FRP Working Paper 01/2014 Eine weitere second

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FRP Working Paper 01/2014
Eine weitere second-order election?
Die Wahlen zum Europaparlament 2014
von Alexander Cordes
März 2014
Cordes, Alexander:
Eine weitere second-order election? Die Wahlen zum Europaparlament 2014
Regensburg: März 2014
(Working Papers des Forums Regensburger Politikwissenschaftler –
FRP Working Paper 01/2014)
Das Forum Regensburger Politikwissenschaftler (FRP) ist eine Initiative des Mittelbaus des
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Reflexion und unter Bezugnahme auf aktuelle akademische Debatten originelle Positionen, Erkenntnisse und Problemlösungsvorschläge in einem Format zu präsentieren, das die Profile und
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FRP Working Paper 01/2014
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1. Einführung
Im Mai dieses Jahres finden zum achten Mal die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt.
2014 wird es dabei einige Neuheiten geben, unter anderem, da bei diesen Wahlen zum ersten Mal
die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon gelten. Jedoch betreffen die Änderungen nicht nur
institutionelle und gesetzliche Fragen, sondern auch das politische Klima, das nach Jahren der
Finanz- und Schuldenkrise von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist, was sich nachhaltig auf
Wahlen und Wahlkampf ausgewirkt hat. Oft war in den letzten Monaten die Befürchtung zu
hören, europakritische Kräfte könnten bei dieser Europawahl viele Mandate erobern (Stratulat/
Emmanouilidis 2013: 1), was die Arbeit des Parlaments aufgrund von Fundamentalopposition
und unter Umständen komplizierterer Mehrheitsfindung erschweren könnte. Begünstigt werden
die gestiegenen Erfolgsaussichten der antieuropäischen Kräfte durch die traditionell niedrige und
seit 1979 stetig weiter sinkende Wahlbeteiligung.1 Diese hängt mit der schwachen Wahrnehmung
europapolitischer Themen zusammen (Wüst/ Tausendpfund 2009: 5-6). In den Jahren seit dem
Beginn der Finanzkrise in mehreren europäischen Ländern ist diese allerdings deutlich gestiegen
und hat vor allem in nationale Wahlkampagnen Eingang gefunden, während andererseits
Europawahlen aufgrund verschiedener Faktoren nach wie vor national geprägt sind.
Dieses Paper soll darlegen, warum die Europawahlen grundsätzlich second-order elections,
also nationale Nebenwahlen sind. Dazu wird zuerst das Konzept solcher Wahlen erklärt und anschließend aufgezeigt, inwieweit Wahlen zum EP diesen Kriterien entsprechen. Ein Faktor, der
bei dieser Analyse besonders hervorgehoben werden muss, ist die noch unvollständige
Parlamentarisierung der EU, die als institutioneller Rahmen den Nebenwahlaspekt verstärkt.
Danach wird die seit einigen Jahren erfolgende Europäisierung nationaler Wahlen und Wahlkämpfe geschildert, die die Wahrnehmung europäischer Themen deutlich erhöht hat und langfristig möglicherweise ein steigendes europapolitisches Bewusstsein bei den Wählern erzeugt.
Abschließend wird eine Bewertung der gegenwärtigen Situation und ein Ausblick auf davon ausgehende mögliche Entwicklungen gegeben.
