Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut, Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser HS 2011 Mirjam Bapst 6. Oktober 2011 „Eigentümlichkeiten der schweizerischen Parteienstruktur – Zur Typologie frühliberaler Massenparteien“ von Erich Gruner (1964) Zum Autor Erich Gruner war ein Schweizer Historiker und Politologe, der vom 5. Januar 1915 bis am 21. Februar 2001 lebte. Seine Arbeitsgebiete waren die Verbände, die Parteien und die politischen Institutionen der Schweiz. 1975 erhielt er von der Universität Lausanne einen Ehrendoktortitel. Parteibildung In der Einleitung des Textes geht Erich Gruner auf die Parteitheorie ein. Gemäss Maurice Duverger (1959) entstanden moderne Parteien im Zusammenhang mit Wahlen und Parlamenten. Dabei bilden sich zuerst Gruppen im Parlament, dann Wahlkomitees und schliesslich entsteht eine dauernde Verbindung zwischen diesen beiden, so genannte „Mutter-Zellen“. Als weiteren Wurzelgrund für Parteien dienen Institutionen, die ausserhalb von staatlichen Wahlen und Behörden liegen (Vereine, Zeitungen, Gewerkschaften, Kirchen…) Diese bilden einen älteren Parteityp, der vorwiegend im 19. Jh. entstanden ist. In der Schweiz sind Parteien aber Parteien nicht aus Parlamentsfraktion und Wahlkomitees entstanden, sondern direkt aus Organisationen des wahl- und stimmberechtigten Souveräns. Dieser von Gruner als frühliberale Massenpartei benannter Parteityp, der ein schwacher Organisationsgrad aufweist und nach Aussen vor allem durch den weltanschaulich-ideologischen Charakter erkennbar ist, ist kennzeichnend für die schweizerischen Verhältnisse. Rückstand der schweizerischen Parteienforschung Die Schweiz ist das einzige Land mit langer demokratischer Tradition, welches aber die Parteien kaum nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht hat, obwohl es schweizerische Parteien schon sehr lange gibt. Gründe für den Forschungsrückstand: Weil als selbstverständlich betrachtet; schon so lange existent: Staatsrecht kennt keine Parteien. Parteien werden im Verfassungsrecht und in der Gesetzgebung nicht erwähnt. Oder aufgrund schweizerischen gesamtstaatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen?: Aufgrund des Föderalismus, der sprachlichen Vielfalt und des kantonalen Aufbaus der Parteien? „Angst vor Publizität“: keine Fragen nach Mitgliederanzahl, nach Quellen der Wahlfinanzierung Weil in der Schweiz die Regierung nicht parteigebunden ist: Parteien haben nicht die gleiche gesellschaftliche Rolle wie im angelsächsischen Raum. Aspekt der Abneigung gegen zeitgeschichtliche Untersuchungen: Fast bis zur Gründung der Schweiz zurück existieren keine systematischen Untersuchungen der schweizerischen Vergangenheit Grund: es gab weder innen- noch aussenpolitisch vitale Streitfragen zu lösen. Hauptgrund für den Forschungsrückstand ist gemäss Gruner aber der besondere Charakter der schweizerischen Parteien. Die Parteien und die Fragestellungen in der Parteiforschung kann als Produkt der jeweiligen Landesgeschichte gesehen werden. Die schweizerischen Parteien sind Kinder eines verspäteten Glaubenskrieges, welcher das ganze 19. Jh. durchzieht und teils auch weiterhin gepflegt wird. Die Parteien haben wesentlich zur Erneuerung des in der Aufklärung gelockerten Konfessionalismus beigetragen. Dieser Glaubenskampf wirkt sich sogar in rein reformierten Gebieten auf die Parteibildung aus. Die Einführung des Proporzes in der Schweiz ist weniger mit der besseren Berücksichtigung gesellschaftlichwirtschaftlicher Interessen, sondern mit weltanschaulichen Gruppen begründet. Das konfessionelle Paritätsdenken wird ins Politische übertragen. Das Verständnis der Parteien in unserem