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IV
Indikativ
Die Musikgeschichte besteht für Mauricio Kagel aus „unsichtbaren Querverbindungen und
unhörbaren Zusammenhängen“. Wie er oft in seinen Kompositionen eigentlich
Unvereinbares miteinander kombiniert, so entdeckt Kagel etwa Expressionismus im Barock
oder bringt weit auseinander liegende Namen der Vergangenheit zusammen. Schönberg
hatte bereits erkannt, dass Brahms nicht altmodisch zurück geblieben sei, wie Wagner
höhnte, sondern ein Fortschrittlicher war. In gleichem Sinn hat Adorno Gustav Mahler
interpretiert. Doch wo steht Bruckner? Der Regisseur Kagel stellt fest: Bruckners Formen
sind filmisch und der Komponist Kagel ergänzt: Hier beginnt bereits der Neoklassizismus
Strawinskys. „Bei Bruckner sind harte Schnitte gang und gäbe. Man hört einen Teil, der sich
langsam entwickelt, doch plötzlich geht es in eine ganz andere Richtung. Er verliert keine
Zeit mit Übergängen, kaschiert nicht. Bis hierher Moll, dann ohne Vorwarnung Dur; eine
tonale Rückung, keineswegs eine Modulation. Das ist wie ein Ersatz für den Mangel an
Überleitungen und als Formdenken völlig neu, geradezu sehr modern. Ähnliches findet man
später als Prinzip im musikalischen Neoklassizismus. Früher habe ich Bruckner sicher nicht
so gehört, erst die lange Erfahrung als Komponist hat mir Ohren und Verstand geöffnet.“
Bruckner: II. Sinfonie, Scherzo
7’33“
Kölner RSO, Ltg. G. Wand
GD 60081 LC 0316
Geleitet von Günter Wand spielte das Kölner Rundfunksinfonieorchester das Scherzo aus
Bruckners II. Sinfonie.
Adorno hatte aus Schönberg einen Heiligen gemacht und aus Strawinsky einen Teufel, was
für den undogmatischen Kagel völlig indiskutabel war. Befragt nach dem wichtigsten
Komponisten des 20. Jahrhunderts pflegte er zu sagen „Schönsky“. Ohne zu zögern kam
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Kagel daher der Aufforderung nach, etwas zur Feier von Strawinskys 100. Geburtstag
beizutragen, die auf der venezianischen Friedhofsinsel San Michele stattfand, wo dieser
begraben liegt. Zum besseren Verständnis der Kagelschen Rede ein biografisches Detail.
Bis ins hohe Alter war Strawinsky edlem Wein und starkem Schnaps sehr zugetan, vulgo: er
hat gesoffen. Das kann man selbstverständlich viel höflicher ausdrücken: „Liebe Freunde,
liebe Unbekannte, die Nachricht der Beisetzung Strawinskys ließ mich seinerzeit erwägen,
ob in diesem, seinem Wunsch nicht auch ein Hauch von Ironie des Meisters begraben war.
Er liebte so sehr das Feuchte, insbesondere das von Glas Umhüllte, dass es ihm eine ewige
Freude sein musste, in dieser einzigartigen Stadt, wo man ständig Feuchtigkeit spürt, seine
letzte Ruhestätte zu finden. Und trotzdem: welche Zweideutigkeit! Er, der geistig-leibliche
Grandseigneur, nur mit der allerbesten Bewirtung zufriedenzustellen, fand gerade in der
Objektivität des trockenen espressivos jene Dimension, die es ihm ermöglichte, sich tief nach
innen zu begeben.“ Als Textgrundlage seines musikalischen Beitrags benutzt Kagel die Arie
des „Fürst Igor“ aus Borodins Oper, bei der manche Zeile plötzlich auch auf den alten, aus
seiner russischen Heimat vertriebenen Strawinsky passt: „Umsonst nach Ruhe sucht mein
gramerfülltes Herz, die müden Augen finden keinen Schlummer“ – „Ich sitze machtlos hier,
gefangen schon seit Tagen, und weiß: In Russland tobt der Feind.“ - “Klar sehe ich den Trug
des Ruhms“ (fast wörtlich ein Strawinsky-Zitat). Kagels Komposition heißt „Fürst Igor,
Strawinsky“. Da dessen Vater Bassist an der Petersburger Oper war, der Vorgänger von
Schaljapin, ist es ein Stück für Bassstimme und kleines Ensemble. Im Original singt der Fürst
in Baritonlage.