2. Das Konzept der second-order-elections
Karlheinz Reif und Hermann Schmitt prägten in ihrer Studie den Begriff der second-order elections
(1980: 3), meist übersetzt als nationale Nebenwahlen. Der Begriff steht im Gegensatz zu first-order
elections, also Hauptwahlen, die über eine Regierungsbildung entscheiden; je nach politischem
System eines Landes folglich Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen (1980: 8). Second-order
elections sind neben Europawahlen zum Beispiel auch Kommunalwahlen, in deren Wahlkämpfen
sich die Kandidaten oft auf Themen der übergeordneten Ebene beziehen, oder Nachwahlen. Reif
und Schmitt arbeiteten in ihrer Theorie verschiedene Dimensionen von Nebenwahlen heraus:
Zunächst wird als „less-at-stake“-Dimension beschrieben, dass die Konsequenzen von Nebenwahlen weniger spürbar sind als die von Hauptwahlen, die über Machtwechsel auf der nationalen
Ebene entscheiden (1980: 9). Dadurch sinkt das Interesse der Wähler (und somit deren Wahlbeteiligung). Außerdem bieten solche Wahlen unzufriedenen Wählern eine Plattform, diese Unzufriedenheit auszudrücken, wodurch Chancen für Oppositionsparteien steigen. Ebenso begünstigt diese Dimension - bedingt auch durch die niedrigere Wahlbeteiligung - kleinere Parteien,
die höheren Wählerzuspruch erfahren können als sonst.
1
Die Wahlbeteiligung lag 1979 bei 63 % und sinkt seitdem kontinuierlich (1984: 61 %, 1989: 58,5 %, 1994: 56,8 %,
1999: 49,8 %, 2004: 45,6 % sowie 2009: 43 %).
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Die „specific-arena“-Dimension soll ausdrücken, dass trotz alldem nicht nur nationale
Faktoren wichtig sind, sondern Nebenwahlen auch nach eigenen Regeln funktionieren (1980: 10).
Teilweise treten andere Parteien an und es bestehen andere politische Konstellationen. Zum Beispiel ist der volksbefragungsartige Charakter von Europawahlen für die proeuropäischen Parteien
dort problematisch, wo größere Teile der Wähler europakritisch eingestellt sind. In denselben
Ländern spielt das Thema Europa bei nationalen Wahlen eine nicht ausschließlich entscheidende
Rolle, weil mehrere wichtige Themen abgewogen werden.
Als institutionell-prozedurale Dimension wird bezeichnet, dass im Gegensatz zu
nationalen Wahlen Nebenwahlen unterschiedlich und weniger einheitlich organisiert sein können,
etwa was Legislaturperioden oder Wahlrecht betrifft. Reif und Schmitt gehen dabei davon aus,
dass das Interesse an Nebenwahlen umso mehr sinkt, je stärker diese Unterschiede sind (1980:
13).
Zur Wichtigkeit von Wahlkämpfen wird angemerkt, dass diese bei Nebenwahlen eine
größere Rolle spielen, weil um die Aufmerksamkeit der Wähler vielmehr geworben werden muss
als bei einer Hauptwahl (1980: 13-14). Sind die Medien weniger an Nebenwahlen interessiert, so
wird die Wählermobilisierung durch Politiker von der nationalen Ebene umso wichtiger (1980:
14).
Schließlich wird als Dimension des politischen sowie ökonomischen Wandels bezeichnet,
dass auch auf Nebenwahlebene genau diese Entwicklungen in Analysen einbezogen werden
müssen (1980: 15). So muss etwa berücksichtigt werden, dass heutzutage die Rolle religiöser
Überzeugungen bei der Herausbildung politischer Präferenzen sinkt (Straßner 2010: 63), während
das Umweltbewusstsein der Wähler immer wichtiger wird (Kuckartz 2008).
3. Die Aspekte von Europawahlen als nationale Nebenwahlen
3.1 Der second-order-Charakter der EP-Wahlen 1979 bis 2009
Seit der ersten Wahl des EP 1979 ist alle fünf Jahre zu beobachten, dass die Europawahlen die verschiedenen Dimensionen der Nebenwahlentheorie erfüllen. Es sind Wahlen mit
vergleichsweise niedriger und außerdem konstant sinkender Beteiligung, die als eine Art
Zwischenreferendum über die jeweiligen nationalen Regierungen gelten (Davidson-Schmich/
Davidson-Schmich 2005: 2)2 und sich außerdem an nationalen Themen orientieren und somit
einen tatsächlich europäischen Charakter klar verfehlen (Davidson-Schmich/ Davidson-Schmich
2005: 4).3 Kleinere oder radikalere Parteien erzielen oft vergleichsweise gute Ergebnisse.
