DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:19 Seite: 4 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln 1.1 Einführung JedeSituation,inderwirentscheidenmüssen,wiewirhandeln,stelltanunsAnforderungen undAnsprüche.UmgekehrtmusssichunserHandelngenauandiesenAnsprüchenmessen lassen.DabeisindesnichtnurindividuelleoderprivateEntscheidungssituationen;auch Umweltkrisen,gesellschaftlicheProbleme,diewirtschaftlicheLage,politischeVerhältnisse, wachsendeMöglichkeitenderTechnikusw.fordernunszurStellungnahmeundzurHandlungheraus,ausderFüllederHandlungsoptionendiejenigezuwählen,diewirals‚gut‘ansehen,diewirvoruns(undanderen)verantwortenkönnen.DieFragenachdem‚richtigen‘ oder‚guten‘HandelnversuchtdieEthikzubeantworten,allerdingshandeltessichdabei wenigerumeinfestumrissenes,klargegliedertesSystem,alsvielmehrumReflexionen,derenjeweiligergesellschaftlicherBezugimmermitbedachtwerdenmuss. DieVielfaltethischerAnsätze,dieaufeinanderBezugnehmen,sichgegenseitigbedingen bzw.voneinanderabgrenzen,machteineersteOrientierungschwierig.AlbertSchweitzer hatEthikals‚Kompass‘gedeutet:„Unbefangennehmenwiran,dasssie[Ethik]indemSinne einGesetzist,dasssieinklarfestgelegtenundbegrenztenGebotengebietetundnurdurchausZweckmäßigesundErfüllbaresfordert.[…]DieEthikistnichteinParkmitplanvollangelegtenundgutunterhaltenenWegen,sonderneineWildnis,inderjedersichseinenPfad suchenundbahnenmuss.FeststehtnurdieRichtung,inderwirzugehenhaben.“ DasSuchendesrichtigenWeges,dieReflexion,setzteinBewusstwerdenbzw.Hinterfragen letzterPrinzipien,(Glaubens-)ÜberzeugungenundGrundwerte,dieunseremTunzugrunde liegen,voraus.Dieswirdinsbesonderedannwichtig,wennsichbeikomplexenProblemen Forderungenwidersprechen,weilesdannanunsist,abzuwägen,welcheAnsprücheVorrang haben,fürwelcheHandlungsalternativewirunsentscheiden.WeilimZugewachsender technischerMöglichkeitenundmediengestützterInformationentäglicheineFüllevonInformationen,SituationenundFragenanjedeneinzelnenvonunsherantritt,istgutesodergerechtes,verantwortlichesHandelnvordemHintergrundglobalerProblemevielschwieriger geworden. M 1 Einteilung der Ethik 5 10 15 20 Zahl der avisierten Personen Behandlung ethischer Aussagen Individualethik Begründung ethischer Aussagen Sozialethik Metaethik deskriptive Ethik Theologische Ethik 25 normative Ethik Jüdische Ethik angewandte Ethik (= Bereichsethik) Christliche Ethik … Protestantische Ethik Anwendungsbereiche Katholische Ethik Orthodoxe Ethik 30 Bioethik Islamische Ethik Hinduistische Ethik Mögliche Einteilung der Ethik … Medizinethik Umweltethik Religiös-philosophische Ethik Tierethik … Buddhistische Ethik Wirtschaftsethik Konfuzianische Ethik … Unternehmensethik Philosophische Ethik Informationsethik … Rationalismus Politische Ethik … Friedensethik Prinzipien/Werte Staatsethik … Teleologische Ethik 4 Wissenschaftsethik Deontologische Ethik Technikethik Verantwortungsethik Gesinnungsethik Utilitarismus Prinzipienethik Gegensätze Pflichtenethik Entsprechung … … DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:22 Seite: 5 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln M 2 Begriffsklärung Ulrich Körtner ist evange­ lischer Theologe und seit 1992 Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Abb. 1.1: Ulrich Körtner (* 1957) 5 10 15 20 25 30 Ethik ist die Theorie der Moral, d. h. die Reflexion, welche menschliches Handeln, anhand der Beurteilungsalternative von Gut und Böse bzw. Gut und Schlecht, auf seine Sittlichkeit hin überprüft. Die Aufgabe der Ethik besteht aber auch darin, die Begriffe ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zu bestimmen und die Normen und Werte, nach denen in einer Gesellschaft üblicherweise über Gut und Böse entschieden wird, einer beständigen Überprüfung zu