Borodin: Fürst Igor, 2. Akt
7’47“
M. Kit, Kirow Orchester, Ltg. V. Gergiev
Phil 442537 LC 0305
Das war die Arie des Fürst Igor aus dem zweiten Akt der gleichnamigen Oper von Alexander
Borodin. Mit dem Solisten Mikhail Kit und dem Kirow Orchester, geleitet von Valery Gergiev.
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Eine Reihe der Werke Kagels handeln von Meistern der Vergangenheit. Sie sind eine
Hommage und Verbeugung vor ihrer Kunst und zugleich der Ausdruck von Kagels
Überzeugung, dass er nur Komponist sein könne, weil es eben diese Geschichte gegeben
hat; er war das Gegenteil eines Bilderstürmers. Zuweilen entsteht aus der Referenz auf tote
Kollegen ein Selbstporträt. Etwa in „Interview avec D., pour Monsieur Croche et Orchestre“,
wo Kagel Texte und Interviews von Claude Debussy collagiert, die zugleich seine eigene
Haltung beschreiben sollen. Etwa: „Ich stürze nichts um, ich zerstöre nichts. Ich gehe ruhig
meines Weges, ohne für meine Ideen die geringste Propaganda zu machen“. Und „Ich
verabscheue alle Doktrin.“ Oder am Schluss: „Wenn ich wirklich eines Tages keinen Streit
mehr provozieren sollte, werde ich mir bittere Vorwürfe machen. In meinen letzten Werken
wird notwendigerweise die abscheuliche Heuchelei dominieren, die es mir dann erlaubt,
jedermann zufrieden zu stellen.“ Worte Debussys, mit denen sich Kagel identifiziert, den die
Musikkritik in Deutschland des Öfteren arg zersaust hat, unter anderem mit dem Vorwurf, er
sei nicht „links“ genug. Sein Satz „Die Moderne dauert schon 400 Jahre“ meint ebenfalls: Die
Komponisten der Vergangenheit hatten die gleichen Probleme mit Arbeit- und
Auftraggebern, dem Publikum, der Kritik wie die Lebenden. Am intensivsten hat sich Kagel
mit Bach auseinandergesetzt. In seinen Stücken der fünfziger Jahre, die heute noch wüst
klingen, findet sich bereits die Tonfolge b-a-c-h versteckt oder in der Aufnahmeprüfung an
der Kölner Musikhochschule mussten die Aspiranten, die zum Neutöner Kagel wollten,
einmal das Thema des „Musikalischen Opfers“ fünfzehn Takte lang weiter entwickeln. Der
Schlusspunkt dieser Auseinandersetzung ist eine Passion, geschrieben zum Europäischen
Jahr der Musik 1985, das die runden Geburtstage unter anderem von Bach, Händel und
Domenico Scarlatti feierte. Hier geht Kagel auf das größte Werk des auch für ihn größten
aller Komponisten zu, auf die „Matthäus-Passion.“
Bach: Matthäus-Passion, Nr. 3 „Herzliebster Jesu“
0’38“
The Monteverdi Choir, the English Baroque Soloists, Ltg. J. E. Gardiner
DG 427646
LC 0173
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Begleitet von den English Baroque Soloists sang der Monteverdi Choir den Choral
“Herzliebster Jesu” aus Bachs “Matthäus-Passion”. Die Leitung hatte John Eliot Gardiner.
Kagel hält sich an die „Matthäus-Passion“ in den äußeren Umrissen der Form, Besetzung
und Dauer. Und an die Tonfolge b-a-c-h, die mit fast sieben Tausend Varianten seine
musikalische Grundlage bildet. Die entscheidende Veränderung bei Kagel: Aus Jesus wird
Bach. Entsprechend lautet die erste Zeile des gerade verklungenen Chorals dann:
„Herzliebster Johann, was hast du verbrochen?“ „Sankt-Bach-Passion“ heißt dieses Stück.