Besonders deutlich ist das etwa im ohnehin EU-kritischeren Großbritannien, wo die antieuropäische United Kingdom Indepence Party bei Europawahlen erfolgreich ist - in der sie begünstigenden specific arena - während sie bei nationalen Wahlen kaum Zuspruch erfährt (Finke/
Zaschke 2014: 7).
Außerdem sind seit der ersten Wahl zum EP Europawahlkämpfe konstant national
orientiert geblieben. Bei jeder europäischen Wahl bisher lässt sich festhalten, dass nationale Belange Wahlkampf wie auch Berichterstattung dominiert haben (Lodge 2005: 4; Lodge 2010: 17).
Ein besonders deutliches Beispiel dafür war etwa der Europawahlkampf der CDU 2004, in
2
3
Die starke Rezeption der ersten EP-Wahl von 1979 seitens der Wähler lässt sich in diesem Zusammenhang als
Interesse an einer politischen Neuheit charakterisieren, das rasch nachließ (Hix/ Marsh 2011: 12).
Ironischerweise sind es oft die antieuropäischen, gegebenenfalls extremen Parteien, die im Europawahlkampf
europäische Themen ansprechen, allerdings freilich nur, um Fundamentalopposition effektiv vermitteln zu
können.
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welchem prominent mit Angela Merkel geworben wurde, die selbst gar nicht zur Wahl stand
(Davidson-Schmich/ Davidson-Schmich 2005: 28-29), was der in der second-order-These beschriebenen Mobilisierung durch nationale Politiker entspricht.
Michael Marsh bestätigte in seiner Studie nach vier Europawahlen 1998 ebenfalls die
Theorie. Auch er stellte fest, dass kleinere Parteien auf Kosten der großen an Stimmen dazugewinnen (1998: 602) und dass sich „anti-government swings“ feststellen lassen, die den
Charakter der EP-Wahlen als Stimmungstest den nationalen Regierungen gegenüber verdeutlichen (1998: 606). Besonders stark ausgeprägt sind die Dimensionen der Nebenwahlen-These in
Ländern mit einer Tradition häufiger Regierungswechsel, was laut Marsh daran liegt, dass die
Wichtigkeit der Hauptwahlen in diesen Ländern noch stärker mit dem untergeordneten Charakter
der Europawahlen kontrastiert (1998: 606).
Auch bei der letzten Wahl vor fünf Jahren wurde die Nebenwahlen-These ein weiteres
Mal bestätigt (Hix/ Marsh 2011: 4; Hobolt/ Spoon 2012: 718; Lodge 2010: 15, Maurer 2011:
381). Neben der Wahlbeteiligung, die erneut sank und mittlerweile bei nur noch 43 % lag, lässt
sich das besonders an den Verlusten der Regierungsparteien erkennen.4
Durch all diese verzerrenden Faktoren ist die Europawahl nur in Teilen als tatsächliche
Indikation europapolitischer Präferenzen seitens der Wähler zu sehen (Hix/ Marsh 2007: 507).
3.2 Gründe für EP-Wahlen als second-order-elections
Es gibt eine Reihe von Gründen dafür, dass die Wahlen zum EP derartige Defizite aufweisen. Der wichtigste davon ist sicherlich, dass bei Europawahlen deutlich weniger auf dem
Spiel steht als bei nationalen Wahlen (less at stake). Europawahlen werden von Wählern, Medien
und der Politik selbst als vergleichsweise weniger wichtig betrachtet, da Repräsentanten gewählt
werden, aber nicht über Regierungsbildung entschieden wird (Brettschneider/ Rettich 2005: 140144; Hix/ Marsh 2011: 5, Marsh 1998: 593).