unterziehen. Begriff und Disziplin der Ethik gehen auf Aristoteles zurück, der von einer ethischen Theorie […] gesprochen hat. Das Attribut ‚ethisch‘ leitet sich von der griechischen Vokabel ‚aethos‘ her, die den gewohnten Ort des Wohnens, im übertragenen Sinne Gewohnheit, Sitte, Brauch bezeichnet. Dem entspricht das lateinische Wort ‚mos, mores‘. […] Zur Ausbildung einer eigenständigen Ethik, d. h. einer Reflexion über vorgängige Moral, kommt es erst in dem Augenblick, wo die überlieferten Sitten ihre Selbstverständlichkeit verlieren und sich neu legitimieren müssen. Das geschieht zur Zeit des Aristoteles in der griechischen Polis aufgrund sozialer Umbrüche. Neben der Vokabel ‚aethos‘ gibt es im Griechischen noch das Wort ‚ethos‘, das mit ‚Gewohnheit‘ oder ‚Gewöhnung‘ zu übersetzen ist. Beide Wortstämme gehen in das deutsche Fremdwort Ethos ein, das für eine moralische Grundhaltung, eine Lebenshaltung oder einen bestimmten Typus von Sittlichkeit steht. Diese kann auch an die Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe von Menschen gebunden sein. So sprechen wir vom Berufsethos, z. B. vom ärztlichen Standesethos. Moral bezeichnet dagegen im heutigen Sprachgebrauch die Verhaltensnormen der gesamten Gesellschaft oder einer Gruppe, die aufgrund von Tradition akzeptiert und stabilisiert werden. Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik, Göttingen, 2. Auflage 2008, S. 49 M 3 Deontologische und Teleologische Ethik Martin Honecker ist evangelischer Theologe und war von 1969 bis 1999 Professor für Systematische Theologie/Sozialethik an der Universität Bonn. Die teleologische Argumentation (abgeleitet von télos, Ziel) misst ein Handeln am Ziel: am Ergebnis, das es bewirkt. […] Die deontologische Argumentation ist begrifflich abgeleitet von tó déon, die Pflicht, das Erforderliche, das Geforderte. Eine deontologische Ethik orientiert sich an Grundsätzen. Ihre Leitfrage ist: Was wird gesollt? Was soll ich wollen, und zwar unabhängig von empirisch-pragmatischen Erwägungen, ob es realisierbar ist? Das Beispiel einer deontologischen Argumentation ist Kants Ethik mit dem Pflichtgedanken und der Forderung des Kategorischen Imperativs. Deontologie beruft sich auf Gebote, Verbote, Moralprinzipien. […] Vor allem die theologische Ethik gilt traditionell als deontologische Ethik. Denn sie geht aus von Fragen wie den folgenden: Was ist der unbedingt geltende Wille Gottes? Was ist Gottes Gebot? Was ist die Forderung der Natur? Wenn freilich die metaphysische Begründung der Ethik, also eine Ableitung konkreter Einzelforderungen aus Gottes Willen, Gottes Gebot, aus der Ordnung der Natur problematisiert wird, dann erhält die teleologische Argumentation den Vorzug. Ethik kann man dann nicht mehr aus der Struktur einer ewigen Seinsordnung, eines unveränderlichen Naturrechts, aus dem Naturgesetz begründen. Ethisches Handeln hat sich an seinen eigenen sittlichen Zwecken zu legitimieren. […] Aufgrund der Diskussion um die Alternative von Teleologie oder Deontologie stellt sich die Frage, ob diese Alternative zwingend ist. […] Man wird in einer argumentierenden Ethik deshalb vorrangig teleologisch verfahren, also ein Prüfen der Handlungsfolgen vornehmen. Aber es gibt Grenzen der teleologischen (und utilitaristischen!) Argumentation. So kann beispielsweise kein noch so guter Zweck die Verletzung der Menschenwürde als oberster Norm rechtfertigen […]. Keine Güterabwägung legitimiert die Vernichtung eines Einzelnen in der Absicht, andere abzuschrecken. Eine gemäßigte Deontologie, wonach auch die Folge einer Pflichterfüllung zu prüfen ist, und eine teleologische Argumentation, die nicht alle Handlungen ausschließlich von ihren Folgen her bestimmt, bilden keinen