wir müssen geschichte bewahren

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»WIR MÜSSEN
G E S C H I C H T E B E WA H R E N «
D e r n i e d e r l ä n d i s c h e A r c h i t e k t R e m Ko o l h a a s , 7 0 , ü b e r
d i e Ku n s t d e s g e l u n g e n e n U m b a u s
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Interview MARIANNE WELLERSHOFF
Foto CHRIS McANDREW
ku lt u r s p i e g e l : Herr Koolhaas, Anfang Mai wird in
Mailand die Fondazione Prada eröffnet. Für dieses neue
Kunstmuseum haben Sie eine Alkoholfabrik umgebaut. Dominiert wird das Gelände von einem Turm mit einer Fassade
aus Blattgold. Ist das ein provokanter Hinweis darauf, dass
eine Luxusmarke hinter dem Projekt steht?
rem ko ol h a a s : Nein, das hat damit nichts zu tun. Wir
wollten zeigen, dass eine hauchdünne Schicht ein unscheinbares Gebäude völlig verwandeln kann. Uns geht es
bei der Fondazione Prada um ein Spektrum von Materialien
und Farben. Das Gold markiert die eine Seite des Spektrums,
an der anderen Seite befindet sich das eher langweilige Grau
der alten Gebäude und der weiße Beton des neuen Turms.
Prada haben wir viel Energie darauf verwendet, die Be ziehung zwischen Alt und Neu herauszuarbeiten. Zum Beispiel werden die Fensterumrisse des Altbaus durch das
Tageslicht auf halbtransparente Flächen im Neubau projiziert.
Wieso ist das Bewahren von Architektur für Sie so interessant?
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich mehr und mehr
Aufmerksamkeit auf eine immer kleinere Zahl von Architekten konzentriert. Und von denen wurden immer spektakulärere Bauten erwartet.
Sie gehören als Pritzker-Preisträger selbst zu diesem elitären
Zirkel und haben mit Gebäuden wie der Zentrale des chinesiWas haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal die rund hun- schen Fernsehens in Peking viel Wirbel gemacht.
Ja, aber wir haben uns in unserem Büro zunehmend undert Jahre alten Fabrikgebäude sahen?
Ich fand sie unspektakulär. Aber solche Industriebauten wohl mit der Verpflichtung gefühlt, uns selbst dauernd zu
mit ihrer schlichten Architektursprache sind weltweit sehr überbieten. Und dann haben wir das Thema Bewahren für
populär als Museumsbauten. Warum? Als wir vor vielen uns entdeckt, denn es erfordert Intelligenz, Präzision und
Jahren am Wettbewerb für den Umbau der Tate Modern in Kreativität, ohne dass man die Erwartung eines großen SpekLondon teilgenommen haben, hat man uns explizit gesagt: takels erfüllen muss. Bei Umbauten geht es mehr um KonKünstler wollen eine klare Industriearchitektur, sie wollen keine zepte statt um Effekte.
Räume, die ihre Werke herausfordern. Sie wollen
offensichtlich überhaupt keine »Architektur«.
FOTO: CHRIS MCANDREW / CAMERA PRESS (L.)
Allerdings sind Sie kein Architekt, dem es reicht,
eine Halle leerräumen und weiß anpinseln zu lassen.
Richtig. Unser Ziel war, dass Alt und Neu zusammenwachsen zu einem Hybriden. Wir haben
endlose Listen erstellt, über welche Kunstwerke die
Stiftung verfügt, dann Bestandsanalysen der Gebäude gemacht, wir haben uns den Kopf darüber
zerbrochen, wie man die Besucher durch die Gebäude lenkt, wie man mit den vorhandenen Räumen umgeht. Und dann haben wir ergänzt, was fehlte: vor allem ein zentraler, großer Ausstellungsraum.
Da es, wie Sie sagen, schon viele Museen in ehemaligen Industrieanlagen gibt, hätten Sie auch den
Abriss und einen spektakulären Neubau vorschlagen können.
Das war nie Thema. Außerdem bin ich ganz generell der
Meinung, dass wir keine Bauten abreißen sollten, die noch
benutzbar sind.
Modell der Fondazione Prada in Mailand
Vermutlich sind auch die vielen Vorschriften für Umbauten
eine intellektuelle Herausforderung.
Nein, keine intellektuelle Herausforderung, aber es ist
manchmal mühsam, heutige Vorschriften auf alte BausubNicht alles, was funktioniert, ist aus ästhetischen Gründen er- stanz anzuwenden. Das beginnt mit den rollstuhlgerechten
haltenswert. Mit einer Ikone kann ein Architekt sich auch mehr Eingängen, dafür muss man Rampen und Aufzüge planen,
es muss Platz für den Wendekreis geben und bestimmte Türprofilieren als mit einem Umbau.
Unser Ehrgeiz ist es, möglichst intelligente Entwürfe zu ma- breiten. Manchmal bleibt da nur ein architektonischer Einchen und nicht möglichst spektakuläre. Bei der Fondazione griff, den man eigentlich so nicht wollte.