Land ist das getreue Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut, Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser HS 2011 Mirjam Bapst 6. Oktober 2011 Ebenbild dieser Entwicklung. Die Parteien erscheinen als konfessionalistisch und unerwünscht und sind daher vom Standpunkt der Staatstheorie beider Extreme – Rechte und Linke – abzulehnen. Für die Konservativen stören die politischen Parteien den staatlichen Organismus. Sie möchten nur Wissenschaft von ruhenden Kräften und wandeln politisches und parteipolitisches Leben in Staatslehre um. Darin sieht Gruner eine der Wurzeln der Sprödigkeit der schweizerischen Parteiforschung. Die Liberalen dagegen ignorieren die Parteien zwar nicht vollkommen, reduzieren sie aber auf eine einzige, staatserhaltende, nationalliberale Partei, die freisinnige Partei, weil diese nach Carl Hilty (Berner Staatsrechtslehrer) als einzige keine dem Wesen des Staates selbst fremde und schädliche Elemente enthält. Daneben wären höchstens ideelle Schattierungen zugelassen. Dies führt gemäss Gruner zu Desinteressement gegenüber allen anderen Parteien und zur Rechtfertigung eines Quasi-Monopolismus der einen erlaubten, weil einzig vaterländischen, Partei. Walter Burckhardt, Nachfolger von Hilty auf dem Staatsrechtslehrstuhl in Bern, lässt 1914 die Partei als Forschungsgegenstand zu, aber nur unter folgendem Aspekt: Als Verfechter einer gesellschaftlichen Ordnung entziehen sich die Parteien einer wissenschaftlichen Betrachtung, aber als Vertreter einer Idee verlangen sie, beurteilt zu werden. Die bedeutungsvollste Wende unserer Parteiforschung fand 1944 statt, als Francois Lachenal die Funktion der politischen Partei im öffentlichen Recht untersuchte und einen état paritaire vorfand, der mit der bestehenden Verfassung nicht harmonisierte. Parteitypologie Sigmund Neumann unterscheidet die historischen Typen der Ins (Partei, die in der Regierung sitzt) und der Outs (Partei, welche sich in der Opposition befindet). In Ländern, wo die Parteien der Regierungsbildung, nicht wie im angelsächsischen Raum, nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten, trete naturgemäss die Unterscheidung nach weltanschaulichen, ideellen Gesichtspunkten in den Vordergrund. In der Schweiz gab es eine andere Entwicklung. Die Typusmerkmale der schwach organsierten Massenpartei mit weltanschaulichem Charakter sind durch eine geschichtliche Rückblende gewinnbar. So sind die schweizerischen Parteien nach Gruner „Kinder der Schweizer Volkrechte“: 1. Kinder, der für das schweizerische Staatsrecht so typischen direkten Demokratie mit Verfassungsund meist auch Gesetzesreferendum und entsprechendem Volksinitiativrecht. 2. Kinder, des schon früh eingeführten allgemeinen und gleichen, direkten Wahlrechts, welches seit den sechziger Jahren zudem ergänzt wird durch die Volkswahl der exekutiven und judikativen Behörden. 3. Kinder, der Einführung des Referendums, vor allem in seiner Frühform, dem sogenannten Vetorecht oder Abberufungsrecht: Die ersten schweizerischen Parteien tauchen im Kanton St. Gallen im Jahr 1831 auf, im ersten Kanton, welcher das Volksveto eingeführt hat. Nach Schaffung des Bundesstaates im Jahre 1848 übernehmen fast alle Kantone sukzessive in irgendeiner Form diese Einrichtung. Am entscheidendsten für die gesamtschweizerische Entwicklung soll gemäss Gruner der Durchbruch im Kanton Zürich gewesen sein. In einer historischen Rückblende wird erkennbar, dass die frühen politischen Bewegungen in der Schweiz drei Punkte gemeinsam haben: 1. Die Anwendung der Volksrechte setzt die parteimässige Organisation des Stimmvolkes, der Aktivbürgerschaft voraus. 