Außerdem gibt es keine genuin europäischen Parteien, die in einem gemeinsamen Wahlkampf dementsprechende Themen behandeln könnten (Nugent 2010: 271). In der specific arena
der Europapolitik gibt es bisher lediglich lose Parteienverbände, wenn auch teilweise in letzter
Zeit die Bemühungen um Bildung vollwertiger Europaparteien vorangetrieben werden.5 Die
nationalen Parteien, unter deren Kontrolle aufgrund der parteipolitischen Schwäche auf
europäischer Ebene (Mittag 2009: 42) Wahlen und Wahlkampf stehen (Hix/ Lord 1997: 84),
richten die Wahlkampagnen auch deswegen national aus, weil diese so verständlicher sind und
eine stärkere Rezeption erfahren. Seitens der Parteien wird also ein größeres Mobilisierungspotential durch nationale Themen angenommen; eine Annahme, die auch von den Medien geteilt
wird (Kovár/ Kovár 2012: 32). Das zweitrangige Interesse seitens der Politik selbst zeigt sich
auch darin, dass das Budget für Europawahlkämpfe deutlich geringer ist als das für nationale
Kampagnen (Wüst/ Tausendpfund 2009: 5). Durch die Fokussierung auf das jeweils nationale
4
5
In 25 der damals 27 Unionsstaaten verloren die Regierungsparteien bei der Europawahl 2009 im Vergleich zur
jeweils letzten nationalen Hauptwahl an Stimmen. Die einzigen Ausnahmen waren dabei die Regierungsparteien
in Finnland und Polen.
Zu erwähnen sind hier die europäischen Grünen, die als erste eine Partei auf Europaebene gegründet haben und
ebenfalls als erste politische Gruppe im Januar europaweit über ihre Spitzenkandidaten haben abstimmen lassen.
Die geringe Beteiligung bei dieser Wahl (etwa 20.000 abgegebene Stimmen) lässt ähnlich wie die sinkende
Europawahlenbeteiligung auf Probleme bei Wahrnehmung und Interesse der Wähler schließen (Gathmann
2014).
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politische Umfeld wird also durch die politischen Akteure selbst eine Aufwertung der Europawahlen verhindert (Marsh 1998: 607, Hix 2009).
Dazu kommen die Faktoren der institutionell-prozeduralen Dimension. Zunächst wird
nicht mit EU-weit gültigen europäischen, sondern mit nationalen Kandidatenlisten gewählt. Auch
die weiterhin auf nationaler Ebene geregelten Wahlgesetze und -termine6 haben zur Herausbildung einer mangelhaften europäischen Orientierung der Europawahlen beigetragen
(Niedermayer 1991: 6).
4. Die noch unvollständige Parlamentarisierung der EU als Verstärker des
Nebenwahlencharakters
Eine Besonderheit der Europawahlen im Vergleich zu anderen Nebenwahlen besteht im
Institutionengefüge der EU. Es handelt sich bei ihr um ein unvollständig parlamentarisiertes und
exekutivlastiges politisches System. Unter einer vollständigen oder ‚echten‘ Parlamentarisierung
wird ein Zustand verstanden, in welchem „die Mitwirkung des Parlaments zur Bildung des verbindlichen Staatswillens unentbehrlich ist“ und dem Parlament „im Rahmen des politischen
Prozesses auch eigenrechtliche und wirksame Kontrollen gegenüber der Exekutivregierung zustehen“, und somit ein institutionelles Gleichgewicht zwischen Parlament und Exekutive besteht
(Loewenstein 1976: 66). Dieser Zustand ist im EU-System nicht gegeben, was die less-at-stakeDimension noch verstärkt, indem die Rolle der Wahlen zum EP durch die Machtasymmetrie
zwischen den Organen auf europäischer Ebene weiter unterminiert wird.
