Milano Monumentale : ein Stadtrundgang - E

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Milano Monumentale : ein Stadtrundgang
Autor(en):
Capitanucci, Maria Vittoria
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 65 (2005-2006)
Heft 755:
Architektur und Macht : eine monumentale Verführung
PDF erstellt am:
19.08.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-301670
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Milano Monumentale. Die Mailänder lieben
es klassisch streng. Auch im Faschismus zeigten sie
architektonischen Eigensinn. Ein Stadtrundgang.
Von Maria Vittoria Capitanucci
Monumentalität in Mailand - das mag wie
ein Widerspruch in sich selbst klingen. Die
Hauptstadt der Lombardei, deren kulturelle
und vor allem auch architektonische Erschei¬
nungsformen seit jeher zurückhaltend sind,
hat eine eher introspektive Architektur. Die
Bauten bieten zwar durchaus unerwartete Ein¬
drücke, aber immer nur in den Innenräumen
und Höfen, nie an den Fronten und Fassaden.
Nicht von ungefähr dominiert in Mailand seit
dem 15. Jahrhundert der Backstein, nicht der
Stein wie in Rom und Florenz, und dieser
Schlichtheit musste sich sogar der Renaissan¬
cebaumeister Donato Bramante beugen. Das
Barock fasste fast gar nicht Fuss, besser gesagt,
die Stadt entwickelte eine «ernsthaft und reue¬
voll geschwungene» Spielart davon, während
die Gemessenheit des Neoklassizismus genau
ihrem Wesen entsprach.
Auch im 20. Jahrhundert ging Mailand sei¬
nen eigenen, ganz persönlichen Weg, obwohl
die zahlreichen avantgardistischen Strömun¬
gen, die Impulse aus Europa und der ganzen
Welt die Stadt auf direktem Weg erreich¬
ten. Die lombardische Intelligenz insgesamt
tendierte zu Klassizismen unterschiedlichs¬
ter Ausprägung, in der Architektur reicht die
Spannweite von einer blossen Verwirrung ver¬
schiedener Ausdrucksformen bis zu geglück¬
ten Kontaminationen einzelner Stilrichtun¬
gen, deren sich Architekten unkonventionell
bedienten.
1922 hatte Margherita Sarfatti, die einfluss¬
reiche Jüdin und jahrelange Kulturberaterin
Mussolinis, den «Novecento» genannten Sa¬
lon gegründet. Diese intellektuelle Leiden¬
schaft für den Klassizismus, die einen so star¬
ken Einfluss nicht nur aufdie monumentale
Architektur dieser Zeit hatte, ging mit der
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Mailand Zentrum: In Spazierentfernung liegen die wichtigsten Repräsentationsbauten aus
den zwanziger und dreissiger Jahren. (Karte Michel Fries)
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Abb. 2 (Bild Gabriele Basilico)
Abb. i (Bild Gabriele Basilico)
Geschichte fast spielerisch um und gab nie
einem unnützen Dekorativismus nach. Das
kommt in einer ganzen Reihe grundlegender
Bauten deutlich zum Ausdruck: Genannt
seien die «Ca' Brutta» (das hässliche Haus) von
Giovanni Muzio, aber auch das Denkmal für
die Gefallenen, das ein Team um Gio Ponti
plante, die zahlreichen, schwer zu katalogisie¬
renden Projekte von Piero Portaluppi - vom
Anbau der Banca Commerciale (12) bis zur Piaz¬
za Crispi-Meda -, später die metaphysische
Schwerelosigkeit von Emilio Lancia im Al¬
leingang am Corso Matteotti oder eines Ales¬
sandro Rimini mit der Torre snia (14). Das 20.
Jahrhundert hatte sich der Metaphysik Gior¬
gio de Chiricos verschrieben, den Bildern Ma¬
rio Sironis und den Träumen von Alberto Sa¬
vinio. Die Abwandlungen der klassizistischen
Sprache waren ein zulässiges Experiment, so¬
lange es in den Grenzen der wohlerzogenen
Mailänder Gemessenheit blieb. Höchstens war
dieser Klassizismus dem dezenten Manieris¬
mus Andrea Palladios verpflichtet, dessen
Bauten die jungen Studenten während des
Krieges im Veneto mit eigenen Augen sehen
konnten. Selbst die Abstecher einiger Archi¬
tekten in den Rationalismus -beispielhaft das
Haus, die Eingriffe Gio Pontis an der Piazza
San Babila (16) - waren von schlichter Eleganz
und nie zu expressionistisch. Und auch als
Rom und das Regime beharrlichere Forde¬
rungen stellten und klarere Richtlinien für ei¬
ne nationale, politische Architektur erliessen,
beharrten die Mailänder Architekten auf ih¬
rer Autonomie und behielten ihre Antike im
Auge nicht in erster Linie die römische Klas¬
sizität. Während Rom den pathetischen Klas¬
sizismus Wiederaufleben liess, schien in Mai¬
land die von dekorativen Elementen befreite
-
Kolossalordnung am geeignetsten, um öf¬
fentlichen Gebäuden Monumentalität zu ver¬
leihen, etwa der Börse von Paolo Mezzanotte
an der Piazza Affari oder den langen Fronten
am Corso Littorio-Matteotti. Marcello Piacen¬
tini, der Römer Architekt, hatte zwar mehr¬
fach Gelegenheit, in Mailand bedeutende Ak¬
zente zu setzen, wie zum Beispiel mit dem
neuen Palazzo di Giustizia. Er hinterliess sei¬
ne Handschrift in Mailand, aber keine Schü¬
ler, in einem Ambiente, in dem, wer nicht
dem «Novecento» nahestand, der rationalisti¬
schen Architektur Giuseppe Terragnis, Pietro
Lingeris, Luigi Figinis, Gino Pollinis oder bbpr
(Banfi, Belgiojoso, Peressutti, Rogers) zuneig¬
te. Deren Namen erscheinen nicht in dieser
Reflexion über das monumentale Bauen in
Mailand, weil sie damals auf anderen Gebie¬
ten experimentierten, etwa am Wohnungs¬
bau, auch für die unteren sozialen Schichten,
interessiert waren.