2. Sie gibt einer bisher nur vage äussernden und nur in kleinen Ansätzen bestehenden Opposition Gelegenheit, sich fest zu formieren. 3. Die schweizerischen Parteien entstehen also alle als Outs, als oppositionelle Gruppen: Wenn sie mit ihrem Programm des demokratischen Ausbaus durchdringen, dann übernehmen sie die Regierung und werden zu Ins. In der Schweiz ist es ein „Sowohl-Als auch“, die Infragestellung der staatlichen Macht und der Anteilhabe an der staatlichen Macht. Ein und dieselbe Partei ist also häufig gleichzeitig Regierungs- und Oppositionspartei. Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut, Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser HS 2011 Mirjam Bapst 6. Oktober 2011 Historische Herleitung typischer Merkmale der schweizerischen Parteien Vier typisch schweizerische Grundzüge der schweizerischen Politik: 1. Der föderalistische Aufbau: Ein System gegenseitiger Abhängigkeit. Es ist ganz natürlich, dass kantonale Parteien, die im eigenen Kanton über eine Mehrheit verfügen, auf der Ebene der eidgenössischen Politik als Oppositionsparteien auftreten oder, dass kantonale Oppositionsparteien in eidgenössischen Beziehungen gouvernemental denken und handeln. 2. Die sprachlich-regionale Vielfältigkeit: das System gegenseitiger Abhängigkeit besitzt die weitere Besonderheit, dass auch Parteien derselben ideologischen Richtung in eine solche Doppelstellung geraten. 3. Das Mehrparteienregierungssystem: Die erste derartige Mehrparteienregierung ist die aus Radikalen und Konservativen zusammengesetzte sogenannte Berner Fusionsregierung von 1854. Von den Kantonen wurde diese Einrichtung auf den Bund übertragen. Exekutive ist praktisch nicht zu stürzen, weil Regierung und Opposition gemeinsam die Verantwortung übernehmen. 4. Die Opposition: Liegt nicht bei einer förmlichen ausserhalb stehenden, nicht an der Macht beteiligten besonderen Oppositionspartei, sondern ist verknüpft mit der von Fall zu Fall einnehmbaren Oppositionsstellung einer unter Umständen auch an der Regierung teilhabenden Partei. Das wichtigste Mittel der oppositionellen Politik ist das Referendum. Wird ermöglicht, weil sich die Mehrheitsverhältnisse in der Regierung und im Parlament nicht decken. Die typisch schweizerischen Züge der frühliberalen Massenpartei Der schwache Organisationsgrad der schweizerischen Massenpartei wird durch die besonderen politischen Verhältnisse unseres Landes ermöglicht: • Das Referendum: • Gestattet, die Volksmassen leicht und schnell zu mobilisieren. Ohne die Benötigung eines grossen Parteiapparates und einer straff organisierten Anhängerschaft, wesentlich ist der Stab und der Kader. In dieser Hinsicht erscheint das schweizerische Parteisystem als Spiegelbild unserer Milizarmee. • Erhöht die Schlagkraft der kleinen Partei; Chancen trotz Massenmedien. Auch kleine Parteien, die unter dem Mehrheitsverfahren nur geringe Wahlchancen haben, können dadurch eine recht aktive, zum Teil gefürchtete Politik treiben. Dem Referendum verdanken wir also vor allem die Erhaltung unserer kleinen Parteien. • Unsere Kleinräumigkeit und • Die Autonomie der kleinen Gruppen: • In der Schweiz sind die Parteien in kleinen Gruppen verankert, in lokalen, bezirksmässigen und kantonalen Organisationen, nicht aber in Landesparteien. Unsere gesamtschweizerischen Parteien sind ausgesprochene Dachorganisationen (mit Ausnahme der Sozialdemokratie), die keinen zentralen obersten Parteiapparat besitzen, sondern höchstens kleine, in der Amtsdauer beschränkte, leitende Gremien • In den schweizerischen Parteien tritt das demokratische Parteiparlament, die Delegiertenversammlung, relativ stark in den Hintergrund. Im Allgemeinen ist dem Schweizer die Selbständigkeit