr es klingt, eine Überhöhung dieser Strenge, weil das Schlagen des Taktes mit einem Gegenstand, der wie schielende Augen in eine ungewisse Richtung zeigte, die Kraft der Gebärde aufs Äußerste bündelte und so die latente Ungeduld des Dirigenten unterstrich.“ Welches Stück könnte nun den Kapellmeister Gielen repräsentieren? Denkwürdige Aufnahmen von Mahler oder Haydn hat er geschaffen oder Werke, die als unspielbar galten, mit Bravour uraufgeführt, etwa Ligetis „Requiem“ oder Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ und so vieles andere mehr. Meine erste Assoziation zu Gielen bleibt freilich seine „Eroica“ mit dem Cincinnati Orchestra. Auf einer nächtlichen Autofahrt damit zum ersten Mal konfrontiert, war ich sofort hin und weg und musste einen Parkplatz ansteuern. Solche Wirkung sollte sich doch auch vormittags im Wohnzimmer wiederholen lassen. 5 Beethoven: III. Sinfonie, Scherzo 5’22“ Cincinnati Orchestra, Ltg. M. Gielen MCD 10032 LC 7178 Gielen hat manche Werke Kagels uraufgeführt, das spektakulärste davon “Aus Deutschland – Eine Lieder-Oper.” Der Untertitel klingt zunächst paradox, denn im Lied wird mit Worten etwas erzählt und im Musiktheater mit Taten etwas gezeigt, doch das geht auf den erwähnten Übergang vom Madrigal zur Oper bei Monteverdi zurück. Oder auf Liszts Wort über die Lieder Schuberts, die er „Miniatur-Opern“ nannte. Kagel montiert in „Aus Deutschland“ Textausschnitte von rund sechs Dutzend romantischer Lieder und er bringt die Figuren, Metaphern, Allegorien der Texte konkret auf die Bühne. Die Hunde der „Winterreise“ sind notdürftig verkleidete Sänger oder der Tod – aus „Der Tod und das Mädchen“ – ist ein überdimensionales Skelett mit Riesen-Sense. Viele Solisten und Chor gehören zur Besetzung, doch kein Orchester. Als Reverenz vor dem Klavierlied hat „Aus Deutschland“ die Gestalt einer Klavier-Hauptprobe; im Orchestergraben stehen lediglich einige Tasteninstrumente. Neben Schubert selbst tritt auch Goethe auf. Ein Bild stellt Tischbeins bekanntes Gemälde „Goethe in Campagna“ nach, wo dieser mit wallendem Mantel und breitem Krempenhut auf einer Bank lagert. Zusätzlich drückt Kagel ihm ein Spinnrad in die Hand, denn der Text beruht hier auf dem Schubert-Lied „Gretchen am Spinnrad“ nach Worten aus dem „Faust“. Schon als Kind, wie er sagt, habe Kagel sich gewundert, was mit einem Mann geschieht, der ein Frauenlied singt, etwa mit den Worten „mein Busen drängt sich zu ihm hin.“ Und wenn Kagel schon dabei ist, das lyrische Ich zu analysieren, ändert er nicht nur Goethes Geschlecht, sondern auch seine Rasse. Während des Auftritts schminkt sich Goethe schwarz und der Text wird englisch. Ein falsches Englisch freilich, denn die Übersetzung ist allzu wörtlich. Das mag vordergründig ein Hinweis auf Goethes Amerika-Bewunderung sein oder auf den Blues der Schwarzen, der gleichzeitig mit dem romantischen Lied entstand. Vielleicht ist aber 6 ebenfalls daran zu denken, wie jeder im Gehäuse seines Geschlechts oder seiner Rasse gefangen ist und keiner den anderen richtig verstehen kann. Oder es ist „Die Verwandlung“ von Kafka. Kagel: Aus Deutschland, 6. Bild 3’23“ W. Grönroos, A. Kontarsky, Klavier, Ltg. M. Gielen RCA 74322 LC 00316 Im 6. Bild von Kagels Lieder-Oper „Aus Deutschland“ hörten wir den Bariton Walton Grönroos und Aloys Kontarsky, Klavier. Die Leitung hatte Michael Gielen. Eine Oper im konventionellen Sinn hat Kagel nie geschrieben. Erst recht keine Literaturoper, denn als glühender Literatur-Verehrer schreckte er vor der Zerstörung einer dichterischen Vorlage zurück, die eine Vertonung zwangsläufig zur