Abb. 1: Tempio della Vittoria (Siegestempel).
Giovanni Muzio, Alberto Alpago Novello,
Tomaso Buzzi, Ottavio Cabiati, Gio Ponti,
1927-1930. Largo Gemelli.
Das Monumento ai Caduti della prima guerra
mondiale (Denkmal für die Gefallenen des
Ersten Weltkriegs), auch Tempio della Vittoria
genannt, wurde am 4. November 1928 einge¬
weiht. Ursprünglich sollte es an der Piazza
Fiume errichtet werden, bis kurz zuvor Stand¬
ort des Hauptbahnhofs, der dann an die heu¬
tige Stelle verlegt wurde. Schliesslich fiel die
Wahl auf den Largo Gemelli, den Ort, wo die
ersten christlichen Märtyrer begraben waren.
Das Projekt war in einem gewissen Sinn das
Manifest der Künstler und Intellektuellen, die
ab 1922 der von Margherita Sarfatti gegründe¬
ten Bewegung «Novecento» beitraten. Neben
den Architekten Giovanni Muzio, Alberto Al¬
pago Novello, Tomaso Buzzi und Ottavio Ca¬
biati waren die Bildhauer Adolfo Wildt (S. Am¬
brogio in der Fassadennische), Giannino Castiglioni, Libero Andreotti, Gigi Supino, Silvio
und Antonio Maiocchi beteiligt. Das Gebäude
bewegt sich zwischen Architektur und städte¬
baulichem Element und steht in engem Dia¬
log zur wichtigen Präsenz der nahen Basilika
Sant'Ambrogio, von der es die achteckige Ap¬
sis übernimmt. Durch die elegante Einfrie¬
dung und die weisse Marmorverkleidung er¬
hebt es aber gleichzeitig Anspruch auf Auto¬
nomie gegenüber der Umgehung. Die Kom¬
positionselemente sind typisch für die Novecentisten: Aussen kennzeichnen den Bau offe¬
ne Vorhallen, Bogen, mit geometrischen Bas¬
reliefs dekorierte Kalotten, nichtmassstäbliche Urnen in teilweise leeren Nischen. Über
eine doppelte elliptische Treppe gelangt man
ins Innere, in die eindrückliche Gedenkstätte,
wo die Namen der Gefallenen zu einem deko¬
rativen Motiv werden, fast zu einer gewobe¬
nen Oberfläche. Die Sala dei cimeli (Saal der
Erinnerungsstücke) mit ihrer grossen Kuppel
schmückt ein Fresko von Achille Funi.
Abb. 2: Università Cattolica (Katholische
Universität). Giovanni Muzio, Pier Fausto
Barelli, 1929-1932 und folgende Jahre. Largo
Gemelli.
Der Komplex der Katholischen Universität
steht im Dialog mit den bedeutenden histori¬
schen Präsenzen der Zone - der Basilika San¬
t'Ambrogio und den Kreuzgängen von Bra¬
mante. Muzio baute ihn im Auftrag der Diö¬
zese von Mailand, wobei der grosse katholi¬
sche Intellektuelle Padre Gemelli die treiben-
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Abb. 3 und Abb. 3a. (B/Zd Gabriele Basilico)
Abb. 4. (Bild Gabriele Basilico)
Kraft war. Die Universität befindet sich
ganz in der Nähe des Denkmals für die Gefal¬
lenen, das Giovanni Muzio wenige Jahre zu¬
vor proj ektiert hatte. Diesem ist sie durch die
Lage des monumentalen Eingangs aus grau¬
em Granit verbunden. Er steht asymmetrisch
zur strengen Backsteinfassade, die sich mit
ihrer raffinierten Struktur zwischen der lom¬
de
bardischen Tradition des 15. Jahrhunderts
und der protoindustriellen Architektur des
Nordens situiert. Der Eingang ist als Uhr¬
turm gestaltet: Je zwei Doppelsäulen betonen
das Bogenportal, über dem, in einer Nische,
die Christkönig-Statue von Giannino Castiglioni thront. Darüber erkennt man die In¬
schrift der Universität, einen sich verjüngen¬
den Baukörper mit der Uhr und das noch
schmalere Glockentürmchen. Halbpfeiler, Säu¬
len und Nischen nehmen die dekorativen Ele¬
mente des Inneren voraus, wo der Architekt
viel dunkles Holz verwendet hat. Die langen
Gänge, an denen die Hörsäle liegen, sind mit
festen Einrichtungsgegenständen, hohen Bän¬
ken und eigens entworfenen Heizkörpern aus¬
gestattet. Kassetten- und Stuckdecken mit
geometrischen Mustern, Tonnengewölbe und
Täfer kennzeichnen die Büros und die grosse
Aula Magna. Die Università Cattolica hat eine
grosse urbanistische Bedeutung, einerseits
weil hier ein Stück historische, mittelalter¬
lich dichte Stadt neu gelesen und projektiert
wurde, selbst wenn man zuerst abgerissen
hatte. Andererseits nimmt sie einen riesigen
Raum ein, der auch zwei von Bramantes Kreuz¬
gängen einschliesst, die ursprünglich zur Ba¬
silika S.Ambrogio gehörten: eine grosse Her¬
ausforderung und Verantwortung für den
Architekten, auf die Muzio mit feierlicher
Eleganz antwortete, indem er vorher Beste¬
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hendes respektierte, aber auch neue Funktio¬
nen einführte.