kontradiktorischen Gegensatz. […] Ethik zielt auf das, was man gut bzw. sittlich gut, wertvoll nennt. Das ist ihr Telos. Sie hat für die Erreichung dieses Ziels freilich plausible ethische Argumente beizubringen. Man kann also von einer „deontologisch begründeten Teleologie“ […] sprechen. „Deontologisch“ ist der unbedingte Anspruch, die Verpflichtung auf das sittlich Gute, die Grundentscheidung für das Sittliche; „teleologisch“ ist dann die Anwendung der Grundsätze auf konkrete Situationen. Die sittliche Grundentscheidung kann deontologisch verstanden werden; die jeweilige Einzelentscheidung ist teleologisch zu begründen. Martin Honecker, Einführung in die theologische Ethik, Berlin 1990, S. 203–206 Anregungen zur Weiterarbeit 1. Formulieren Sie zu M 1 ethische Fragestellungen, die sie unter ‚Anwendungsbereichen‘ den jeweiligen ethischen Bereichen/Zuständigkeiten zuordnen (z. B. die Frage nach der ethischen Zulässigkeit von Tierversuchen – Tierethik – Bioethik). Ergänzen Sie ggf. die Grafik um weitere Bereiche. 5 5 10 15 20 25 30 35 40 45 DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:25 Seite: 6 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln M 4 Gerechte Auslese (Hans Traxler) „Im Sinne einer gerechten Auslese l­autet die Prüfungsfrage für Sie alle gleich: ­Klettern Sie auf den Baum!“ M 5 Zu den Anfängen ethischen Denkens Johannes Fischer ist evangeli­ scher Theologe und Professor für theologische Ethik in Zü­ rich. Er leitet dort das Institut für Sozialethik. Er ist zudem Mitherausgeber der ‚Zeit­ schrift für Evangelische Ethik‘. auf Brauch oder Sitte beruht und ob es daher ‚Gerechtigkeit‘ nur in einem relativen Sinne gibt als die Gerechtigkeit, die in Athen, oder als die Gerechtigkeit, die in Korinth gilt. Oder gibt es in einem absoluten Sinne die Gerechtigkeit, und wenn es sie gibt, worin besteht sie? Johannes Fischer u. a., Grundkurs Ethik, Stuttgart 2007, S. 20 f. M 6 Konzentrische Typisierung der Ethik Natur Le ben Abb. 1.2: Johannes Fischer (* 1947) 5 10 15 Obgleich die Geschichte der Ethik nicht das Thema […] ist, sei doch auf die besondere historische Konstellation hingewiesen, der wir das verdanken, was heute als ‚Ethik‘ geläufig ist. Sie hängt mit der Entstehung der griechischen Stadtstaaten und dem Zusammenwachsen des Mittelmeerraumes in der Zeit zwischen dem 8. und 5. Jh. v. Chr. zusammen. Die Geschichte der Ethik ist von ihren Anfängen an mit sozialen und politischen Entwicklungen und Konstellationen verknüpft gewesen. Sie ist keine reine Geistes-Geschichte, die sich lediglich in den Köpfen der Menschen abgespielt hat, sondern wesentlich Sozial-Geschichte. […] Der Beginn des ethischen Denkens wird durch die sog. Sophistik markiert. Die Sophisten waren philosophische Wanderlehrer, die im Mittelmeerraum herumkamen. Sie machten die Entdeckung, dass die Sitten und Bräuche an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich sein konnten und dass z. B. ‚Gerechtigkeit‘ am einen Ort etwas anderes bedeuten konnte als an einem anderen. Das warf die Frage auf, ob das, was unter ‚Gerechtigkeit‘ zu verstehen ist, nur 6 s f ä h i g e T i e re leiden Menschheit G ro ß g r u p p e , E t hn i e Nah g r u pp e Ich E T H I K Mensch eg ple oz entrisch e e s i o z e n tr is c h et h n anth o z e n t r is c h e r o p o z e n tri s c h e p at ho z en tris ch e b i o z e nt r i s c h e p h y s i o ze n t r i s c h e Günter Altner, Leben in der Hand des Menschen. Die Brisanz des technischen Fortschritts, Darmstadt 1998, S. 52 20 DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:25 Seite: 7 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln M 7 Ethische Urteilsfindung nach E. Tödt Heinz Eduard Tödt war evangelischer Theologe und von 1963–1988 Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Universität Heidelberg. 