Die Heiligsprechung ist inspiriert vom Wort eines schwedischen Musikologen, der Bach
einmal als „fünften Evangelisten“ bezeichnet hat. Bedenklich ist selbstredend der Austausch
von Jesus mit Bach. Meint das den lebensnotwendigen Trost, der früher in der Religion und
heute in der Kunst gesucht wird? Kagel, der als Philosophiestudent bei den GlaubensSkeptikern Spinoza und Kierkegaard hängen geblieben war, bemerkt in einem Begleittext:
„An Gott zweifeln, an Bach glauben“. Der Bundespräsident von Weizäcker, der die Berliner
Uraufführung aufmerksam verfolgt hat, nahm dies mit ernster Miene zur Kenntnis. Anhand
der historischen Dokumente erzählt die „Sankt-Bach-Passion“ Bachs Biografie, wobei Kagel
solche Kapitel auswählt, die die Mühsal und Widrigkeiten dieses Lebens betonen; Bachs
Leidensweg „am Kreuz der Ämter hängend“, wie Kagel sagt, bis zum tödlichen Schlaganfall,
nachdem er einem reisenden Kurpfuscher in die Hände gefallen war. Beispielsweise beruht
der Text einer Nummer ausschließlich auf Schlussformeln von Briefen: „Ihr gehorsamster –
gehorsamst-ergebenster – ganz ergebenster, treuer, willigster Diener – Ihr untertänigstgehorsamster Knecht Johann Sebastian Bach.“ Eine andere Nummer reiht die Namen und
Geburtsjahre der zahlreichen Bach-Kinder aneinander. „Man hat das Gefühl“, kommentiert
Kagel, „sie wurden geboren, um schnell zu sterben; eine l’art pour l’art-Zeugung.“ Bach, der
von einem Sprecher verkörpert wird, tritt ungefähr in der Mitte des Werks zum ersten Mal
auf, wo ihm die Kirchenoberen in Arnstadt seine Schandtaten vorhalten: Beträchtlich habe er
seinen Urlaub überschritten, nicht für eine ordentliche Vertretung gesorgt und mit der
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Verwirrung der Gemeinde durch „wunderliche Variationen“ und „fremde Töne“ müsse nun
auch endlich Schluss sein.
Kagel: Sankt-Bach-Passion, Nr. 16
CD 1, Tr. 16
4’47“
P. Roggisch, H. P. Blochwitz, R. Hermann, NDR-Chor Hamburg, Südfunkchor Stuttgart, RSO
Stuttgart, Ltg. M. Kagel
MO 782044 Kein LC
Das war die Nummer 16 der „Sankt-Bach-Passion“ von Mauricio Kagel. Mit dem Sprecher
Peter Roggisch, dem Tenor Hans-Peter Blochwitz, dem Bariton Roland Hermann, dem NDRChor Hamburg und dem Südfunkchor Stuttgart sowie dem Radio-Sinfonie-Orchester
Stuttgart. Die Leitung hatte der Komponist.
Zu Brahms’ 140. Geburtstag erreicht Kagel ein Kompositionsauftrag der Stadt Hamburg, wo
kurz zuvor sein Bühnenwerk „Staatstheater“ zu einer skandalumwitterten Uraufführung
gekommen war; ein Werk, das als „Anti-Oper“ durch die Musiklexika geistert und doch
eigentlich eine Pro-Oper ist, weil „Staatstheater“ nur den ganz normalen Opernwahnsinn auf
die Spitze treibt. Beim Brahms-Auftrag denkt Kagel, wie hätte der wohl heute komponiert,
wenn er das Alter Methusalems erreicht hätte. Möglichweise wäre er zu einer neuartigen
Verbindung von Wagnerscher Chromatik und archaischer Modalität gekommen, wie Kagel
spekuliert. Naturgemäß kann sich Brahms dazu nicht mehr äußern, doch Kagel unternimmt
alles, ihn zum Leben zu erwecken und zum Sprechen zu bringen. Für das Programmheft
verfasst er einen Briefwechsel, der nahezu ausschließlich auf Brahms-Briefen beruht:
„Kagel an Brahms, Hamburg, 11. Mai 1971.
Ich weiß nicht, wie Sie über meine eventuelle Mitwirkung bei dem geplanten Brahms-Fest
denken. Allerdings kann ich mich kaum entschließen, etwas Neues zu schreiben. Ich fände
es nicht schicklich für den Zweck.
Brahms an Kagel (
) Sonntag
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Mag ich doch gestehen, dass ich mich mehr geschämt als gefreut habe, als Ihr letzter Brief
kam. Aber man lebt hier entsetzlich. Dazu kommt ein Himmel, der nicht zu heizen ist. Ich
bedaure ganz außerordentlich, dass ich großer Schreibunlust wegen vom schriftlichen
Verkehr nicht den geringsten Ersatz für ein klärendes Gespräch hoffen kann.