In den nahen Kollegien Agostinianum,
Ludovicianum, Marianum und in der Men¬
sa führte Muzio in den folgenden Jahren sei¬
ne Arbeit bis zum Zweiten Weltkrieg fort. Sein
Stil wurde strenger, nicht immer benutzt er
Backstein, in einigen stufenförmig angeleg¬
ten Hörsälen näherte er sich in der Einfach¬
heit der Ausdrucksformen und in der Verwen¬
dung von Sicht- und Glasbeton dem Rationa¬
-
lismus.
Abb. 3 und 3a: Palazzo della Borsa (Börse).
Paolo Mezzanotte, 1928-1931. Piazza degli
Affari 6, Via San Vittore al Teatro, Via delle
Orsole.
1937 begannen die Arbeiten für die neue Piaz¬
za degli Affari und den neuen Palazzo della
Borsa. Der Architekturhistoriker Raffaello
Giolli schrieb über dieses Gebäude: «Mächti¬
ge Säulen und Skulpturengruppen verleihen
ihm eine unerwartete, kraftvolle Note von
Romanität.» Sicher ist die Börse ein beein¬
druckender Bau von grossem Pathos, man
kann sie jedoch schwerlich dem römischen
Geschmack zuschreiben. Der Architekt Pao¬
lo Mezzanotte schuf in Mailand zahlreiche
bedeutende öffentliche Gebäude und neigte
einem klassizistischen Eklektizismus zu, der
in diesem Fall eher an einen dezenten Manie¬
rismus erinnert als an das antike Rom. Die
Hauptfassade mit einer breiten Treppe und
fünf weiten Eingangsbogen ist denn auch ei¬
ne grossartige Marmorkulisse für den ad hoc
geschaffenen Platz. Sie ist in fünf vertikale
Flächen skandiert, die von vier Kolossalsäu¬
len unterteilt werden, an deren Fuss, zwi¬
schen den Eingängen, vier Hochreliefs ange¬
bracht sind. Über die ganze Fassade verlaufen
Gesimse, da sich in jeder der fünf vertikalen
Flächen zwei übereinander gelegene, neu
interpretierte Serliane öffnen, ein Motiv, das
den Novecentisten lieb war: Die Fenster sind
durch falsche Tympana und Schlusssteine
eingerahmt, über den Seitennischen erkennt
man viereckige Felder, kleine Drillingsfens¬
ter markieren, unter den horizontalen Sim¬
sen, die beiden Ebenen des Gebäudes. Ein ein¬
drückliches Gebälk verbindet die vier Säulen
und zwei Kolossalpfeiler, die von sechs Skulp¬
turengruppen bekrönt sind: Sie heben sich ge¬
gen die Umrisse des geometrisch wirkenden
Giebels ab, der das Gebäude beschliesst. Die
Seitenwände verzichten auf den Marmor, sie
sind stattdessen in einem rötlichen Verputz
gehalten, darin sind archäologische Fund¬
stücke aus der Römerzeit eingelassen, die
man in der Zone fand. Im Erdgeschoss des
Gebäudes ist ein Teil der Fundamente eines
römischen Theaters erhalten, das man in den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter
einigen Gebäuden in der Via Meravigli ent¬
deckt hatte. Der ganze Platz entspricht, in sei¬
ner Dimension und seinem Charakter, dem
Geist der Metaphysik: ein in der Zeit schwe¬
bender Raum, umschlossen von bedeuten¬
der Architektur. Gegenüber der Börse ein Ge¬
bäude (3a) von Emilio Lancia (1937-1939), das
mit seinen einfachen, rationalistischen Li¬
nien deutlich an römische Vorbilder an¬
knüpft und durch den Bogengang aufbeiden
Seiten die Verbindung zur historischen Stadt
herstellt.
Abb. 4: Sitz der «Federazione dei fasci mi¬
lanesi» (Verband der Mailänder Faschis¬
ten). Piero Portaluppi, 1935-1940. Piazza
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Abb. 6. (Bild Gabriele Basilico)
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Abb. 5. (BildGabrieleBasilico)
San Sepolcro 9, Via Valpetrosa 2, Via Fosse
Ardeatine 4, Via Zecca Vecchia 1.
Ganze fünf Projekte legte Piero Portaluppi
lungssaal mit 5000 Plätzen vor, wurde aber
nie fertiggebaut.
1936 dem Duce vor. Es waren Vorschläge, die
Abb. 5: Camera del Lavoro (Arbeitskam¬
mer). Angelo Bordoni, Luigi Caneva, Anto¬
nio Carminati, 1929-1932. Corso Porta Vit¬
die bestehenden Strukturen respektierten
und nicht den Anspruch erhoben, ein neues
Kapitel faschistischer Architektur zu schrei¬
ben. Diese Haltung brachte dem Architekten
die ständige Kontrolle der Römer Politiker
ein, die sogar eine Kommission einsetzten,
um den bereits begonnenen Bau zu begut¬
achten. Die Mitglieder, Marcello Piacentini,
Alberto Calza Bini und Gustavo Giovannoni,
lehnten das Projekt ab. Am Schluss langer
Auseinandersetzungen konnte der Mailän¬
der Architekt das Werk zu Ende führen. Er
musste aber den teilweisen Abbruch des Pa¬
lazzo Castani an der Piazza San Sepolcro ein¬
planen, auf der Mussolini symbolisch die
Fasci di combattimento (Kampfverbände) ge¬
gründet hatte. Der Palast aus dem 18. Jahr¬
hundert wurde in das Projekt integriert und
mit der Torre littoria (Liktorenturm) verbun¬
den. Der mit matten Steinplatten verkleidete
Turm, in dem sich der Versammlungsraum
befindet, besteht aus sieben Stockwerken
und einer dem Platz zugewandten, offenen
Loggia, die das prägende Eckelement bildet
und in ständigem Dialog mit der Kirche San
Sepolcro und deren Glockenturm steht. Seit¬
lich des Turmes, zur Via Valpetrosa hin, ent¬
wickelt sich der eigentliche Palazzo del Fa¬
scio, der eine Gedenkstätte beherbergt. Diese
Front ist im ersten Teil durch regelmässige,
immer rechteckige Fenster charakterisiert,
während der zweite Teil lichtvolle vertikale
Schnitte aufweist. Das endgültige Projekt sah
einen weiteren grossen Block für die Casa lit¬
toria (Liktorenhaus) und einen Versamm¬
toria 43.
