382 2 0 . J A H R H U N D E R T E X P E R I M E N T E L L E S M U S I K T H E AT E R 383 EXPERIMENTELLES MUSIKTHEATER »Der Komponist, der von sich behauptet, auf Sirius zu Gast gewesen zu sein, entwickelte eine Art mystischer Privatreligion, die sein kompositorisches Schaffen (…) mitbestimmte. Thematisch greifen die sieben Tage aus Licht, so Stockhausen selbst, kosmische Prozesse auf (…). Jedem Tag der Woche ist in Licht eine bestimmte Farbe zugeordnet. Der Komponist selbst kleidet sich nur noch in dieser Tagesfarbe, montags grün, dienstags rot, mittwochs gelb. Doch sind nur wenige Opernhäuser bereit, Teile aus Licht aufzuführen, viele distanzieren sich ausdrücklich von diesem Projekt (…). Ähnlich wie im Falle Wagners schwebt ihm vor, für die Aufführung der sieben Tage von Licht sieben Gebäude errichten zu lassen. Die Interpreten sollen dann ganzjährig dort wohnen und proben können. Zwei Monate im Jahr sollen jeweils einige Teile aus Licht aufgeführt werden, alle sieben Jahre die sieben Teile gleichzeitig. Stockhausen hat inzwischen sein Leben konsequent auf die Vollendung seines Mammutwerkes ausgerichtet. Schwierige Verhandlungen führt er nur donnerstags, weil ihm da die direkte Hilfe seines Meisters MICHAEL sicher scheint.« OPER? Sprengte bereits Bernd Alois Zimmermann mit seinen Soldaten 1965 alle hergebrachten Dimensionen, so stellten der Amerikaner John Cage und der Italiener Sylvano Bussotti aus unterschiedlichem Blickwinkel die Gattung Oper in Frage. Cage, einer der Impulsgeber und Antitraditionalisten nach 1945, näherte sich der Bühne über Happening und Collage. So hat auch seine Water Music (1952) kaum etwas mit Musiktheater zu tun, auch wenn sie am besten als ›musikalisches Theater‹ bezeichnet wird, geschrieben für einen Pianisten und ein unkonventionelles ›Orchester‹ ohne klassische Instrumente. Zufälligkeiten des Ablaufs und klangliche Verfremdungen in Form eines präparierten Klaviers bestimmen das Geschehen dieser experimentellen Aktionsmusik, der szenischen Komposition. Bussotti »betreibt seine Reflexion über das Genre Oper, indem er getrennte Ausdrucksbereiche zum ›Bussottioperaballett‹ zusammenführt« (Wolfgang Gratzer), mit welchem Kunstbegriff der Komponist seine Werke für das Theater seit Nottetempo (1976) zu bezeichnen pflegte. Seine Passion nach Sade (1965) ist eine Collage der Bühne, der Musik und der Sprache; sein »melodramma romantico danzato« Lorenzaccio (1972) »zwingt extrem heterogene Elemente zu einer sehr persönlichen Form von Gesamtkunstwerk« (Jürgen Maehder), in textlicher Collagetechnik und mit zeitlich gegeneinander verschobenen Musikebenen. HANDLUNG? Der in Deutschland wirkende Argentinier Mauricio Kagel setzt sich in seinen Stücken für das Musiktheater mit den Mitteln der Groteske und der Satire auseinander. Musikmachen und Theatermachen sind bei ihm zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen: Instrumentalspiel wird zum Bühnengeschehen, Ton- und Klangerzeugung wird zur geplanten und zufälligen, oft die Grenzen des Klamauks streifenden, oft bewusst absurden Aktion, angesiedelt gleichsam zwischen Bühne und Konzert, Musik, Sprache und Bild. Exemplarisch hierfür steht die Hamburger Uraufführung von Staatstheater (1971), das ohne herkömmliche Handlung auskommt und den Opernbetrieb auf kunstvoll durchorganisierte