Ferruccio Busoni "Also, gestern abend in Frieds Konzert gewesen. Busonis Kompositionen hatten mir bis jetzt nicht gefallen. Aber gestern gefiel mir 'Berceuse'. Direkt ergreifendes Stück. Wirklich empfunden. Dem habe ich sehr unrecht getan. Wieder einem!" Am Tag nach dem Busoni-Abend, den Oscar Fried, der Dirigent der Berliner Gesellschaft der Musikfreunde, am 19. Januar 1912 veranstaltet hatte, begann der für zwei Jahre hier weilende Arnold Schönberg mit diesen Worten sein 'Berliner Tagebuch'. Die lapidar festgehaltene Bewunderung galt einem Werk, dessen Anlaß das "erschütterndste Ereignis" (Busoni 1920) im Leben seines Komponisten darstellte: der Tod seiner Mutter Anna Busoni, geb. Weiss, im Oktober 1909. Busonis Hommage, die den Untertitel "Des Mannes Wiegenlied am Sarge seiner Mutter" trägt, geht zurück auf eine Anfang des Jahres 1909 komponierte Berceuse für Klavier, die er nun überarbeitete und beträchtlich erweiterte. Der so entstandenen Berceuse élégiaque, einer "Orchesterpoesie für sechsfaches Streichquartett mit Sordinen, drei Flöten, eine Oboe, drei Clarinetten, vier Hörner, Gong, Harfe und Celesta", stellte er ein eigenes Gedicht als Motto voran: Schwingt die Wiege des Kindes, Schwankt die Waage seines Schicksals, Schwindet der Weg des Lebens, Schwindet hin in die ewigen Fernen. Nicht genug, daß der Komponist Busoni, der vor allem auch als Klaviervirtuose geschätzt wurde, hier selber dichtete - 1912 schrieb er schließlich noch eine "Selbst-Rezension", in der er bekannte: "Bei diesem Stücke ... gelang es mir zum ersten Male, einen eigenen Klang zu treffen, und die Form in Empfindung aufzulösen." Die ätherische Zartheit des unablässig schaukelnden und kreisenden Untergrunds, die verhaltene, selbstgenügsame Kleinterz- und Halbtonmotivik, der kaum Steigerungen eingeschrieben sind sowie die polytonalen Kühnheiten machten diese "Sinfonie der Seufzer" (H. Leichtentritt), aller flüchtigen Leichtigkeit zum Trotz, für Interpreten und Hörer zu einem schweren Brocken. Als Oscar Fried das Werk 1910 erstmals mit den Berliner Philharmonikern probte, wußten weder Dirigent noch Orchester so recht, wie mit dem "seltsamen Stück" umzugehen sei. Uraufgeführt wurde es denn auch erst am 21. Februar 1911 in der New Yorker Carnegie Hall; die New Yorker Philharmoniker leitete Gustav Mahler - es sollte das letzte Dirigat des im Mai desselben Jahres verstorbenen Komponisten sein. Der bei der Uraufführung anwesende und vom Publikum gefeierte Busoni hegte nach dem Konzert einige Hoffnung für sein Werk: "... fast glaube ich noch immer, daß es eine Art Popularität erreichen wird." Popularität breiterer Art aber ist dem enigmatischen Stück bislang leider nicht beschieden gewesen. Auch die Bearbeitung für Kammerensemble, die der Schönberg-Schüler Erwin Stein im Rahmen der "Musikalischen Privataufführungen" um 1920 angefertigt hat (lange Zeit wurde diese Fassung Schönberg selber zugeschrieben), konnte daran wenig ändern. Doch auch Steins Bearbeitung noch macht eindrucksvoll deutlich, daß man die Berceuse élégiaque wohl zu den Manifestationen dessen zu zählen hat, was Busoni "aus dem Unendlichen, das den Menschen umgibt, zu schöpfen und gestaltet zurückzugeben" gewußt hat und in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/16) schwärmerisch als Ideal einer neuen Musik skizziert hatte: "... lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben ... lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen". Maurice Ravel Von solchen Regenbogen ließ auch Maurice Ravel sich weit forttragen: Die Scheherazade-Musik, der Boléro und zahlreiche Volksliedbearbeitungen zeugen von seiner Vorliebe für fremde Klangwelten. 