Die unvollständige Parlamentarisierung ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der
europäischen Integration und vor allem der Geschichte des Parlaments selbst, welches lediglich
als beratendes Organ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet worden
war und schrittweise mehr Kompetenzen erhielt. Trotz eines beeindruckenden Machtzuwachses
in den Jahren seit seiner Gründung sowie der Herausbildung eines gesamteuropäischen Selbstverständnisses seiner Abgeordneten (Pollack 2004: 148) seit den Anfängen der europäischen
Integration ist das EP jedoch immer noch nicht als vollwertiges Parlament anzusehen, das - wie
in einem demokratischen System angemessen - Thematisierungs-, Überwachungs- und Mitgestaltungsfunktionen in vollem Maße ausübt (Maduro Poiares 2009: 47). Das EU-System ist
bestenfalls „protoparlamentarisch“ (Dreischer 2003: 231). Diese Problematik wird oft angeführt,
wenn das demokratische Defizit der EU in Bezug auf die zu starke Exekutivmacht diskutiert
wird, der ein ordentliches parlamentarisches Gegengewicht fehlt (Maduro Poiares 2009: 46-47).
Außerdem hat die unvollständige Parlamentarisierung zu tun mit den Besonderheiten der
Union, die in der politikwissenschaftlichen Forschung sehr oft als System sui generis (Bieling 2008:
120) bezeichnet wird. Es handelt sich bei der EU um ein Mehrebenensystem, das teils supranational und teils intergouvernemental organisiert ist. Tendenziell kann die Union als
parlamentarisches System charakterisiert werden, was sich am Abberufungsrecht des Parlaments
gegenüber der Kommission feststellen lässt (Art. 234 AEUV). Die Kontrollbefugnisse des Parlaments richten sich ebenfalls gegen die Kommission (Schmid 2013: 350), die als „eine Art
europäische Exekutivspitze“ (Bieling 2008: 127) betrachtet werden kann. Das politische System
der EU ist trotz dieser Faktoren stark exekutivlastig (Bieling 2008: 121). Hinzu kommt aufgrund
6
Gewählt wird dieses Jahr etwa an den vier Tagen vom 22. bis zum 25. Mai, mit von Staat zu Staat variierenden
Mindestalter-Regeln, Sperrklauseln, Abstimmungsmodi und Auszählungsverfahren sowie in vier Staaten mit
Wahlpflicht.
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des Status der Union mit ihren verschieden stark vergemeinschafteten Politikfeldern und somit
unterschiedlichen (und manchmal unklaren) Zuständigkeiten sowie der fehlerhaften Gewaltenteilung,7 dass effektive Kontrolle seitens des EP sehr schwierig ist (Bieling 2008: 127). In den
weniger vergemeinschafteten Bereichen wird teilweise frei von parlamentarischer Mitgestaltung
und Überwachung gehandelt (Dreischer 2003: 230). Dem Europäischen Rat gegenüber bestehen
ohnehin nur Anhörungsrechte (Art. 230 AEUV). Insgesamt stellt das EP „noch kein[en] geeignete[n] Ersatzträger parlamentarischer Kontrollaufgaben“ dar (Schmid 2013: 363).
Kernfunktionen eines Parlaments haben besonders mit der Rolle der Opposition zu tun.
Bei dieser ist in der Regel ein kritisches Gegengewicht zur Regierung zu suchen. Das Verhältnis
zwischen Kommission und EP zueinander ist jedoch nicht so direkt, wie das in nationalen
Systemen der Fall ist. Ein Dualismus zwischen Opposition und Mehrheit existiert nicht (Schmid
2013: 352). Das liegt auch an der informellen Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und
Konservativen auf europäischer Ebene, aber vor allem an der verschieden weit fortgeschrittenen
Integration, die bewirkt, dass das EP je nach Thema in die Entscheidungsfindung einbezogen
wird oder nicht. Wichtig für die Thematisierungsfunktion der Opposition wäre auch ein
Gesetzesinitiativrecht, da die Opposition dadurch an der Regierungsarbeit teilnehmen und bei
seitens des Parlaments abgelehnter Vorschläge gegebenenfalls auch Gegenentwürfe vorlegen
könnte (Partsch 1976: 321). Dieses Recht liegt jedoch allein bei der Kommission (Art. 289/1
AEUV).