Folge hat; allein der Gesang macht vieles unverständlich. Dabei hat Kagel die Oper von innen kennen gelernt wie kein anderer Komponist seiner Generation. In Buenos Aires steht mit dreitausend Plätzen das größte Opernhaus Lateinamerikas, wenn auch die Verhältnisse zuerst recht lax waren. Im Publikum herrschte ein reges Kommen und Gehen oder die „Meistersinger“ wurden regelmäßig um zwei Stunden gekürzt. Bis ein in Wien geborener Preuße kam, Erich Kleiber. Er hatte als Chef der Berliner Linden-Oper Bergs „Wozzeck“ und vieles andere mit größtem Erfolg uraufgeführt; er hat woanders einmal drei Proben beim „Rosenkavalier“ gefordert und als man ihm entgegen hielt, das Orchester spiele seinen Strauss im Schlaf, erwidert: „In diesem Fall muss ich auf sechs Proben bestehen“; er hat Göring die Stirn geboten und ist daraufhin emigriert, und als dieser ihm telegrafierte: „Kommen Sie zurück, wir zahlen jede Summe auf ein Schweizer Konto“ lautete Kleibers Antwort: „Ja, ich komme, wenn ich ein reines Mendelssohn-Programm dirigieren kann.“ Einerseits war Kleiber ein Tyrann und forderte von jedem Orchester Höchstleistungen und absolute Präzision, andererseits wusste er ein 7 erträgliches Betriebsklima zu schaffen. Für seine Proben mit dem Orchester des Teatro Colón besorgte er sich ein Buch mit Redewendungen der Gauchos. „Agarrate, Catalina, que vamos galopier“, rief er bei einem Presto den Musikern zu, „haltet euch fest, wir galoppieren“. Kagel hatte als Jugendlicher bereits viele Konzerte mit Kleiber erlebt: „Seine Haltung war eine einzige Botschaft: Hier stehen wir, um der Komposition gerecht zu werden. Man verließ jede Aufführung mit einem Glücksgefühl ohnegleichen; nicht der Dirigent X wurde gehört, sondern das Werk Z vom Komponisten Y.“ Unter dem Kapellmeister Kleiber hat Kagel am Teatro Colón später als Korrepetitor gearbeitet und unendlich viel dabei gelernt. Kleibers Devise „Routine und Improvisation sind die Todfeinde der Kunst“, nach seinem Tod am Colón befestigt, wurde auch die von Kagel. Diskografisch ist Kleibers Wirken in Buenos Aires allerdings kaum dokumentiert. Immerhin gibt es einen Live-Mitschnitt von „Tristan“ aus dem Jahr 1948, dessen Klangqualität man freilich nicht anhört, dass die CDs den Autor 31 Euro gekostet haben. Kirsten Flagstad, die Isolde jener Zeit schlechthin, hat an der Generalprobe nicht teilgenommen, um ihre Stimme für die Premiere zu schonen. Daraufhin übernahm Kleiber ihre Partie und sang völlig fehlerfrei vom ersten bis zum letzten Takt die Isolde während des Dirigierens. Dabei konnte er gar nicht singen, wie Kagel erzählt: „Er sang wie ein Fisch in Agonie. Man musste ernst bleiben, dann schnell zum Lachen auf die Toilette, um wieder seriös weiterzumachen. Aber sein Singen war existenziell.“ Hier hören wir Kirsten Flagstad in der Premiere. Wagner: Tristan und Isolde, Liebestod Schluss (Beifall!) CD 3 Tr. 16 K. Flagstad, Orchestra del Teatro Colón di Buenos Aires, Ltg. E. Kleiber Myto 993.H031 Ohne LC 7’05“ 8 Das war der Schluss von Wagners “Tristan und Isolde“, mit Kirsten Flagstad und dem Orchestra del Teatro Colón di Buenos Aires. Am Pult stand Erich Kleiber. Sein Leben lang hat Kagel eigene Werke dirigiert, aber er hat nie den Beruf des Komponisten mit dem des Dirigenten vertauscht wie etwa Pierre Boulez; erst recht nicht ist er Opernintendant geworden, wie es unter anderem die Pariser Oper einmal wünschte; Kagel hatte immer zu viel zu schreiben. Dirigieren hat er bei einem Emigranten aus Chemnitz gelernt, der ein Schüler von Robert Heger war und der Kagel die Leitung von LiebhaberChören in Buenos Aires