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Muss ein Bauwerk ein bestimmtes Alter oder vielleicht auch
eine bestimmte Prominenz haben, damit wir seinen Wert
überhaupt erkennen können?
Die Idee des Erhaltens entstand mit Beginn der Moderne.
Im 19. Jahrhundert fand man im Wesentlichen erhaltenswert,
was mindestens 2000 Jahre alt war. Heute entscheiden wir
schon bei der Planung eines Gebäudes, wie lange es existieren soll. Anfangs fand man historische Monumente erhaltenswert, dann auch deren Umgebung, dann Stadtviertel und
schließlich große Flächen. In der Schweiz gehört die gesamte
Räthische Bahn zum Unesco-Welterbe. Die Dimensionen
und das Repertoire des Erhaltenswerten haben sich dramatisch erweitert.
Gibt es Bauten aus den letzten Jahren, die man besser hätte
erhalten sollen?
Die Berliner Mauer zum Beispiel. Von der gibt es nur noch
Bruchstücke, weil damals niemand wusste, wie man mit diesem
Monument richtig umgeht. Ich finde das bedauerlich.
In meiner Generation ging es darum, neue Herausforderungen zu meistern, und wir konnten uns mit den Idealen der
Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit identifizieren. In einer solchen Kultur ist das Interesse an Neuem groß. Der nächsten Generation geht es
dagegen um Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit – zu
diesem Lebensstil passt es, dass die Menschen in Häusern
wohnen wollen, die schon eine Geschichte haben.
Gibt es die Gefahr, dass so viel originalgetreu konserviert wird,
dass die Städte zu einem Disneyland werden?
Nein, jedenfalls nicht, wenn Architekten die Verantwortung haben. Manche arbeiten mit dem Stilmittel der Moderne – Konfrontation und Kontrast –, andere mit dem der Postmoderne, der Simulation und Ähnlichkeit. Wenn Simulation
als Stilmittel überreizt wird, könnte eine Pseudo-Authentizität
entstehen. Die eigentliche Gefahr besteht aber in kommerziellen Interessen.
Auch Sie müssen Marktinteressen genügen: In der Fondazione Prada gibt es einen Museumsshop und ein von Wes Anderson gestaltetes Museums-Café.
Stimmt, aber es kommt darauf an,
für kommerzielle Anforderungen intelligente Lösungen zu finden und keine
platten. In der Fondazione Prada bauen
wir einen Buchladen und keinen Souvenirshop, und das Café wird ein erkennbar nichtauthentischer Nachbau
einer typischen Mailänder Kaffeebar
sein.
In Paris bauen Sie die Galeries Lafayette
im denkmalgeschützten Marais zu einem
Museum um. Mehrere Ihrer Entwürfe
Und was denken Sie über die Betonarchitektur der Sechziger- wurden abgelehnt, weil sie einen Teilabriss erforderten. Nun
jahre, den Brutalismus? Schützenswert – oder kann das weg? wird das Gebäude nicht umgebaut, sondern nur mit einem
Manches sollten wir erhalten. Es wäre Wahnsinn, wenn komplexen Aufzug im Innenhof erweitert. Frustriert Sie das?
Wenn ich es vom Ende her denke, nicht. Denn die Böden
eine ganze Periode Architekturgeschichte, die weltweit die Städte geprägt hat, verschwinden würde, weil man den Stil plötzlich in dem Aufzug lassen sich hoch- und runterfahren, sodass
hässlich findet. Es geht hier um eine grundlegende Frage: Er- 49 verschiedene Raumaufteilungen möglich sind. Eine solche
intelligente Vielfalt hätten wir mit unseren ersten Vorschlägen
halten wir Architektur, oder erhalten wir Geschichte?
nicht erreicht.
Was ist Ihre Antwort?
Wir müssen Geschichte bewahren. Denn die nächsten In London sind in den vergangenen Jahren viele spektakuläre
Generationen sollen die Vergangenheit verstehen. Dafür Hochhäuser gebaut worden wie The Shard oder The Gherkin,
muss punktuell Geschichte bewahrt werden, und ein Gebäu- mehr als 200 weitere sind schon geplant. Was definiert eine
de kann Geschichte repräsentieren. Wenn man durch Rom Stadt mehr: der historisch gewachsene Bestand oder spektaspaziert, macht man eine Zeitreise durch mehr als 2000 Jahre. kuläre Neubauten?
Eine Metropole wie London wird niemals durch einzelne
Das ist wundervoll.
Wolkenkratzer geprägt werden, dagegen spricht allein die
Viele finden es heute attraktiver, in Altbauten zu wohnen als Größe und Vielfalt der Stadt. Das gefällt mir an Metropolen.
Nur bei kleineren, provinziellen Städten kann ein Monolith
in Neubauten. Woher kommt dieser Trend?
Modell für die Ergänzung der Galeries Lafayette in Paris
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das Bild verändern, wie der Museumsbau von
Frank Gehry in Bilbao.