Andererseits kommt in der Legislaturperiode ab Mai dieses Jahres, bei der erstmals die
Änderungen aus dem Vertrag von Lissabon gelten, neu hinzu, dass der Europäische Rat bei der
Ernennung des Kandidaten zur Kommissionspräsidentschaft (der daraufhin vom EP bestätigt
werden muss) das Ergebnis der Europawahl zu berücksichtigen hat (Art. 17/7 EUV). Das hat die
Europaparteien dazu veranlasst, Spitzenkandidaten für diesen Posten aufzustellen.
5. Europäisierung nationaler Wahlen
Der Nebenwahlencharakter der Europawahl hängt also vor allem mit der vergleichsweise
geringeren Wichtigkeit der Wahl zusammen, der Schwäche des Parlaments, die die Rolle der
Wahl weiter unterminiert, dem geringen nationalen Interesse an echten Europawahlen, sowie der
schwachen Wahrnehmung europapolitischer Themen. Zu letzterer ist jedoch seit einigen Jahren
ein bedeutender Gegentrend zu beobachten: Das Thema Europa wird zum wichtigen, wenn nicht
sogar definierenden Aspekt nationaler Wahlen.
Die Rückwirkungen der Europäisierung auf die Mitgliedstaaten lassen sich zwar seit
längerer Zeit nicht mehr ignorieren (Auel 2012: 247). Das galt für die nationale Politik, Aufbau
und Aufgabenbereich nationaler Institutionen sowie formelle und informelle Regeln der Politik
(Radaelli 2003: 30) jedoch lange Zeit deutlich mehr als für die jeweils nationalen Wahlkämpfe,8
die erst in letzter Zeit eine profunde Europäisierung erfahren haben - allerdings unter negativen
Vorzeichen, nämlich bedingt durch die oft unter dem Oberbegriff Eurokrise zusammengefassten
Haushalts- sowie Bankenkrisen in mehreren Euroländern. Besonders deutlich ist das der Fall in
7
8
Damit ist gemeint, dass im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens der EU (Art. 294 AEUV) das EP
ein mehrheitlich von seinen Mitgliedern abgelehntes Gesetzesvorhaben zwar verhindern, aber nicht ohne Zustimmung des Rates modifizieren kann. Das heißt, dass das eigentliche Legislativorgan der Unionsebene keine
Gesetzgebung gegen die Mitglieder nationaler Exekutiven durchsetzen kann.
So lässt Neill Nugent noch vor vier Jahren den Kommentar stehen: „the EU does not normally feature much in
national elections“ (2010: 270).
