16 Fortsetzung müssen, und schon aus Prinzip dagegen waren. Das scheint manchmal ein Reflex zu sein. Ja, wenn es grundlegende Veränderungen gibt, wie es historisch betrachtet etwa die Einführung der Eisenbahn war, und damit einhergeht, dass Bahnhöfe aus gigantischer Stahlarchitektur entstehen, dann sind sehr viele Menschen darüber unglücklich. Den Eiffelturm haben die meisten gehasst. In anderen Worten: Wenn etwas einen historischen Sprung markiert und nicht evolutionär in kleinen Schritten passiert, dann macht das Angst. Außerdem werden natürlich Gebäude, die eine überdimensionale Größe jenseits von Einfamilienhäusern haben, viel kritischer betrachtet. Aber sie geben einer Stadt eben einen besonderen Charakter. Pläne aus dem antiken Rom veranschaulichen das. Viele kleine Häuser und daneben öffentliche Plätze und Gebäude, die die Dimensionen komplett sprengen. Die Piazza Navona ist total überdimensioniert. Und das ist es, was Rom ausmacht. Sie sprechen sogenannte „Masterpläne“ an, wie sie in der Moderne Corbusier 1925 für Paris entworfen hat. Aktuell werden in China Städte aus einer Architektenhand aus dem Boden gestampft. Ist das ein Konzept für die Zukunft? Nein. Ein Architekt sollte so oft wie möglich das Gegenteil von dem machen, was von ihm verlangt wird. Heute wollen Regierungen und Investoren die Sicherheit des ökonomischen Mehrwerts. Architekten sollen die Basis dafür liefern, Pakete aus Design, Mach- und Finanzierbarkeit schnüren. Die wirklich wichtigen Entscheidungen werden getroffen, bevor der Architekt ins Spiel kommt. Mir wäre es umgekehrt viel lieber. Nicht für die Voraussetzungen einen Entwurf zu schaffen, sondern mit dem Entwurf die Voraussetzungen. Das würde eine Architektur schaffen, die einen Bestand über Generationen garantiert. Lassen Sie uns über Architektur und Moral sprechen. Großprojekte und Megastädte aus einer Hand sind bestes Beispiel für die Omnipotenzgefühle einzelner Architekten. Wenn ich in Peking bei Diskussionen nachfrage, was für das urANZEIGE www.taz.de [email protected] FREITAG, 19. JUNI 2009 DIE TAGESZEITUNG „In manchen Wirtschaftsplänen“, moniert Bernhard Tschumi, „haben Gebäude gerade mal einen Zeitwert von 20 Jahren“ bane Leben der Einwohner gemacht wird, wenn ich nachhake, um zu erfahren, was es für die Menschen bedeutet, wenn ganze Viertel zerstört werden, um Hochhäuser zu errichten, dann sorgen schon die Fragen für Irritation. Und als Antwort kommt etwas später: Machen Sie sich keine Sorgen um die zwölfspurigen Straßen und die Gebäude mit 25 Stockwerken. In 20 Jahren reißen wir sie wieder ein. Es sind sehr oft die Bauherren, die dem Architekten eine Art Spielwiese bieten, die, wenn man eitel ist, allzu verführerisch wirkt. Warum wird Architektur zum Wegwerfprodukt? Viel Architektur sollte sowieso verschwinden, weil sie schlecht ist. Und dann haben Gebäude in manchen Wirtschaftsplänen gerade mal einen Zeitwert von 20 Jahren. Dann haben sie sich finanziert und den erwünschten Profit gebracht. Ökonomisch logisch. Ich bin Architekt, kein Entwickler, kein Banker. Aber ich muss an bestimmten Punkten wissen, wie sie denken. Manhattan ist aus Gier gebaut, und trotzdem findet sich dort architektonische Intelligenz. In Schanghai, Mumbai und Dubai leben die treibenden Mächte aber von kurzfristigen Kicks. Das wird an vielen architektonischen Beispielen lesbar. Wir arbeiten gerade an einem Projekt in Santo Domingo für 40.000 Menschen. Die Basis ist natürlich das ökonomische Interesse. Wir bauen über 25 Jahre, das heißt, ich musste eine Strategie entwickeln, die greift, auch wenn es mich nicht mehr gibt. Die Sinn hat, selbst wenn sich die Grundlage, warum diese Stadt entsteht, komplett verändert. Und hier