1925 bekam Ravel von der berühmten Mäzenin Elizabeth Sprague-Coolidge den Auftrag, einen Liederzyklus für die Besetzung Singstimme, Flöte, Cello und Klavier zu schreiben, wobei sie ihm die Textauswahl überließ. Seine Wahl fiel auf drei Gedichte aus der 1787 erschienenen Sammlung Chansons madécasses von Évariste Parny, einem Dichter des 18. Jahrhunderts, der in den Tropen lebte und mit seinen Sujets Ravels Intentionen in mehrfacher Hinsicht entgegenkam: "Die Chansons madécasses scheinen mir ein neues, dramatisches, ja sogar erotisches Element zu bringen, das durch den Gegenstand der Gedichte von Parny dort eingeführt wird. Es ist eine Art von Quartett, in dem die Singstimme die Rolle des Hauptinstruments spielt. Die Einfachheit herrscht vor, die Unabhängigkeit der Stimmen..." Diese scheinbar natürliche, in der Tat aber außerordentlich kunstvolle Schlichtheit ist formal den Vorgaben der Auftraggeberin geschuldet. Doch im engeren Sinne verdankt sie sich Ravels grundsätzlicher Hinwendung zu einem "stile dépouillé", einer auf das Wesentlichste reduzierten Kompositionstechnik, die hier sogar die Singstimme zu einem Instrument "entkleidet". Die drei außergewöhnlichen Gedichte taten ein übriges, um zu Unerhörtem anzuregen - und so wurde das Triptychon zu einem der "avanciertesten" Werke Ravels. In ihrer pointierten Kargheit, die sich an Bitonalem, Kontrapunktik und Dissonanzen nicht gut genug tun kann, bergen die Gesänge von Liebeswonne, Postkolonialismus und Abendruhe Ausdruckswelten "N"euer Musik, die der seinerzeit von Schönbergs Pierrot lunaire hoch beeindruckte Ravel erst Mitte der 20er Jahre für sich erschloß - insbesondere in diesen Liedern eines Pierrot madécasse. Leos Janácek 1925, im selben Jahr wie Ravel, schrieb auch Leos Janá…ek ein Werk, das zu den "modernsten" seines Schaffens gehört: das Concertino für Klavier, zwei Violinen, Viola, Klarinette, Horn und Fagott. Janá…ek selber hat es einmal einen "kleinen musikalischen Scherz" genannt, doch war er sich seiner besonderen Güte wohl bewußt. In vielfältig wechselnden Besetzungen und bei deutlichem Primat des Klaviers - ein "Klavierkonzert" gewissermaßen, gewidmet dem Pianisten Jan He man -, hat er in diesem ursprünglich "Frühling" betitelten Zyklus auf hochoriginelle Weise moderne Kompositionstechnik, Jugenderinnerungen und Naturidylle verbunden. "Das Concertino hat in seinem Formverlauf etwas Naturwüchsiges, steckt außerdem voller Naturhaftem Echowirkungen, Rufe und Ähnliches -, so daß es strukturell wie 'in der Natur' klingt", urteilte Dieter Schnebel; solche Gedanken legen bereits Janá…eks eigene Anmerkungen zum Concertino nahe, die hier zitiert seien - freilich nicht, damit ihnen akribisch nachgespürt werden müßte. 1. Satz: Im Frühling war es, da versperrten wir einmal dem Igel den Zugang zu seinem Bau in der Linde. Weich gepolstert hatte er sein Nest in dem alten Baum. Wie zornig er war! Konnte sich gar nicht fassen; deshalb beharrt auch mein Waldhorn auf seinem verdrießlichen Motiv [...] Hätte sich unser Igel auf die Hinterbeine stellen und ein Klagelied anstimmen sollen? Kaum steckte er die Schnauze vor, mußte er sie wieder einziehen. 