Der Wettbewerb für die Camera del Lavoro
wurde 1929, gleichzeitig mit dem für den na¬
hen Palazzo di Giustizia, ausgeschrieben. Die
Gewinner erarbeiteten eine neue Version ih¬
res Projekts, die ein Gebäude ganz aus Back¬
steinen mit Gesimsen, horizontalen Simsen
und Sockeln aus Stein vorsah, das sich von der
Umgebung unterscheiden würde. Der Ver¬
sammlungsplatz war durch zwei auskragen¬
de Arme abgeschlossen. Im Zentrum des Ge¬
bäudes, in einem Viereck aus grauem Stein,
erkennt man die Doppeltreppe und die bei¬
den Eingänge: im Erdgeschoss ein zentrales
Portal und zwei kleinere mit Architrav, auf
der oberen Ebene ein grosser zentraler Ein¬
gang und zwei Fenster an den Seiten, alle drei
mit Bogen.
Die zentrale Fassade, die eine ideale Kulis¬
zum Versammlungshof bildet, hebt sich
vom Bau deutlich ab und wächst in die Höhe
mit ihren drei langen, durchsichtigen Fens¬
tern, die in einem Bogen enden. Darüber die
dem Rationalismus verpflichtete Grafik der
Inschrift «Camera del lavoro»: Sie scheint ein
weiteres Element des horizontalen Simses zu
sein, der die letzte lineare Ebene mit den drei
rechteckigen Fenstern abtrennt, in perfekter
Übereinstimmung mit der darunterliegen¬
den Komposition der Fassade. Seitlich waren
an der Fassade zwei grosse steinerne Liktorenbündel angebracht, die man später ent¬
fernte.
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Abb. 6: Palazzo di Giustizia (Justizpalast).
Marcello Piacentini, Ernesto Rapisardi,
1932-1940. Corso Porta Vittoria, Via Manara
4, Via San Barnaba 35, Via Freguglia.
Der Palazzo di Giustizia befindet sich eben¬
falls am Corso di Porta Vittoria und damit am
äusseren Rand des alten Navigli-Netzes. Im¬
posant seine kantige, strenge, fast die Mass¬
stäbe sprengende Präsenz, sein, wie Zevi
schreibt, «von allen Dekorationen entblösster
Klassizismus», mit dem er seine Unbeteiligt¬
heit der Umgebung gegenüber proklamiert
und deutlich macht, dass er selbst ein Ort par
excellence ist.
Axiale Komposition, Monumentaltreppe,
grandiose Atrien, Marmorwände und Fuss¬
boden, Pfeiler und Sturze anstelle von Säulen
und Bögen, wie sie die Novecentisten bevor¬
zugten, charakterisieren dieses römische Ge¬
bäude in Mailand, das ganz dem Streben nach
einer modernen, nationalen Kunst entspricht,
wie sie Piacentini proklamierte.
Nachdem aus dem Wettbewerb von 1929
kein Gewinner hervorgegangen war, hatte
der Bürgermeister Marcello Visconti di Mo¬
drone den Architekten Marcello Piacentini
mit dem Projekt für den neuen Palazzo di
Giustizia beauftragt, der auf dem Grund eines
ehemaligen Klosters und der späteren Kaser¬
ne Principe Eugenio di Savoia vorgesehen war.
Die Arbeiten dauerten bis 1940, als 1200 Räume
und 65 Säle fertiggestellt waren. Für bildhau¬
erische Werke, Mosaiken und Basreliefs in den
Gerichtssälen, Atrien, Gängen, Wartesälen,
Treppen wurden zahlreiche Künstler beigezo¬
gen, darunter Carlo Carrà, der zwei grosse
Fresken schuf: «Giustiniano che amministra
la giustizia» (Justinian spricht Gericht, heute
in der Bibliothek) und «Giudizio Universale»
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Abb. 7. (B/W Gabriele Basilico)
(Das Jüngste Gericht, Saal der II. Zivilen Sek¬
tion). Für das Schwurgericht entwarf Ma¬
rio Sironi das dann in Ravenna ausgeführte
Mosaik «La giustizia fra la legge e la forza»
(Die Justiz zwischen dem Gesetz und der Ge¬
walt).
Abb. 7: Palazzo dell'Arte (Palast der Kunst),
Triennale di Milano. Giovanni Muzio, 19231933- Via Alemagna 6 (Parco Sempione).
Anlässlich der fünften Triennale von Mailand
- die ersten vier hatten im Park der Villa reale
in Monza stattgefunden - wurde Giovanni
Muzios Palazzo dell'Arte eingeweiht. Die
Schau nannte sich von da an «Internationale
Ausstellung der modernen Dekorations- und
Industriekunst und der modernen Architek¬
tur». Der Palazzo dell'Arte ist ein grosses Mehr¬
zweckgebäude im Parco Sempione, das, urbanistisch gesehen, ein ideales Viereck abschliesst, dessen andere drei Ecken vom Ca¬
stello Sforzesco, dem Arco della Pace (Friedensbogen) und der Arena civica (Städtische
Arena) gebildet werden.