schließt sich der Kreis: Manhattan ist aus Gier, aber auch mit einer urbanen Strategie entstanden – das wird heutzutage oft vergessen. Strategien jenseits einer schnellen Bedürfnisbefriedigung sind in narzisstischen Zeiten schwer zu entwickeln. KULTUR Diktate und Lieblingsrollen MIGRANTIN Die junge uigurische Künstlerin Suli Kurban verarbeitet in Theaterstücken für die Münchner Kammerspiele und Hörfunkinterviews ihre Lebenswelt als Flüchtling Wohnsiedlung entfernt, von sonnenbeschienenen Bauklotzbauten mit Kugelgrills in den Vorgärten und Blick auf den Olympiaturm – zweckmäßig, puppenhaushaft, begrünt. Zwischen den Sperrholzbäumen führt Suli ein Hörfunkinterview mit Isra, einer irakischen Schülerin, die „auch zum Theater“ will und die die „unmotivierten Jungs“ in ihrer Klasse nerven. VON JOHANNA SCHMELLER Einen Moment ihrer Flucht hat sie nie vergessen, sagt Suli Kurban. Als die Uigurin zum ersten Mal ein Asylantenheim betrat, spätabends, hatte eine Mitarbeiterin drei Wassergläser bereitgestellt, für Suli, ihre Mutter und ihren Bruder, dazu Brot, Salz und Kartoffeln. „Es war diese Geste, dass jemand daran gedacht hat, ob wir Hunger haben könnten.“ Es klingt immer noch berührt, und immer noch ungläubig. Suli zündet sich eine Zigarette an. Sie erzählt, wie ihr Schleuser von der Absperrung aus dem kasachischen Zollbeamten zugepfiffen hat, damit der sich die gefälschten russischen Pässe nicht ganz so genau vornimmt und die uigurische Familie passieren lässt: „Meine Mutter hat ihm alle Ersparnisse gegeben, damit er uns bis zum Flughafen begleitet.“ Sie bläst den Rauch in den Münchner Sommerhimmel und zieht ihr Shirt zurecht. „Milano New York Paris“ steht drauf. Simulierter Unterricht Bayerisches Füllwort Fast zehn Jahre ist es her, dass Suli geflohen ist, über Kasachstan und Frankfurt bis zu ihrer Tante nach München, wo mit 500 Mitgliedern die größte uigurische Gemeinde Europas lebt. Seither ist viel passiert. Deutsch spricht Suli akzentfrei, schickt ihren Sätzen manchmal ein bayerisches „weißt“ hinterher, überlegt wenig, redet drauf los. Suli Kurban treffen ist wie fliegen lernen, einem wird fast ein wenig schwindlig von ihrem Tempo. An einem Sommernachmittag sitzt Suli, inzwischen 20 Jahre alt, regelmäßige Darstellerin der Münchner Kammerspiele, freie ARD-Reporterin und Trägerin des Civis-Medienpreises, quer auf einer Bank im Innenhof der „Hauptschule der Freiheit“, zwischen noch farblosen Sperrholzkulissen. Proben, Lernen für den Realschulabschluss, in Genua eine Fotoausstellung eröffnen – und das war nur die letzte Woche. Nach „Bunnyhill“ und dem „Bastard-Festival“ sind die Kammerspiele erneut aus dem noblen Jugendstilhaus an der Maximilianstraße ausgerückt, hinein in städtische Milieus. „Freiheit“ steht in großen schwarzen Lettern auf dem Flachbau am stark befahrenen Schwabinger Ackermannbogen, wo ab heute Abend Experimentaltheater mit Hauptschülern stattfinden wird. Björn Bicker, als Dramaturg bereits für die Stadtbegehung „Doing Identity“ verantwortlich, ist beteiligt, ebenso Christine Umpfenbach, die für ihr Stück „Fluchten“ vor einem guten Jahr Lebensgeschichten von Migranten zu Bühnentexten umschrieb, Malte Jelden, Peter Kastenmüller – eine erprobte Mannschaft, an- Milano New York Paris: Suli Kurban Foto: Münchner Kammerspiele „Traumberufe“ wird ein Abend heißen, der ihre Lebenswelt aufgreift: die Frage nach der Perspektive. Schüler werden sich in Lehrer verwandeln und den eigenen Großeltern Unterricht in deutscher Geschichte erteilen. Deutschdiktate, Mädchengespräche, der Kampf von Lehrern gegen die kürbiskernknackende letzte Reihe sind andere Themen. Etliche Programmpunkte verweisen auf Kulturunterschiede, etwa auf den