Diktate und Lieblingsrollen

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Fortsetzung
müssen, und schon aus Prinzip
dagegen waren.
Das scheint manchmal ein Reflex zu sein.
Ja, wenn es grundlegende Veränderungen gibt, wie es historisch
betrachtet etwa die Einführung
der Eisenbahn war, und damit
einhergeht, dass Bahnhöfe aus
gigantischer
Stahlarchitektur
entstehen, dann sind sehr viele
Menschen darüber unglücklich.
Den Eiffelturm haben die meisten gehasst. In anderen Worten:
Wenn etwas einen historischen
Sprung markiert und nicht evolutionär in kleinen Schritten passiert, dann macht das Angst. Außerdem werden natürlich Gebäude, die eine überdimensionale Größe jenseits von Einfamilienhäusern haben, viel kritischer
betrachtet. Aber sie geben einer
Stadt eben einen besonderen
Charakter. Pläne aus dem antiken Rom veranschaulichen das.
Viele kleine Häuser und daneben
öffentliche Plätze und Gebäude,
die die Dimensionen komplett
sprengen. Die Piazza Navona ist
total überdimensioniert. Und
das ist es, was Rom ausmacht.
Sie sprechen sogenannte „Masterpläne“ an, wie sie in der Moderne Corbusier 1925 für Paris
entworfen hat. Aktuell werden
in China Städte aus einer Architektenhand aus dem Boden gestampft. Ist das ein Konzept für
die Zukunft?
Nein. Ein Architekt sollte so oft
wie möglich das Gegenteil von
dem machen, was von ihm verlangt wird. Heute wollen Regierungen und Investoren die Sicherheit des ökonomischen
Mehrwerts. Architekten sollen
die Basis dafür liefern, Pakete aus
Design, Mach- und Finanzierbarkeit schnüren. Die wirklich wichtigen Entscheidungen werden
getroffen, bevor der Architekt ins
Spiel kommt. Mir wäre es umgekehrt viel lieber. Nicht für die Voraussetzungen einen Entwurf zu
schaffen, sondern mit dem Entwurf die Voraussetzungen. Das
würde eine Architektur schaffen,
die einen Bestand über Generationen garantiert.
Lassen Sie uns über Architektur
und Moral sprechen. Großprojekte und Megastädte aus einer
Hand sind bestes Beispiel für
die Omnipotenzgefühle einzelner Architekten.
Wenn ich in Peking bei Diskussionen nachfrage, was für das urANZEIGE
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FREITAG, 19. JUNI 2009  DIE TAGESZEITUNG
„In manchen Wirtschaftsplänen“,
moniert Bernhard
Tschumi, „haben Gebäude gerade mal
einen Zeitwert von
20 Jahren“
bane Leben der Einwohner gemacht wird, wenn ich nachhake,
um zu erfahren, was es für die
Menschen bedeutet, wenn ganze
Viertel zerstört werden, um
Hochhäuser zu errichten, dann
sorgen schon die Fragen für Irritation. Und als Antwort kommt
etwas später: Machen Sie sich
keine Sorgen um die zwölfspurigen Straßen und die Gebäude
mit 25 Stockwerken. In 20 Jahren
reißen wir sie wieder ein. Es sind
sehr oft die Bauherren, die dem
Architekten eine Art Spielwiese
bieten, die, wenn man eitel ist,
allzu verführerisch wirkt.
Warum wird Architektur zum
Wegwerfprodukt?
Viel Architektur sollte sowieso
verschwinden, weil sie schlecht
ist. Und dann haben Gebäude in
manchen Wirtschaftsplänen gerade mal einen Zeitwert von 20
Jahren. Dann haben sie sich finanziert und den erwünschten
Profit gebracht. Ökonomisch logisch. Ich bin Architekt, kein Entwickler, kein Banker. Aber ich
muss an bestimmten Punkten
wissen, wie sie denken. Manhattan ist aus Gier gebaut, und trotzdem findet sich dort architektonische Intelligenz. In Schanghai,
Mumbai und Dubai leben die
treibenden Mächte aber von
kurzfristigen Kicks. Das wird an
vielen architektonischen Beispielen lesbar. Wir arbeiten gerade an einem Projekt in Santo Domingo für 40.000 Menschen.
Die Basis ist natürlich das ökonomische Interesse. Wir bauen
über 25 Jahre, das heißt, ich
musste eine Strategie entwickeln, die greift, auch wenn es
mich nicht mehr gibt. Die Sinn
hat, selbst wenn sich die Grundlage, warum diese Stadt entsteht,
komplett verändert. Und hier
schließt sich der Kreis: Manhattan ist aus Gier, aber auch mit einer urbanen Strategie entstanden – das wird heutzutage oft
vergessen. Strategien jenseits einer schnellen Bedürfnisbefriedigung sind in narzisstischen Zeiten schwer zu entwickeln.