Weise persifliert. Die »Lieder-Oper« Aus Deutschland (1981) entstand »als Reaktion auf die deutsche Romantik«, das Libretto besteht aus bereits vertonten und dem Publikum durch Liederabende geläufigen Dichtungen; auf der Bühne stehen u. a. Wilhelm Müllers Leiermann (aus Schuberts Winterreise) und Heines beiden Grenadiere. Die Musik, so der Komponist, »klingt nach Kagel, erinnert jedoch an Schubert«. AUSBLICK. Wiederum einen anderen Akzent setzten die Vertreter der Minimal Music, unter ihnen der Amerika- ner Philip (Phil) Glass. Hier werden die Prinzipien dieser Musikrichtung – »Flächenbildung mit kleinsten Veränderungen und gelegentlichen Phasenverschiebungen in einander verflochtener, meist kurzer ostinater Figuren« (Siegfried Mauser) – gleichzeitig und ohne Bezug zum Bühnengeschehen eingesetzt; oft fehlen Handlung und verständlicher Text. Glass’ Einstein on the Beach (1975) wurde dennoch zu einer der häufigst gespielten neuen Opern; es folgten u. a. die Gandhi-Oper Satyagraha (1980), Echnaton (1984), die Kammeroper Der Fall des Hauses Usher nach Edgar Allan Poe sowie Les enfants terribles (1996). Die Rumänin Adriana Hölzsky nähert sich dem theatralischen Element nicht auf humorvolle, sondern auf ernsthaft reflektierende Weise; ähnlich wie bei Kagel enthält auch ihre Musik immer Elemente des Musiktheaters selbst. Ausdrücklich für die Bühne bestimmt war erstmals die Bremer Freiheit von 1988, ein Auftragswerk Hans Werner Henzes für seine Münchner Bienale, von Hölzsky als »Reise durch die Klanglandschaft« bezeichnet. Prägen ihre instrumentalen Kompositionen häufig und auffällig räumliche Aspekte, so übernahm sie diesen Ansatz für Die Wände nach Jean Genet (1995), wo Sänger und Musiker über Bühne, Zuschauerraum und Orchestergraben verteilt sind. Hier wie in manchen anderen ihrer Werke steht ein in bis zu 36 Stimmen aufgefächerter Chor im Mittelpunkt. Wie Hölzsky lebt und lehrt ihre rumänische Landsmännin Violeta Dinescu in Deutschland. In ihrem Komponieren steht sie den tradierten Formen des Singens und Spielens auf einer Bühne näher, ohne ansatzweise epigonal anzumuten. Mit ihrer Oper Der 35. Mai nach Kästner zeigt sie pädagogisches Gespür bei der Heranführung Jugendlicher an das Musiktheater. Mauricio Kagel, Aus Deutschland. Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme: Herbert Wernicke, Theater Basel 1997. Die erfolgreiche Koproduktion mit dem Holland Festival, den Wiener Festwochen und Musica Straßburg bewies die schönen Eigenheiten des argentinischen Blicks auf die deutsch-nationale Romantik. STOCKHAUSEN. »LICHT« Als Meister des Spirituellen und Metaphysischen hat sich Karlheinz Stockhausen selbst zum Propheten eigener Klangwelten stilisiert. Sein Opus summum Licht ist als siebenteiliger Zyklus für sieben Tage konzipiert; hiervon sind seit 1977 vier Tagewerke vollendet, der Abschluss der Arbeiten ist für 2002 vorgesehen. Die bisher vollendeten Teile des Zyklus wurden in Mailand und in Leipzig uraufgeführt. Bleibt noch der Hinweis, dass Stockhausen – wie Marcel Reich-Ranicki zu berichten weiß – nahe liegenden Vermutungen zum Trotz von Wagner rein gar nichts hält … 20. Jahrhundert 20. Jahrhundert MARTIN Demmler weist in Komponisten des 20. Jahrhunderts (1999) auf die Besonderheiten von Licht und seines Schöpfers Karlheinz Stockhausen hin.