Kagel an Brahms, Köln, 3. Oktober 1971
Sehr werter Meister,
nun habe ich den Antrag, ein neues Stück für jenen Zweck zu schreiben, angenommen und
bin in Versuchung, eines Ihrer Werke abzuschreiben und dabei manch unbedeutende
Veränderung vorzunehmen. Es wimmelt nun plötzlich von Dissonanzen und ich wüsste gern,
wie Sie sich damit vertrügen. Ich versichere Ihnen, dass ich den rhythmischen Verlauf Ihrer
Komposition nicht anzutasten gedenke. Lediglich die Reihenfolge der Variationen und die
Harmonik möchte ich umstellen – ohne das Wesentliche der Ideen unkenntlich zu machen.“
Kagel nimmt die Brahmsschen Händel-Variationen. Das ist neben den Goldberg- und den
Diabelli-Variationen nicht nur der dritte große Klavierzyklus der Geschichte, sondern darin
konzentriert sich auch Brahms’ Biografie. Die Händel-Variationen sind kurz vor der
Übersiedelung nach Wien in Hamburg entstanden, sind Clara Schumann gewidmet, das
einzige Werk, das Brahms jemals Wagner vorgespielt hat und sie waren die
Lieblingskomposition ihres Erfinders.
Brahms: Händel-Variationen, bis IX
8’10“
Oli Mustonen
SWR M 0012534 018
Wir hörten Händels Thema und die ersten neun der Variationen von Johannes Brahms,
interpretiert von Oli Mustonen.
Kagel schreibt nicht - traditionsgemäß - Variationen über ein Thema, sondern Variationen
über Variationen. Titel des Stücks: „Variationen ohne Fuge für großes Orchester über
‚Variationen und Fuge’ über ein Thema von Händel op. 24 für Klavier von Johannes Brahms
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1861/62 von Mauricio Kagel 1971/72“. Das ist eine von Kagels Verbindungen der Gegenwart
mit der Vergangenheit, wovon der niederländische Prinz eingangs sprach und zugleich ein
Beispiel für das Mahler-Wort „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die
Weitergabe des Feuers.“ Kagel verfährt genau so wie im Brief an Brahms beschrieben. Die
Händel-Variationen sind wörtlich in der Orchesterpartitur enthalten und zugleich verändert,
indem Kagel zum Beispiel auf jeden Ton des B-Dur-Dreiklangs einen eigenen Dreiklang setzt
und damit B-Dur, D-Dur und F-Dur gleichzeitig erklingen. Wir beginnen mit der letzten
Variation, wuchtig und wagnerartig instrumentiert. Währenddessen betritt der leibhaftige
Brahms die Bühne, authentisch kostümiert mit weißem Rauschebart und schwarzem Paletot,
die Weste befleckt von Zigarrenasche. Nach einem Doppelpunkt des Orchesters hält Brahms
eine Rede, montiert wiederum aus seinen Briefen und gespickt mit Anspielungen auf seine
Person. Auf die problematische Beziehung zu seiner Vaterstadt, auf Brahms’
Grammophonaufnahmen, auf seinen Franzosenhass oder sein schwieriges Verhältnis zu
Frauen. „Wenn die Maske des Darstellers ausgezeichnet ist,“ berichtet Kagel, „so sind die
Spieler auf dem Podium bereit zu glauben, dass Brahms selbst erschienen ist. Ich habe,
mehr als einmal, Musiker des Orchesters mit Tränen in den Augen gesehen, wenn Brahms
vorne an der Rampe sitzt und spricht.“ Nach der Rede ertönt ein Glissando abwärts, wie
wenn eine alte Schallplatte erstirbt und es erscheint zum ersten Mal das Händel-Thema. So
geisterhaft klingend wie der mittlerweile eingetretene Händel aussieht, weiß geschminkt und
ebenfalls original kostümiert. Beide lauschen der Musik und als sie zu Ende ist, wird Brahms
vom stummen Händel – die große Trommel markiert ihre Schritte – aus dem Saal geführt
und wieder in den Komponistenhimmel zurückgebracht, wo sich auch Mauricio Kagel seit
2008 befindet.
Kagel: Variationen ohne Fuge…, IX – Ende
10’17“
Peter Borchart, Sprecher, Netherlands Radio Philharmonic, Ltg. M. Kagel
RCA 74321 308892 LC 0316
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