Das Gebäude musste den verschiedenen Be¬
dürfnissen der wichtigen Kunstmesse Rech¬
nung tragen: Ausstellungsräume, Galerien,
ein Theater, ein grosses Restaurant im Erdge¬
schoss, ein Dancing sowie Büroräume und
Versammlungssäle in den oberen Stockwer¬
ken. Im Innern befand sich links das Implu¬
vium, ein grosser, doppelt hoher Raum, der
an die römische Domus erinnert. Das Implu¬
vium schuf ein Element der Ruhe, in Kontrast
zur auf der Gegenseite symmetrisch angeleg¬
ten Monumentaltreppe, die zu den Ausstel¬
lungsräumen im oberen Stockwerk führt. Ein
Parallelepiped aus dunklem rotem Klinker
mit abgerundeter Kurzseite - wie eine römi¬
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Abb. 8. (Bild Gabriele Basilico)
-
sche Basilika beherbergt das Theater und ei¬
ne Galerie, auf der gegenüberliegenden Seite
Abb. 8: Palazzo dei Giornali (Zeitungspa¬
last). Giovanni Muzio, 1938-1942. Piazza Ca¬
eine unerwartete, expressionistisch anmu¬
tende elliptische Treppe in einem zylindri¬
schen Korpus aus Betonglas. Zur Strasse hin
der Eingang: ein auskragender Vorraum aus
vour 2.
Die Zeitung «Popolo d'Italia», deren Chefre¬
daktor Arnaldo Mussolini war, der Bruder des
Duce, erfüllte jahrelang die Funktion eines
Parteiorgans. Sie brauchte deshalb in Mailand
einen ad hoc projektierten Sitz, der nicht nur
würdevoll sein sollte, sondern auch ein Aus¬
druck der intellektuellen und mechanischen
Arbeit, die hinter der Produktion von Infor¬
mation steht. 1937 begannen die Arbeiten für
das von Muzio entworfene Gebäude, das nach
dem Krieg Palazzo dei Giornali genannt wur¬
de. Es steht an der Piazza Cavour, im Herzen
rotem Baveno-Granit mit einer nichtmassstäblichen Serliana, einem Eingang aus einem
hochgezogenen mittleren Bogen und zwei
sehr kleinen, flankierenden Bögen. Auf der
Parkseite greifen zwei lange Granitarme mit
Portikus ins Grüne hinein und prägen so ei¬
nen Teil der Front: Sie werden zum Filter
zwischen aussen und innen in der ganzen als
Restaurant genutzten Zone. Giorgio de Chi¬
rico projektierte einen Brunnen für den Aus¬
senbereich.
Gleich wie im Falle der Università Cattoli¬
ca und des Palazzo dei Giornali sind die Ma¬
terialien auch hier nach funktionalen Krite¬
rien gewählt, Klinker in immer neuen Mus¬
tern und ständig variierende Gesimse für die
weniger repräsentativen Teile; Stein und Mar¬
mor für jene Elemente, denen die Botschaft
von Selbstdarstellung und Monumentalität
des Gebäudes anvertraut ist.
Architektur und Kunst sollten zusammen
wirken; im Innern hat eine ganze Reihe von
Künstlern des Novecento und der Metafìsica
zahlreiche Werke geschaffen. Mario Sironi ko¬
ordinierte die Arbeiten und realisierte das
Fresko im Ehrensaal und die grosse Skulptur
des Impluvium.
Gleichzeitig mit der Triennale wurde im
Park die Torre Littoria (Liktorenturm) eröff¬
net, die später in Torre del parco (Turm im
Park) umbenannt wurde. Ihre Schöpfer waren
die Architekten Cesare Chiodi, Enrico Ferrari
und Gio Ponti.
der Stadt, an der Stelle des alten Politecnico.
Das Gebäude war für die Büros und den gan¬
zen Produktions- und Verteilungsapparat einschliesslich der Druckmaschinen - der Ta¬
geszeitung bestimmt. Muzio trug folglich so¬
wohl der Selbstdarstellung als auch der Funk¬
tionalität Rechnung, wie schon im Fall der
Triennale und der Università Cattolica: Das
wuchtige Parallelepiped wendet dem Platz
seine monumentale, mit Stein verkleidete
Fassade zu, in der Mitte öffnet sich das Ein¬
gangsportal, über dem, im oberen Teil, ein
Hochrelief von Mario Sironi angebracht ist.
Sironi entwarf auch 1937, anlässlich der sechs¬
ten Triennale, das Mosaik «L'Italia corporati¬
va», das in Venedig ausgeführt und 1942 an
seinen Bestimmungsort, das Auditorium im
letzten Stockwerk des Palazzo dei Giornali,
gebracht wurde. Um die Bedeutung des Ge¬
bäudes zu unterstreichen, war auf dem Dach
ein sich drehender Scheinwerfer vorgesehen
(wie auf dem Denkmal für die Gefallenen und
der Torre Littoria) - ein Emblem für die nie
stillstehende Arbeit der Zeitung. An den Flan-
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ken und auf der Rückseite verwendete Muzio
ein kontinuierliches Muster von Backsteinen
und Gesimsen und erweckte damit den Ein¬
druck eines Industriegebäudes, einer Fabrik
des Wissens und der physischen Produktion
der Zeitung. Auch wenn ein lehrhafter und
vielleicht zu pathetischer Aspekt überwiegt,
bleibt die urbanistische Bedeutung des Palaz¬
zo dei Giornali doch bestehen, mit seiner en¬
gen Beziehung zu dem davorliegenden Platz
und dem angrenzenden alten Tor, das zum
neuen Wegweiser Richtung Piazza della Scala
wird.
Abb. 9: Palazzo della Provincia (Palast der
Provinz). Giovanni Muzio, 1938-1941, Via
Vivaio 1-5.
Im selben Jahr, in dem er den «Palazzo del Po¬
polo d'Italia» (Palast des italienischen Volkes)
realisierte, wurde Muzio beauftragt, den Sitz
der Provinzadministration zu bauen, dessen
Einweihung am 24. Oktober 1942 stattfand.
Der Palast beherbergte auch den Sitz des
ONMi (Opera Nazionale Maternità e Infanzia,
Nationales Werk für Mutterschaft und Kind¬
heit) und des Consorzio Antitubercolare (Ge¬
nossenschaft zur Bekämpfung der Tuberku¬
lose), es war somit eine beträchtliche Anzahl
von Büros, Versammlungs- und Repräsenta¬
tionssälen vorgesehen.