und Umgebung vermittelte. Als Michael Gielen, ebenfalls Korrepetitor unter Kleiber, bereits zurück in Europa war, wurde Kagel am Teatro Colón Probendirigent. Dort war die Saison eingeteilt in das italienische Repertoire, das französische und das deutsche, mit Dirigenten aus den entsprechenden Ländern und gesungen stets in der Originalsprache. Zumindest von den Solisten, der Chor sang hartnäckig auf Spanisch. Für deutsche Opern war neben Kleiber vor allem Fritz Busch zuständig, nach dem Krieg auch Furtwängler oder Karajan. Der Probendirigent Kagel war Repertoire-Mädchen für alles. Hindemiths „Neues vom Tage“ half er vorzubereiten, Benjamin Brittens „Let’s make an Opera“ oder das Ballett „La Création du Monde“, die Erschaffung der Welt von Darius Milhaud. Hier die Ouvertüre, mit dem Orchestre de l’Opéra de Lyon unter Kent Nagano. Milhaud: La Création du Monde, Ouvertüre 4’02“ Orchestre de l’Opéra de Lyon, Ltg. K. Nagano Erato 3984-21347 LC 0200 Kagels Elternhaus gegenüber befand sich ein Filmstudio, wo die Kids sich hineinschlichen, um bei den Dreharbeiten zuzuschauen. Später hat er dort sein Taschengeld als Statist aufgebessert, einmal in einem Film mit Evita Duarte in der Hauptrolle, die nach der Arbeit von einem Straßenkreuzer abgeholt wurde, in dem ein ordengeschmückter Uniformierter saß, 9 das war Perón. Schon in Buenos Aires hat Kagel mit dem Filmen begonnen, etwa mit einem Streifen, der Nahrung suchende Menschen auf Müllhalden zeigte und sofort von der Zensur einkassiert wurde. In Europa hat er ganz professionell zwei Dutzend eigene Kompositionen verfilmt, während andere Pläne unrealisiert blieben, beispielsweise die Vertonung eines Fußballspiels. Filmmusik hat Kagel allerdings nie geschrieben, mit einer Ausnahme. Für das Schweizer Fernsehen vertonte er „Le chien andalou“ von Luis Bunuel und Salvador Dali. Das ist der berühmte surrealistische Stummfilm, wo keine Einstellung einen logischen Zusammenhang zur vorangehenden haben durfte und wo Bunuel am Anfang das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser zerschneidet. Beim Betrachten immer wieder ein Schock, selbst wenn man weiß, dass es beim Dreh das Auge einer toten Kuh war. Kagel nimmt für die Vertonung ein vornehmes Streichorchester und knüpft im Übrigen an den geschichtlichen Gegebenheiten an. Bei der Uraufführung 1928 in Paris hatte Bunuel Schallplatten aufgelegt, abwechselnd Tangos und „Tristan“. Bleibt der Titel des Films, ein andalusischer Hund. Man hat lange gerätselt, was er bedeutet, denn zwar treten dort Ameisen auf oder Rinderkadaver, aber nirgendwo ein Hund. Bis jemand entdeckte: Es ist der Name einer Studentenkneipe in Madrid, die Bunuel, Dali und Garcia Lorca zu besuchen pflegten. Wenn in „Szenario“, so heißt Kagels Stück, aus der Musik sich - anfangs kaum bemerkbar - das Tristan-Leitmotiv der Liebessehnsucht herausschält und ein Hund in die nachfolgende Generalpause hineinjault, dann ist das gewiss ebenfalls surreal. Oder man kann daran denken, dass mit einem einzigen Hundelaut die Musikgeschichte möglicherweise ganz anders verlaufen wäre. Wagner auf der Flucht vor seinen Gläubigern von Riga nach London. In Begleitung von Ehefrau Minna und des Neufundländers namens Robber, der beim nächtlichen Übertritt der scharf bewachten russisch-preußischen Grenze zum Glück stumm blieb und Wagner eine längere Kerkerhaft ersparte. Besitzer von nicht-kastrierten Rüden freilich müssen sich gar nichts dabei denken. Ihnen ist die Verbindung von Liebessehnsucht und Hundejaulen wohl vertraut. 10 Kagel: Szenario RSO Saarbrücken, Ltg. M. Kagel MAS 372/3 Kein LC 12’07“