1977 veröffentlich­ te er seine Theorie sittlicher Urteilsfindung in sechs Schrit­ ten bzw. „Momenten“, die weniger ein Abfolgeschema darstellen, sondern Proble­ maspekte, die abzuarbeiten sind. Abb. 1.3: Heinz Eduard Tödt (* 1918, † 1991) 1. Problemwahrnehmung • Überprüfung der Wahrnehmung, ob ein Problem ein primär sittliches ist (bei komplexen Systemen spielt der Wahrnehmungshintergrund für die Lösung eine entscheidende Rolle) >> Worin liegt das (eigentliche) ethische Problem? >> Wie reagiere ich spontan auf das Problem? 20 2. Situationsanalyse • Untersuchung der Situation in ihren vielfältigen ­Aspekten und ihren relevanten Faktoren (z. B. gesellschaftlicher und politischer Zusammenhang) • Notwendigkeit, bestimmte Perspektiven der Informa­ tionsauswahl und -gewichtung wahrzunehmen >> Inwieweit ist die Situation problematisch (implizite Normen, Werthaltungen der Betroffenen usw.)? >> Wie ist der Konflikt entstanden? >> Wo gibt es Handlungsspielräume/Sachzwänge? 3. Verhaltensoptionen • Prüfung der Verhaltensalternativen >> Was ist zu tun, welche Handlungsalternativen ­bestehen? >> Welche Lösungsvorschläge (von wem?) bestehen ­bereits? 4. Normenprüfung • Die impliziten (bestehenden/bewährten) Normen werden expliziert und einem Urteil unterzogen >> Welche Überzeugungen stecken hinter den einzelnen Vorschlägen? Welchen kann ich zustimmen/welchen nicht? >> Gibt es andere Lösungen, wenn man das Problem aus anderen Überzeugungen heraus betrachtet? >> Sind alle Aspekte (Individual-, Personal-, Sozial- und Umweltverträglichkeit) berücksichtigt? 5. Urteilsentscheid • Berücksichtigung der „Ergebnisse“ des gewählten Verfahrens, Zusammenfassung aller bisher geleisteten Schritte • Bereitschaft des Verantwortungssubjektes, Stellung zu beziehen, den Urteilsentscheid mitzutragen und sich (bis zur Schuldübernahme) selbst einzusetzen >> Welcher dieser Lösungsvorschläge wird den Beteiligten am ehesten gerecht? >> Wie lassen sich Vor- und Nachteile dieser Lösung argumentativ vertreten? 6. Adäquanzprüfung • Rückblickende Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit der in Aussicht genommenen Verhaltensoptionen >> Kann ich bei der gewählten Lösung bleiben und ggf. mit den Folgen der Entscheidung leben? Kriterien der Selbstprüfung (C. Frey): • Berücksichtigung des Folgeprinzips im Sinne einer ­Verantwortungsethik • Frage nach der Kohärenz von Entscheidungen und ­Normen • Frage nach der Realisation • Frage nach selbstverständlich-unhinterfragten Leitvorstel­ lungen im Lebensalltag […] im Entscheidungsprozess • Frage nach umfassenden Perspektiven wie Optimismus, Pessimismus, Zielhaftigkeit der Welt etc. Vgl. Heinz Eduard Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: Repetitorium der Ethik, hg. von Christopher Frey, Peter Dabrock und Stephanie Knauf, Waltrup 1997 Anregungen zur Weiterarbeit 1. Diskutieren Sie Fischers Frage M 5 , ob es in absolutem Sinne Gerechtigkeit gibt und definieren Sie, worin eine absolute Gerechtigkeit bestehen müsste. 2. Worin lägen – auch im Hinblick auf M 6 – die ­Probleme einer absoluten Gerechtigkeit? 3. Erörtern Sie ausgehend von Tödts Modell M 7 das von Traxler angestoßene Problem einer (un)gerechten Auslese durch unser Bildungswesen M 4 . 4. Informieren Sie sich über eine der beiden ethischen Theorien und ihre bekanntesten Vertreter: a)die Pflichtenethik Immanuel Kants (und seinen kategorischen Imperativ), b)den Utilitarismus Peter Singers. 