der Kantonalparteien viel wichtiger als eine demokratische Durchbildung des Parteikörpers bis zu den untersten Gliedern des Parteivolks • Innerhalb der kantonalen Parteien wird das Prinzip der starken Spitze besonders betont. Seminar: Soziologie der politischen Parteien Soziologisches Institut, Universität Zürich Prof. Dr. Hans Geser • • HS 2011 Mirjam Bapst 6. Oktober 2011 Die relative Stärke unserer kantonalen Regierungen: • Was den schweizerischen Parteien an Apparatur abgeht, wird durch eine stark hierarchisch autoritäre Zuspitzung nach oben hin gleichsam wettgemacht. • In den kantonalen Parteien fällt also die Machtkonzentration an der Spitze, in der engsten, kleinen, meist nur wenige Personen umfassende Parteileitung am meisten auf. • Dieses Charakteristikum muss man wie die anderen auch als Spiegelbild unserer politischen Verhältnisse sehen. Insbesondere die gouvernementale Stärke unserer städtischen und kantonalen Exekutivbehörden, die bekanntlich durch die Wahlen kaum angefochten werden, höchstens mit Hilfe des Referendums. Die Vielfalt unserer Presse: • Massenpresse fehlt fast ganz, dagegen hat die lokale Presse eine weit über ihren engen Rahmen hinausgehende Bedeutung. Diese Struktur schützt die schwach organisierte schweizerische Massenpartei. • Die schweizerische Presse zeichnet sich durch die grösstmögliche Zeitungsdichte aus, weil die Zeitungsandorte gleichmässig über das ganze Land ausgebreitet sind. • Von den ca. 370 politischen Zeitungen (Stand 1964) in der Schweiz haben die meisten ein respektables historisches Alter: mehr als zwei Drittel stammen aus dem 19. Jh. und mehr als ein Drittel sind heute über hundert Jahre alt. Insgesamt gibt es ca. 500 Zeitungen (auch reine Annoncenblätter miteingerechnet). Wegen dieser grossen Zeitungsstreuung sind die Auflageziffern sehr niedrig. Mehr als 70% der schweizerischen Zeitungen sind also ausgesprochene Kleinzeitungen. Nur 10% haben eine grössere Auflage als 50‘000, davon sind nur 6 politische Tageszeitungen. • Der Reichtum der Schweiz an Blättern mit kleinen Auflagen korreliert aber nun direkt mit unserer Parteistruktur: Von den erwähnten 370 politischen Blättern sind zwar nur 237 offizielle Organe von Parteien, aber von den 133, die sich als unabhängig und neutral ausgeben, sind wohl kaum mehr als 5 wirklich unabhängig. Alle andern stehen im Grunde mindestens einer bestimmten Parteikonstellation nahe Die betreffenden Redaktoren treten als Angehörige einer bestimmten Partei auf und stehen in der Regel sogar aktiv in der Parteipolitik. • Die Vielfalt unserer Presse hängt wesentlich mit unserer Kleinräumigkeit und der traditionellen, kulturellen Vielfältigkeit zusammen. • Die enge Verbindung von Presse und Parteien hängt wiederum mit dem geringen Organisationsgrad unserer Parteien zusammen. Die leichte Mobilisierbarkeit der ParteiAnhänger hat ihre leichte publizistische Erreichbarkeit zur Voraussetzung. Je geringer der organisatorische Apparat der schweizerischen Parteien, um so grösser ihre enge Bindung an ein Parteiorgan. Fazit Dieser Text ist der erste Versuch, die schweizerischen Parteien mit dem spezifischen Charakter des Landes in Verbindung zu bringen und ist daher bruchstückhaft. Wenn man die Verzahnung von Parteipolitik und Staatsaufbau, Staatsverfassung und kulturellem Leben beachtet, kann man dies nach Gruner mit einem Uhrwerk einer Schweizer Uhr vergleichen: die Einzelteile ergänzen sich gegenseitig so sehr, dass auch die leiseste Störung des Ganzen den Organismus zum Stocken bringen würde. Literatur Gruner, Erich (1964): Eigentümlichkeiten der schweizerischen Parteienstruktur. Politische Vierteljahresschrift, 5. Juli, S. 203-217.