Aber die Gesamtheit der Wolkenkratzer bestimmt
die Silhouette der Stadt. Und diese Bauten gehören
Privatinvestoren. Was halten Sie davon, dass Finanzfonds und superreiche Investoren mehr Einfluss haben auf das Stadtbild als die öffentliche
Hand?
Bis in die Achtzigerjahre lagen die Entscheidungen bei den Städten, und seitdem hat sich die
Macht verschoben hin zu den Privatinvestoren. In
Holland hat diese Verschiebung nichts Gutes bewirkt. Die Fläche zwischen Amsterdam und Rotterdam wurde vollgebaut und verbunden mit Autobahnen, an denen die üblichen Junkfood-Restaurants liegen. Ich bedauere es, dass die Städte
kein Geld mehr haben, um überhaupt eine Vision
ihrer Weiterentwicklung zu verfolgen.
Modell des Ausstellungsgebäudes The Garage in Moskau
Über Baugenehmigungen und Bauvorschriften können die Behörden aber viel Einfluss nehmen.
Nicht mehr so viel wie früher, als sie noch genug Geld
hatten, um selbst zu bauen. Aber die Städte agieren unterschiedlich: Hier in Rotterdam wird den Investoren viel Freiheit gelassen, in Berlin hat Hans Stimmann während seiner
Amtszeit als Senatsbaudirektor deutlich stärkere Vorgaben
gemacht.
FOTOS: OMA / PARTHESIUS (L.); IMAGE COURTESY OF OMA (R.)
Sie arbeiten selbst viel mit privaten Klienten zusammen. Mit
Miuccia Prada in Mailand, mit Dasha Zhukova, der Frau
des russischen Multimilliardärs Roman Abramowitsch, in
Moskau, für die sie ein ehemaliges sozialistisches Restaurant
zum Ausstellungsraum The Garage umbauen. Ist die Zusammenarbeit mit solchen Leuten leichter als mit der öffentlichen
Hand?
Nein, ich sehe da keinen prinzipiellen Unterschied. Aber
die Fondazione Prada und The Garage sind schon ziemlich
generöse Gesten gegenüber den Städten.
Vielleicht jubeln aber nicht alle Mailänder über diese Spendierfreudigkeit. Spektakuläre Umbauten, die ein großes Publikum anziehen, können sich für das umgebende Stadtviertel
auch negativ auswirken, wenn sie eine Gentrifizierung nach
sich ziehen.
Ich glaube, die sehr industrielle Umgebung der Fondazione
Prada in der Peripherie von Mailand ist dagegen relativ immun. Vielleicht wird es ein paar mehr Cafés geben, aber das
Museum wird das Viertel nicht völlig umkrempeln. Aber im
Prinzip haben Sie recht, das ist eine Gefahr. Für mich ist
Urbanität auch Diversität, also, dass Reich und Arm zusammenleben. Eine Homogenisierung wie Gentrifizierung ist
antiurban. Allerdings gibt es auch Beispiele dafür, wie ein
herausragender Bau einem armen Viertel nützen kann.
Können Sie uns eins nennen?
Das Centre Pompidou in Paris.
Schon der begrenzte Platz erfordert, dass nicht alle Gebäude
erhalten werden können. Wie schafft man ein funktionierendes
Gleichgewicht zwischen Erhalten und Abreißen?
Diese Frage beschäftigt uns intensiv. Wenn wir eine neue
Haltung gegenüber dem Bewahren entwickeln, dann brauchen wir auch eine neue Haltung gegenüber dem Abreißen.
Für Paris haben wir mal bei einem Wettbewerb einen radikalen Vorschlag gemacht: Das Viertel hinter La Defense besteht aus miserabler bis mediokrer Architektur, denn Ästhetik
spielte bei der Planung damals keine Rolle. Anstatt Paris auszuweiten, haben wir gesagt, man sollte dort jedes Gebäude
abreißen, das älter ist als 25 Jahre. Die Schönheit dieser Idee
ist, dass man alle 25 Jahre etwas Besseres erschaffen kann.
Vorhin haben Sie gesagt, man sollte nichts abreißen, was noch
funktioniert.
Das klingt nach einem Widerspruch, ist aber keiner. Die
ökonomische Logik ist heutzutage, Gebäude mit einer Lebenserwartung von 25 Jahren zu bauen. Was heutige Generationen bauen, ist also oft nicht nur architektonisch minderwertig, es hat auch nicht die Bausubstanz, die für eine
längere Lebensspanne geeignet ist.
Aber in Paris ist man Ihrem Vorschlag nicht gefolgt.
Nein, natürlich nicht. Aber das macht nichts, denn unser
Wettbewerbsbeitrag war trotzdem ein Statement. Für uns
ist die Balance zwischen Alt und Neu ein sehr, sehr wichtiges
Thema. Wir dürfen auch nicht sentimental auf alles schauen,
das ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Ohne Balance
laufen wir Gefahr, dass einige Städte ihr eigenes Museum
werden, während an anderen Orten hysterisch Neues aus
dem Boden gestampft wird.
A RCHIT E KT U R
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