Auch in diesem Fall passt sich die Verklei¬
dung den Bedürfnissen von Selbstdarstellung
und Monumentalität an, die das Gebäude der
Stadt und den Benutzern vermitteln will. Das
fünfstöckige Hauptgebäude erhebt sich an
der Ecke zwischen Corso Monforte und Via Vi¬
vaio: Hier befinden sich die Eingangsportale
und das Atrium, in dem Salvatore Saponaro
eine Reihe von Hochreliefs schuf, deren The¬
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Abb. 9. (Bild Marco Introini)
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Abb. 10. (Bild Gabriele Basilico)
ma die Aufgaben der Provinzen sind (Wasser¬
wege, Bau von Strassen und Brücken). Dieser
Gebäudeteil ist in hellem Marmor gehalten,
während, nach der Zäsur durch einen hohen
Treppenturm, ein rückversetzter Korpus aus
Backsteinen beginnt, mit einem geometri¬
schen Muster, das vom Wechsel kleinerer Fel¬
der und grösserer Flächen im Fensterbereich
lebt. Erst beim Zusammentreffen mit dem
Istituto dei ciechi (Blindeninstitut) setzt sich
der Klinkerbaukörper nach vorn und präsen¬
tiert im Erdgeschoss zwei Basreliefs von Ivo
Soli. Ein weiter, eindrucksvoller Innenhof ver¬
bindet den neuen Bau mit dem angrenzenden
barocken Palazzo Isimbardi aus dem 16. Jahr¬
hundert. Die beiden Gebäude teilen sich ei¬
nen bezaubernden Park, der ebenfalls ins Pro¬
jekt einbezogen ist. Zum Corso Monforte hin
beschränkt sich der Palazzo della Provincia
auf ein Stockwerk, um den Gegensatz zum an¬
grenzenden historischen Palast, der hier seine
Hauptfassade hat, weniger krass erscheinen zu
lassen.
Abb. 10: Arengario. Enrico G. Griffini, Pier
Luigi Magistretti, Giovanni Muzio, Piero
Portaluppi, 1937-1942 und 1956. Piazza Duo¬
mo, Via Marconi 1-3, Via Rastrelli 1.
Der Arengario ist dem Domplatz zugewandt
und schliesst an den Palazzo Reale (Königs¬
palast) an, dessen sogenannte Manica Lunga,
der lange Ärmel, abgerissen wurde, um Platz
für den Bau zu schaffen und die Verbindung
zur dahinterliegenden Piazza Diaz zu ermög¬
lichen. Er sollte das Herz der faschistischen
Volksversammlungen und Kundgebungen
werden und gleichzeitig das urbanistische
Projekt zu Ende führen, das Giuseppe Mengoni, der Erbauer der Galleria Vittorio Ema¬
nuele, für den Platz entwickelt, aber nie ab¬
geschlossen hatte. 1926 leitete der neue Stadt¬
bauplan von Portaluppi und Semenza den ab¬
schliessenden Prozess der Gestaltung des
Domplatzes ein, 1929 kam der weite Vorplatz
an die Reihe, und 1934 wurde ein Wettbewerb
für einen monumentalen Turm ausgeschrie¬
ben, der j edoch ohne Ergebnis blieb. Erst 1937
folgt ein neuer, zweistufiger Wettbewerb, der
zur Vervollständigung des Platzes eine Log¬
gia für Versammlungen, eben ein Arengario,
vorsah, dazu die Verlängerung des Gebäudes
an der Südseite und einen weiteren Bau gegen¬
über dem Dom für die korporativen Arbeiter¬
organisationen, der aber nie realisiert wurde.
Den Wettbewerb gewann 1938 ein Architek¬
tenteam bestehend aus Griffini, Magistretti,
Muzio und Portaluppi. Sie schlugen zwei glei¬
chesymmetrische Gebäude an der Strasse zur
Piazza Diaz vor, die ihre Umgebung um acht
Meter überragen und so ein neues monu¬
mentales Tor bilden, das die historische Stadt
mit der modernen verbindet - ein Durchblick
zur Piazza Diaz.
Die Vorderfassaden drücken, obwohl
schmucklos gehalten, ein starkes Pathos aus:
Die übereinander angeordneten Rundbogen
sind gleich hoch wie die der angrenzenden
Paläste aus dem 19. Jahrhundert, das offene
Grundgeschoss prägen grosse Portale mit Ar¬
chi trav, die mit bandartig geflochtenen Basre¬
liefs von Arturo Martini eingerahmt sind. Der
linke Turm hat auch eine Freitreppe und be¬
herbergt die Galerie der Statuen und Stein¬
platten, den Saal der Wimpel, Erinnerungs¬
stücke und Ikonografien mit wichtigen Wer¬
ken von Künstlern wie Francesco Messina,
Mario Sironi, Marino Marini, Arturo Martini
und anderen.
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Abb. 14. (Bild Marco Introini)
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Abb. 11 und 12. (Bild Gabriele Basilico)
Abb. 11: Anbau der Banca Commerciale Ita¬
liana (Italienische Handelsbank). Piero Por¬
taluppi, 1928-1933. Largo Mattioli 3-5.
Im selben Jahr, in dem Portaluppi den Palaz¬
zo Crespi an der heutigen Piazza Meda baute,
erhielt er einen anderen bedeutenden Auftrag
ganz in der Nähe: den Anbau der Banca Com¬
merciale Italiana. Ein Turmgebäude, das die
benachbarte Apsis von San Fedele, den Palaz¬
zo Marino und den Palazzo degli Omenoni
aus ganz neuen Gesichtspunkten betrachtet.