Religionsunterricht, Glücksvorstellungen und Sinnstiftung; im laufenden Schuljahr stammen immerhin 13 Prozent der bayerischen Hauptschüler aus Familien mit „nicht-deutscher Verkehrssprache“, wie es im Amtsdeutsch heißt. An bayerischen Gymnasien oder Realschulen sind es nur 4 Prozent. Gefragt nach ihrer liebsten Rolle, zögert Suli. Scarlett O’Hara wäre das vielleicht, so verkitscht, so unabhängig. Sulis Mutter hat oft von ihr erzählt. In Deutschland nahm die ehemalige Managerin eines Großkonzerns Putzstellen an, belegte Integrationsund Sprachkurse. Über die Flucht hatte sie in China nie mit den Kindern gesprochen, bis die Lage – „unterdrückt sein, im eigenen Land!“ – unerträglich wurde. „Inzwischen ist es mir nicht mehr peinlich, dass ich in einem Asylantenheim gewohnt habe. Aber damals habe ich immer behauptet, wir leben in einer Wohnung“, sagt Suli. Nicht immer war sie mit ihren Eltern einer Meinung, und nicht immer ist es ihnen gelungen, die Tochter aufzufangen. „Schreib nichts weiter drüber“, meint sie heute, denn immer hat sie Menschen gefunden, die ihr geholfen haben. Drei Weichenstellungen in ihrem Leben? Das Stück mit Christine Umpfenbach, antwortet Suli Kurban sehr schnell, dann die Verleihung des Civis-Medienpreises und – „willste auch was Negatives hören? Nein, muss nicht? Na, dann auf jeden Fall die Frau, die uns damals das Brot hingestellt hat.“ SULI KURBAN getreten, um zu beweisen, wie Theater auf eine ganze Stadt ausstrahlen kann. Kurz vor der Premiere türmen sich vor der umfunktionierten „Hauptschule“ noch Kies, Schutt und Holzlatten. Das verrostete Eingangstor knarrt, fällt scheppernd hinter Besuchern ins Schloss. Keine zwanzig Meter ist der abgerockte Bau von einer pastellbunten ■ „Hauptschule der Freiheit“. Premiere, 19. Juni, 16 Uhr ■ „Win-Place-Show“. Mit Suli Kurban. 20. Juni ■ „Draußen bleiben“. Regie: Alexander Riedel. Dokumentarfilm mit Suli Kurban. Deutschland 2008 Mehr über Claudio Magris lesen Sie auf Seite 2. Gestern debattierte der Hessische Landtag über den Streit, der die diesjährige Vergabe des Hessischen Kulturpreises begleitete. Die christlichen Preisträger Kardinal Karl Lehmann und ExKirchenpräsident Peter Steinacker wehrten sich dagegen, dass der muslimische Autor Navid Kermani mit ihnen ausgezeichnet würde. Daraufhin erkannte das von Ministerpräsident Ro- land Koch geführte Kuratorium Kermani die Auszeichnung ab. Die Grünen erhoben gestern schwere Vorwürfe gegen Koch – er stoße nicht zum ersten Mal Migrantinnen und Migranten vor den Kopf, sagte die Abgeordnete Sarah Sorge in Wiesbaden. „Die Preisvergabe für Toleranz ist an Intoleranz gescheitert.“ Die Welt ist nicht fair. Valeria Bruni-Tedeschi ist eine hinreißende Schauspielerin. Wer sie sieht, verliebt sich in sie – man denke nur an ihren Auftritt als Bäckersfrau im rosa Angorapullover in Claire Denis’ „Nénette et Boni“ (1996). Aber seit ihre Schwester, das Model Carla Bruni, sich mit Nicolas Sarkozy vermählte, hat niemand mehr Augen für Valeria Bruni-Tedeschi. Nicht mal Woody Allen, der bei der Vorstellung seines neuen Films „Whatever Works“ am Donnerstag in New York sagte, er wolle unbedingt mit Carla Bruni drehen. Trottel! „Mir ist nicht mehr peinlich, dass ich in einem Asylantenheim gelebt habe; ich habe behauptet, es sei eine Wohnung“ UNTERM STRICH Der italienische Schriftsteller Claudio Magris erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Magris trete für ein Europa ein, das sein Selbstverständnis nicht allein aus ökonomischen Gesichtspunkten beziehe, sondern „seine geschichtliche und kulturelle Tradition und Vielfalt bedenkt und darauf beharrt“, sagte der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder, am Donnerstag in Berlin.