KULTUR
Diktate und Lieblingsrollen
MIGRANTIN Die junge uigurische Künstlerin Suli Kurban verarbeitet in Theaterstücken
für die Münchner Kammerspiele und Hörfunkinterviews ihre Lebenswelt als Flüchtling
Wohnsiedlung entfernt, von sonnenbeschienenen Bauklotzbauten mit Kugelgrills in den Vorgärten und Blick auf den Olympiaturm – zweckmäßig, puppenhaushaft, begrünt. Zwischen den
Sperrholzbäumen führt Suli ein
Hörfunkinterview mit Isra, einer
irakischen Schülerin, die „auch
zum Theater“ will und die die
„unmotivierten Jungs“ in ihrer
Klasse nerven.
VON JOHANNA SCHMELLER
Einen Moment ihrer Flucht hat
sie nie vergessen, sagt Suli Kurban. Als die Uigurin zum ersten
Mal ein Asylantenheim betrat,
spätabends, hatte eine Mitarbeiterin drei Wassergläser bereitgestellt, für Suli, ihre Mutter und ihren Bruder, dazu Brot, Salz und
Kartoffeln.
„Es war diese Geste, dass jemand daran gedacht hat, ob wir
Hunger haben könnten.“ Es
klingt immer noch berührt, und
immer noch ungläubig. Suli zündet sich eine Zigarette an. Sie erzählt, wie ihr Schleuser von der
Absperrung aus dem kasachischen Zollbeamten zugepfiffen
hat, damit der sich die gefälschten russischen Pässe nicht ganz
so genau vornimmt und die uigurische Familie passieren lässt:
„Meine Mutter hat ihm alle Ersparnisse gegeben, damit er uns
bis zum Flughafen begleitet.“ Sie
bläst den Rauch in den Münchner Sommerhimmel und zieht
ihr Shirt zurecht. „Milano New
York Paris“ steht drauf.
Simulierter Unterricht
Bayerisches Füllwort
Fast zehn Jahre ist es her, dass Suli geflohen ist, über Kasachstan
und Frankfurt bis zu ihrer Tante
nach München, wo mit 500 Mitgliedern die größte uigurische
Gemeinde Europas lebt. Seither
ist viel passiert. Deutsch spricht
Suli akzentfrei, schickt ihren Sätzen manchmal ein bayerisches
„weißt“ hinterher, überlegt wenig, redet drauf los. Suli Kurban
treffen ist wie fliegen lernen, einem wird fast ein wenig
schwindlig von ihrem Tempo.
An einem Sommernachmittag sitzt Suli, inzwischen 20 Jahre
alt, regelmäßige Darstellerin der
Münchner Kammerspiele, freie
ARD-Reporterin und Trägerin
des Civis-Medienpreises, quer
auf einer Bank im Innenhof der
„Hauptschule der Freiheit“, zwischen noch farblosen Sperrholzkulissen. Proben, Lernen für den
Realschulabschluss, in Genua eine Fotoausstellung eröffnen –
und das war nur die letzte Woche.
Nach „Bunnyhill“ und dem
„Bastard-Festival“ sind die Kammerspiele erneut aus dem noblen Jugendstilhaus an der Maximilianstraße ausgerückt, hinein
in städtische Milieus. „Freiheit“
steht in großen schwarzen Lettern auf dem Flachbau am stark
befahrenen Schwabinger Ackermannbogen, wo ab heute Abend
Experimentaltheater mit Hauptschülern stattfinden wird.
Björn Bicker, als Dramaturg
bereits für die Stadtbegehung
„Doing Identity“ verantwortlich,
ist beteiligt, ebenso Christine
Umpfenbach, die für ihr Stück
„Fluchten“ vor einem guten Jahr
Lebensgeschichten von Migranten zu Bühnentexten umschrieb,
Malte Jelden, Peter Kastenmüller
– eine erprobte Mannschaft, an-
Milano New York Paris: Suli Kurban
Foto: Münchner Kammerspiele
„Traumberufe“ wird ein Abend
heißen, der ihre Lebenswelt aufgreift: die Frage nach der Perspektive. Schüler werden sich in
Lehrer verwandeln und den eigenen Großeltern Unterricht in
deutscher Geschichte erteilen.