7 DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:29 Seite: 8 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln 1.2 Gesinnungs- und Verantwortungsethik M 1 Gesinnungsethik und Verantwortungsethik Max Weber war Soziologe, Jurist und Ökonom und lehrte u. a. an den Universitäten Berlin und München Jura und Ökonomie. In seinem Vortrag ‚Politik als Beruf‘ (1919) stellt Weber zwei Typen (politischer) Ethik einander dialektisch gegenüber. M 2 Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben Albert Schweitzer war evan­ gelischer Theologe, Philosoph, Organist und Musikwissen­ schaftler und lehrte an der Universität Straßburg. Mit 30 Jahren veränderte er sein Leben: Am bekanntesten ist sein Einsatz im Urwaldkran­ kenhaus Lambaréne. 1952 wurde er mit dem Friedens­ nobelpreis ausgezeichnet. 5 10 15 5 10 15 20 25 Abb. 1.4: Max Weber (* 1864, † 1920) Abb. 1.5: Albert Schweitzer (* 1875, † 1965) Wir müssen uns klarmachen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim“ – oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. […] [Auch der Nachweis negativer Folgen gesinnungsethisch motivierter Handlungen wird auf den Gesinnungsethiker] gar keinen Eindruck machen. Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, […] er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. „Verantwortlich“ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“ […] Wie in meinem Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, die man Lust nennt, und Angst vor der Vernichtung und der geheimnisvollen Beeinträchtigung des Willens zum Leben, die man Schmerz nennt: also auch in dem Willen zum Leben um mich herum, ob er sich mir gegenüber äußern kann, oder ob er stumm bleibt. Ethik besteht also darin, dass ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen. […] Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, dass er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht. Geht er nach dem Regen auf der Straße und erblickt den Regenwurm, der sich darauf verirrt hat, so bedenkt er, dass er in der Sonne vertrocknen muss, wenn er nicht rechtzeitig auf Erde kommt, in der er sich verkriechen kann, und befördert ihn von dem todbringenden Steinigen hinunter ins Gras. […] Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt. […] Mit drei Gegnern hat sich diese Ethik auseinanderzusetzen: mit der Gedankenlosigkeit, mit der egoistischen Selbstbehauptung und mit der Gesellschaft. Max Weber, Der Beruf zur Politik, in: Soziologie, Universalgeschicht­ liche Analysen, Politik, Stuttgart 1973, S. 174 f. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (1923), M ­ ünchen 1996, S. 327 ff. 8 20 5 25 10 30 15 35 20 25 30 35 DO01006566_S001_080.indd 28.09.2010 16:50:30 Seite: 9 [Farbbalken für Fogra39] BlacK Cyan Magenta Yellow 1 Ethik – Die Lehre vom guten Handeln M 3 Gegen eine relative Ethik 5 10 15 20 5 25 10 30 15 20 35 Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt. Wenn ich auf einsamem Pfade wandle, bringt mein Fuß Vernichtung und Weh über die kleinen Lebewesen, die ihn bevölkern. Um mein Dasein zu erhalten, muss ich mich des Daseins, das es schädigt, erwehren. Ich werde zum Verfolger des Mäuschens, das in meinem Hause wohnt, zum Mörder des Insekts, das darin nisten will, zum Massenmörder der Bakterien, die mein Leben gefährden können. Meine Nahrung gewinne ich durch Vernichtung von Pflanzen und Tieren. Mein Glück erbaut sich aus der Schädigung der Nebenmenschen. […] Die gewöhnliche Ethik sucht Kompromisse. Sie will festlegen, wieviel ich von meinem Dasein und meinem Glück dahingeben muss, und wieviel ich auf Kosten des Daseins und Glücks anderen Lebens davon behalten darf. Mit diesem Entscheiden schafft sie eine angewandte, relative Ethik. Was in Wirklichkeit nicht ethisch, sondern ein Gemisch von nichtethischer Notwendigkeit und Ethik ist, gibt sie als ethisch aus. […] Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut lässt sie