Der Anbau schliesst sich an den hintersten
Teil des grossen Gebäudes an, das Luca Beltra¬
mi zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Piaz¬
za della Scala errichtete. Dank der Öffnung ei¬
ner neuen Verbindungsarterie zwischen Piaz¬
za della Scala und Corso Littorio (heute Mat¬
teotti) ergab sich für Portaluppi die Möglich¬
keit, seinen Bau einem kleinen Platz zuzu¬
wenden. Er bemächtigte sich hier der Sprache
der Novecentisten, die er mit historistischen
und sezessionistischen Zitaten vollkommen
frei abwandelte: schuppenartiges Dekor, ge¬
schwungene Tympana, geometrisierte Serlia¬
ne und anderes mehr. Das mit hellem Stein
verkleidete Gebäude mit seiner breiten Längs¬
front hat ein Grundgeschoss aus dunkelgrau¬
em Stein, in dem bogenförmige Eingänge an¬
dere, kleinere, mit Architrav ablösen. Mächti¬
ge Kolossalsäulen verbinden drei der insge¬
samt fünf Stockwerke. Breite Gesimse, waag¬
rechte Simse zur Betonung der Stockwer¬
ke und geometrisches Reliefdekor geben sich
spielerisch und zugleich eindruckerweckend,
wie es sich für einen Bankensitz gebührt. Der
Turm schliesst an den alten Palazzo degli
Omenoni an (den Portaluppi später aufstock¬
te) und reckt sich massiv in den Himmel, an
den Ecken noch durch Steinplatten verstärkt.
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Abb. 13. (Bild Gabriele Basilico)
Eine kleine Loggia ganz oben steht im Dialog
mit dem Glockenturm von San Fedele.
Abb.
12:
Palazzo Crespi. Piero Portaluppi,
1927-1930. Corso Matteotti 2, Piazza Meda.
Dieses Gebäude, das Portaluppi an der damals
eben erst geschaffenen Piazza Crispi (heute
Piazza Meda) und an der Einmündung zum
Corso Littorio (heute Corso Matteotti) errich¬
tete, gleichzeitig mit dem Anbau der Banca
Commerciale, hat grosse urbanistische Be¬
deutung. Es bildet das symmetrische Gegen¬
gewicht zum Komplex von Emilio Lancia zwi¬
schen Corso Matteotti und Via Montenapoleone. Trotz seiner Bestimmung als Wohnge¬
bäude einer bedeutenden Mailänder Familie,
für die der Architekt später auch einen wun¬
derschönen Palast am Corso Venezia realisier¬
te, setzt der Palazzo Crispi doch einen ent¬
scheidenden Akzent in der Neugestaltung der
faschistischen Stadt, und dies in einer Zone,
die zur Verbindungsachse zwischen Piazza
della Scala und Piazza San Babila werden
sollte.
Portaluppi spricht hier eine strengere Spra¬
che als gewöhnlich, ohne spielerische Über¬
schreitungen des Massstabs und unerwarte¬
te Betonungen wie Tympana, Loggien und
Schmuckelemente. Einzig an der kurzen, der
Piazza Meda zugewandten Fassade und ih¬
rem spiegelbildlichen Pendant am Corso Mat¬
teotti erlaubt er sich im Hauptgeschoss eine
Ausnahme mit Eckfenstern, die von eindrück¬
lichen Obelisken eingerahmt sind. Auffallend
ist der Kontrast zwischen der hellen Farbe des
eigentlichen Baukörpers und dem sehr dunk¬
len Stein des Grundgeschosses mit Portikus,
das ganz dem Handel vorbehalten ist. Das
Gebäude ist eigentlich eine Doppelkomposi¬
tion: einerseits das Kopfelement zum Platz
hin, das sich auch durch einen anderen Ab¬
schluss unterscheidet, und andererseits die
lange, homogene Front am Corso Matteotti,
deren zwei oberste Ebenen zurückversetzt
sind.
Abb. 13: Komplex für Büros, Geschäfte und
Wohnungen. Emilio Lancia, 1933-1936. Via
Montenapoleone 1, Corso Matteotti 5-9, Via
San Pietro all'Orto 5.
Lancias Bau beeindruckt durch seine Grösse:
Seine lange Front nimmt über die Hälfte der
einen Seite des Corso Littorio (heute Corso
Matteotti) ein und biegt dann, in stumpfem
Winkel, für ein weiteres Stück in die Via San
Pietro all'Orto ein. Das Gebäude, das Büros,
Geschäfte und Wohnungen beherbergt, fügt
sich mit einem Eckturm in die Via Montena¬
poleone ein: Er überragt den Rest des Kom¬
plexes, hat klare Linien, auf allen drei Seiten
leicht ausgeschmiegte, rechteckige Fenster
und eine luftige Bekrönung mit Balustrade,
die den letzten, zurückversetzten Stock abschliesst. Hier scheint sich der Einfluss der
langen, eben erst zu Ende gegangenen Zu¬
sammenarbeit mit Ponti deutlicher auszu¬
drücken. Die lange Front mit Portikus hinge¬
gen bezeugt eine persönliche Expressivität,
die Lancia, in gewissem Sinn, als Seelenver¬
wandten der metaphysischen Vorstellungs¬
welten eines De Chirico ausweist. Sie kann,
mit ihrer Vereinfachung der Ausdrucksfor¬
men, weder als rationalistisch bezeichnet
werden - im zweiten Stock beispielsweise
fügt der Architekt Balkone mit Bogen ein noch als klar novecentistisch. Die letzten bei¬
den Ebenen sind zurückversetzt und weisen
lange, ineinander übergehende Terrassen auf,
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Abb. 16. (Bild Marco Introini)
Abb. 15. (BildMarco Introini)
ein Thema, das im angrenzenden Bau Portaluppis (11) wieder aufgenommen wird. Lancias
Werk ist im übrigen dessen ideale Verlänge¬
rung, wobei es sich aber eine vollständige Auto¬
nomie bewahrt. Auf der gegenüberliegenden
Seite des Corso Littorio haute Lancia wenige
Jahre später eine offene Galerie, als Teil der
Transformationen für den grossen Palazzo del
Toro an der Piazza San Babila.