Deutschdiktate,
Mädchengespräche, der Kampf von Lehrern
gegen die kürbiskernknackende
letzte Reihe sind andere Themen. Etliche Programmpunkte
verweisen auf Kulturunterschiede, etwa auf den Religionsunterricht, Glücksvorstellungen und
Sinnstiftung; im laufenden
Schuljahr stammen immerhin
13 Prozent
der
bayerischen
Hauptschüler aus Familien mit
„nicht-deutscher Verkehrssprache“, wie es im Amtsdeutsch
heißt. An bayerischen Gymnasien oder Realschulen sind es nur
4 Prozent.
Gefragt nach ihrer liebsten
Rolle, zögert Suli. Scarlett O’Hara
wäre das vielleicht, so verkitscht,
so unabhängig. Sulis Mutter hat
oft von ihr erzählt. In Deutschland nahm die ehemalige Managerin eines Großkonzerns Putzstellen an, belegte Integrationsund Sprachkurse. Über die
Flucht hatte sie in China nie mit
den Kindern gesprochen, bis die
Lage – „unterdrückt sein, im eigenen Land!“ – unerträglich wurde.
„Inzwischen ist es mir nicht
mehr peinlich, dass ich in einem
Asylantenheim gewohnt habe.
Aber damals habe ich immer behauptet, wir leben in einer Wohnung“, sagt Suli. Nicht immer war
sie mit ihren Eltern einer Meinung, und nicht immer ist es ihnen gelungen, die Tochter aufzufangen. „Schreib nichts weiter
drüber“, meint sie heute, denn
immer hat sie Menschen gefunden, die ihr geholfen haben. Drei
Weichenstellungen in ihrem Leben? Das Stück mit Christine
Umpfenbach, antwortet Suli
Kurban sehr schnell, dann die
Verleihung des Civis-Medienpreises und – „willste auch was
Negatives hören? Nein, muss
nicht? Na, dann auf jeden Fall die
Frau, die uns damals das Brot
hingestellt hat.“
SULI KURBAN
getreten, um zu beweisen, wie
Theater auf eine ganze Stadt ausstrahlen kann. Kurz vor der Premiere türmen sich vor der umfunktionierten „Hauptschule“
noch Kies, Schutt und Holzlatten.
Das verrostete Eingangstor
knarrt, fällt scheppernd hinter
Besuchern ins Schloss. Keine
zwanzig Meter ist der abgerockte
Bau von einer pastellbunten
■ „Hauptschule der Freiheit“. Premiere, 19. Juni, 16 Uhr
■ „Win-Place-Show“. Mit Suli Kurban. 20. Juni
■ „Draußen bleiben“. Regie: Alexander Riedel. Dokumentarfilm mit
Suli Kurban. Deutschland 2008
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Gestern debattierte der Hessische Landtag über den Streit, der
die diesjährige Vergabe des Hessischen Kulturpreises begleitete. Die christlichen Preisträger
Kardinal Karl Lehmann und ExKirchenpräsident Peter Steinacker wehrten sich dagegen, dass
der muslimische Autor Navid
Kermani mit ihnen ausgezeichnet würde. Daraufhin erkannte
das von Ministerpräsident Ro-
land Koch geführte Kuratorium
Kermani die Auszeichnung ab.
Die Grünen erhoben gestern
schwere Vorwürfe gegen Koch –
er stoße nicht zum ersten Mal Migrantinnen und Migranten vor
den Kopf, sagte die Abgeordnete
Sarah Sorge in Wiesbaden. „Die
Preisvergabe für Toleranz ist an
Intoleranz gescheitert.“
Die Welt ist nicht fair. Valeria
Bruni-Tedeschi ist eine hinreißende Schauspielerin. Wer sie
sieht, verliebt sich in sie – man
denke nur an ihren Auftritt als
Bäckersfrau im rosa Angorapullover in Claire Denis’ „Nénette et Boni“ (1996). Aber seit ihre
Schwester, das Model Carla
Bruni, sich mit Nicolas Sarkozy
vermählte, hat niemand mehr
Augen für Valeria Bruni-Tedeschi. Nicht mal Woody Allen, der
bei der Vorstellung seines neuen
Films „Whatever Works“ am Donnerstag in New York sagte, er wolle unbedingt mit Carla Bruni drehen. Trottel!
„Mir ist nicht mehr
peinlich, dass ich in
einem Asylantenheim
gelebt habe; ich habe
behauptet, es sei
eine Wohnung“
UNTERM STRICH
Der italienische Schriftsteller
Claudio Magris erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Magris trete für ein Europa ein, das sein Selbstverständnis nicht allein aus ökonomischen Gesichtspunkten beziehe,
sondern „seine geschichtliche
und kulturelle Tradition und
Vielfalt bedenkt und darauf beharrt“, sagte der Vorsteher des
Börsenvereins des Deutschen
Buchhandels, Gottfried Honnefelder, am Donnerstag in Berlin.
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