nur Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse. Gebrauchsfertig zu beziehende Ausgleiche von Ethik und Notwendigkeit hält sie nicht auf Lager. Immer von Neuem und in immer originaler Weise setzt die absolute Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben sich im Menschen mit der Wirklichkeit auseinander. Sie tut die Konflikte nicht für ihn ab, sondern zwingt ihn, sich in jedem Falle selber zu entscheiden, inwieweit er ethisch bleiben kann und inwieweit er sich der Notwendigkeit von Vernichtung und Schädigung von Leben unterwerfen und damit Schuld auf sich nehmen muss. […] Ein Zwang, aller Kreatur alles irgend mögliche Gute anzutun, ergibt sich daraus für jeden von uns. Indem ich einem Insekt aus seiner Not helfe, tue ich nichts anderes, als dass ich versuche, etwas von der immer neuen Schuld der Menschen an der Kreatur abzutragen. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, 1923, S. 327 ff. M 4 Schweitzers Ethik in umweltethischer P ­ erspektive 25 Martin Gorke ist Biologe und Philosoph und lehrt Umwelt­ ethik an der Universität Greifswald. In seinem Aufsatz greift er die berechtigte Kritik an Schweitzers Ansatz auf, verdeutlicht aber gleichzei­ tig die Bedeutung der Ethik Schweitzers für die moderne (holistische) Umweltethik. Der Auszug zeigt Gorkes Anliegen exemplarisch am umstritte­ nen Schuldbegriff in Schweit­ zers Ethik. 30 35 Für den Schuldbegriff in seiner Ehrfurchtsethik ist Schweitzer viel gescholten worden. Ich halte die graduelle Verwendung dieses Begriffs angesichts des Fehlens einer objektivierbaren Grenzlinie zwischen gerechtfertigter und nicht gerechtfertigter Beeinträchtigung der Natur indes für die einzig konsequente Lösung […], [so] hält sie uns nämlich dazu an, dilemmatischen Situationen, wo immer möglich, aus dem Wege zu gehen. Mit einem Beispiel […] möchte ich diesen Effekt veranschaulichen. Ein Abenteuertourist trifft auf seinem Marsch entlang der Küste Spitzbergens auf einen Eisbären. Da dieser ihn angreift, muss er ihn erschießen, um sein eigenes Leben zu retten. Während der Tourist im Rahmen der gängigen ethischen Theorien unter der Voraussetzung einer Notwehrsituation eigentlich keinen Grund hätte, sich wegen dieser Tötung Gewissensbisse zu machen, wird er sich durch die absolute Ethik Schweitzers und das tiefe Bedauern über den Tod des Tieres vermutlich dazu veranlasst fühlen, eine solche Dilemmasituation in Zukunft zu meiden. Er wird beim nächsten Mal eine Route wählen, auf der ihm aller Wahrscheinlichkeit nach kein Bär mehr begegnen kann. Oder er wird vielleicht sogar ganz darauf verzichten, Gebiete aufzusuchen, die nun einmal Eisbärengebiete und keine Menschengebiete sind. Ob man eine solche Reaktion für wünschenswert oder für überzogen hält, hängt letztlich davon ab, welches Ethikverständnis man hat. Mit Wilhelm Vossenkuhl vertrete ich die Auffassung, dass Ethik nicht dazu da ist, die negativen Folgen des eigenen Handelns zu entschuldigen, sondern auf besseres Handeln hin zu orientieren. Teilt man diese Auffassung von der Orientierungsfunktion der Ethik, wird man Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als Kompass auch in Zukunft nicht missen wollen. Martin Gorke, Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als Wegbereiterin einer holistischen Umweltethik, in: Ethik des Le­ bens, hg. von Michael Hauskeller, Baden-Baden 2006, S. 259–274 Anregungen zur Weiterarbeit 1. Beziehen Sie Stellung zu Schweitzers Ethikkonzeption M 2 und M 3 : Welche Gesichtspunkte halten Sie für problematisch, welche Gesichtspunkte für besonders gelungen? 2. Beurteilen Sie Gorkes Antwort M 4 auf Schweitzers Schuldbegriff vor dem Horizont globaler (Umwelt-) Probleme. Abb. 1.6: Martin Gorke (* 1958) 9 5 10 15 20 25 30