Abb. 14: Palazzo e Gallerie del Toro (Palast
und Galerie der Toro-Versicherungen). Emi¬
lio Lancia, Raffaele Merendi, 1935-1939.
Piazza San Babila 1-3.
1935 wurde die Galleria De Cristoforis aus dem
19. Jahrhundert abgerissen, die bis in die heu¬
tige Via Montenapoleone reichte. An ihrer
Stelle bauten Lancia und Merendi den Palaz¬
zo del Toro. In Erinnerung an die alte Passage
gestalteten sie das Erdgeschoss als offene Ga¬
lerie, die den Corso Vittorio Emanuele mit der
Piazza San Babila und dem neuen Corso Litto¬
rio (heute Corso Matteotti) verbindet. Die Ar¬
beiten für dieses eindrückliche, monumenta¬
le Mehrzweckgebäude mit Büros, Geschäften,
Wohnungen und einem Theater waren 1939
beendet und setzten am Platz einen starken
Akzent. Es handelt sich um eine Doppelkom¬
position: ein schmaler Eckbaukörper, ein Par¬
allelepiped, und daran anschliessend eine lan¬
ge Front - die zwischen dem dritten und dem
fünften Stock verglast ist - und schliesslich
der krummlinige Teil zum Corso Vittorio
Emanuele hin. Das Dekor umfasst zahlreiche
Basreliefs, Skulpturen und Mosaiken: beein¬
druckend der Stier auf Goldgrund in der Ga¬
lerie und die Skulpturen von Gigi Supino
oben auf der schmalen, dem Corso Matteotti
zugewandten Front.
Abb. 15: Torre snia (sNiA-Turm). Alessandro
Rimini, 1935-1937. Piazza San Babila, Corso
Matteotti s-11.
1935
begann der Bau des Turms für die Che¬
miefirma snia Viscosa, ein Gebäude mit 15
Stockwerken für Büros und Wohnungen, das
die Verbindung zwischen der Piazza San Ba¬
bila und dem Corso Matteotti abschliesst. Es
ist das erste Mailänder Hochhaus, ein «Wol¬
kenräuber» (rubanuvole), wie die damaligen
Zeitungen schrieben, mit einer Höhe von 59,30
Metern. Das war ein Rekord für Mailand, ein
starkes Signal für die Verwandlung der Stadt
und die Dynamik ihrer Industrieunterneh¬
men.
Die Architektur des Turms zeichnet sich
durch eine schlichte, klare Gestaltung der
Fronten aus, durch präzise Profile, durch Farb¬
kontraste zwischen dem Portikus und der Ein¬
rahmung der Fenster: heller Stein für die Ver¬
kleidung und grüner Marmor für die Balkone
und die horizontalen Simse, noch dunklerer
Marmor für den Portikus mit Architrav des
Grundgeschosses.
Ein niedrigerer Baukörper von fünf Stock¬
werken greift in die Via Montenapoleone hin¬
ein; er nimmt genau dieselben Elemente des
Turms auf und führt auch den Portikus fort.
Alessandro Rimini spricht hier die sorgfäl¬
tige, klare Sprache des Novecento, ohne
triumphalistische Motive, die das Regime
manchmal forderte. In den Innenräumen, wo
auch das kleinste Detail stimmt, wurden edle
Materialien verwendet: kostbarer Marmor
und Stuck und dunkles Holz, um die Moder¬
nität der Lifte und der Zugänge (zur Portier¬
loge, zu einem Lagerraum usw.) in den beiden
Atrien von überschaubarer Dimension zu be¬
tonen.
Abb. 16: Palazzo. Gio Ponti, Antonio Fornaroli, Eugenio Soncini, Giuseppe De Min,
Alessandro Rimini, 1939-1948. Piazza San
Babila, Corso Monforte 2-4.
Der Palazzo mit Portikus entstand als letzter
Bau während der ersten Phase der Transfor¬
mationen an der Piazza San Babila. Er nimmt
den ganzen Teil des Platzes zwischen Corso
Monforte und Via Borgogna ein und steht an¬
stelle der sogenannten «Venezianischen Häu¬
ser», die 1937 abgerissen wurden. Ein Spe¬
kulationsobjekt mit Büros und Wohnungen
in einer der prestigeträchtigsten Zonen der
Stadt. Das Architektenteam, das den Auftrag
erhielt, hatte schon vorher in dieser zentralen,
in Umwandlung begriffenen Zone gearbeitet.
Ein glatter Portikus mit Architrav öffnet sich
auf den Platz und die angrenzenden Strassen,
bildet mit seiner hellen Marmorverkleidung
einen Kontrast zu den umgebenden Gebäu¬
den. Die Fronten werden durch sich abwech¬
selnde Fenster und Fenstertüren gegliedert,
die auf Rahmen verzichten.
Eine Ausnahme bildet die Hauptfassade an
der Piazza San Babila, wo, unvermutet, auf
der Höhe des fünften und sechsten Stock¬
werks vier nichtmassstäbliche, mächtige Öff¬
nungen überraschen. Sie bestehen aus zwei
grossen, übereinander liegenden Glasfenstern
und werden von einem breiten Rahmen mit
geometrischem Muster eingefasst: vier riesige
Fenster, die ihren Blick aufdie moderne Stadt
richten. Ein für Ponti typisches Motiv, das sich
in seine besten grafischen Kreationen einreiht
und hier mit feinfühliger Monumentalität
ausgeführt ist. Der Bau war mit vielen Schwie¬
rigkeiten verbunden und wurde erst einige
Jahre nach dem Krieg abgeschlossen.
Aus dem Italienischen von Pia Todorovic
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