2. Satz: Geschwätzig war das Eichhörnchen, solange es in den Wipfeln von Baum zu Baum sprang. Dann knurrte es im Käfig wie meine Klarinette, drehte sich aber und tanzte den Kindern zum Spaß. 3. Satz: Anmaßend stierten die weit aufgerissenen Augen des Käuzchens, der Eule und des übrigen kritischen Nachtvölkchens in die Saiten des Klaviers. Im 4. Satz scheint alles um einen Groschen zu zanken wie im Märchen. Und das Klavier? Jemand muß doch alles ordnen... Mauricio Kagel An's Ende dieses Konzerts hat Mauricio Kagel ein Werk gesetzt, das sich im umfassenden Sinne mit "Enden" überhaupt beschäftigt: Finale mit Kammerensemble. Die Frage, wie auf prägnante oder schlüssige Weise aufzuhören sei, beschäftigte nicht nur den apokalyptischen Johannes, sondern vor allem auch zahllose Komponisten, die mit der Tonalität auch die Kadenz, mithin einen der griffigsten finalen Markierungspunkte, suspendierten. Mauricio Kagel hat hierzu 1980/81 im Auftrag des WDR Köln eine Art "letztes Wort" gesagt, das zugleich ein ironisches Präsent zu seinem eigenen 50. Geburtstag ist. Kaum vorstellbar, daß es plastischere Wege gibt, ein Ende zu inszenieren, oder, wie es im Vorwort der Partitur heißt, "die Bedeutung des Begriffes 'Finale' über das rein Musikalische hinaus zu steigern". Das komplexe Stück, aus kurzlebigen, versinkenden und versackenden Motiv- und Klanggruppen sowie verklärten Intermezzi von geheimnisvollem Zauber erwachsend, ist in seinem Subtext der Schwanengesang und die Begräbnismusik seines Dirigenten. Das entgrenzende und für Kagel charakteristische Ineinander von Musik und Theater ist auch hier ein zentrales Moment der Komposition. End- und Todes-Allusionen durchziehen das Werk (Pausen, chromatischer Quartgang, rhythmische Formeln, Kadenzgestus, Schlagwerk; ein zentrales Dies-Irae-Zitat beschwört Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung herauf), bis die vegetative Außenseite der Musik ihr menschliches Opfer fordert - oder war sie, umgekehrt, seit Anbeginn der Bote von dessen Verfall? Entwarnung. Es ist alles nur ein Endspiel, und allenfalls die zweite der vorgesehenen Schlußvarianten würde diesbezüglich einige Probleme bereiten: 1. Der Dirigent steht nach Beendigung des Stückes, trotz wiederholter Aufforderung der Musiker, nicht auf. Erst nachdem das Publikum den Saal verlassen hat ... 2. Denkbar extremste Fortsetzung: der Dirigent ist tatsächlich verschieden. Woher - Wohin? Für den Dirigenten stellt sich diese Frage sicher dringlicher als für die Musikgeschichte. Kagels Verhältnis zu letzterer indes ist von einer Art diskursivem Imperativ geprägt: "Es ist unmöglich zu komponieren, ohne Zusammenhänge herzustellen. Eigentlich ist Komponieren zugleich ein Programm entwerfen, in dem man sich für eine bestimmte Musik entscheidet und andere augenblicklich ablehnt. Es gibt keine Alternative zu der fortwährenden Auseinandersetzung mit dem, was war." Am morgigen Sonntag, den 10. Januar 1999 um 11.00 Uhr, wird Mauricio Kagel einen Vortrag mit dem Titel "Über das Ende von Musikstücken" halten. Sie sind herzlich in den Studiosaal der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" eingeladen. © Horst A. Scholz