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den Ländern der europäischen Peripherie, die die stärkste wirtschaftliche und finanzielle Schieflage aufweisen. So führte in Griechenland der Oppositionelle Alexis Tsipras vom linken Parteibündnis Syriza 2012 Wahlkämpfe, die hauptsächlich die von ihm als ungerecht und aufgezwungen perzipierte Sparpolitik der Regierung thematisierten (Bianchi 2012: 81-83; Höhler
2012). In Italien wurden die Wahlen 2013 begleitet von Kampagnen mit besonders starkem
europäischen Anstrich, von Befürwortern wie Kritikern der Sparpolitik, die das dominierende
Thema war. Der große Erfolg von Beppe Grillos Movimento Cinque Stelle (Fünf-SterneBewegung) basierte auf einer europakritischen Plattform (Ehlers 2012: 96-97; Scalfari 2012: 198),
ebenso wie das unerwartet starke Comeback von Silvio Berlusconi, der sich mit direkten Angriffen auf Angela Merkel profilieren konnte, da die deutsche Bundeskanzlerin hauptsächlich mit
der Austeritätspolitik identifiziert wird (Ghelli 2013; Dehousse 2013: 170). So wie Tsipras in
Griechenland die Wahlen zu einem Referendum über den Euro machen konnte, gelang dies auch
in Italien, wo die Wahl zu einer Volksabstimmung über die dem Land verordnete Sparpolitik und
ihren Ausführenden Mario Monti wurde (Dehousse 2013: 175). In Portugal waren die Parlamentswahlen 2011 ebenfalls stark vom Vertrauensverlust der politischen Klasse gegenüber geprägt, der sich hier jedoch nicht im Aufstieg neuer Kräfte äußerte, sondern in der niedrigsten
Wahlbeteiligung der Geschichte (58 %). Thematisch dominiert wurde auch hier der Wahlkampf
von der Austeritätspolitik (Magone 2012: 259-262) und den Institutionen, die für sie stehen.
Andererseits war ebenso in Deutschland im Wahlkampf viel von europäischen Themen
zu hören. Die Austeritätspolitik, die auch hierzulande von vielen als ungerecht und überhart
wahrgenommen wird, war ebenso Gegenstand kontrovers geführter Debatten wie mögliche
Alternativen zur Handhabung der Schuldenkrisen anderer Länder, so wie die Vergemeinschaftung der Schulden durch die Einführung sogenannter Eurobonds (Bannas 2013). Schließlich
wurde Angela Merkels letzter Wahlsieg im Ausland vor allem als „Sieg der Austerität“ wahrgenommen (Higgins 2013). Als Folge der teuren Rettungsmaßnahmen Banken und anderen
Eurostaaten gegenüber gründete sich mit der Alternative für Deutschland eine Partei, die ein
Ende solcher Maßnahmen und die Auflösung der Eurozone fordert. Bei der Bundestagswahl
2013 scheiterte die AfD noch knapp an der Fünf-Prozent-Hürde; für die Europawahl, bei der es
eine solche ohnehin nicht geben wird, werden ihr Chancen eingeräumt, ihr Ergebnis weiter zu
verbessern (Focus online 2014).
Diese Veränderungen haben definitiv mit der Finanz- und Schuldenkrise zu tun
(Stratulat/ Emmanouilidis 2013: 8), die für alle sichtbar macht, wie viel Interdependenz in
Europa besteht - vor allem natürlich unter den Ländern des Euroraums - und wie weit die
Grenzen zwischen nationaler und europäischer Politik sich auflösen, wenn aus Haushalt und
Wirtschaftslage automatisch gesamteuropäische Themen werden. In einer Untersuchung der Berichterstattung deutscher und niederländischer Medien wurde festgestellt, dass auch die Medienlandschaft stark von dieser durch die Finanzkrisen ausgelöste Entwicklung erfasst wurde (Meijers
2013: 14). Das über jede andere Berichterstattung dominierende Thema ist nunmehr die Wirtschaft; seit Ausbruch der Eurokrise befassen sich die Medien um ein Vielfaches häufiger im
europäischen Zusammenhang mit wirtschaftspolitischen Themen.9 Die EU wird praktisch mit
der Wirtschafts- und Währungsunion gleichgesetzt (Meijers 2013: 16). Auch die Grundhaltung
zur europäischen Integration ist in der Berichterstattung in den beiden untersuchten Ländern
sichtbar kritischer geworden; überdeutlich ist dabei der Zusammenhang mit der Eurokrise zu er-
9
Noch 2008 dominierte bei der Berichterstattung über die EU das Thema Außenpolitik.
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kennen (Meijers 2013: 19-20). Diese Veränderungen lassen sich als negative Europäisierung
(Dehousse 2013: 166) bezeichnen. Besonders auffällig waren diese in Italien, da es sich hierbei
ansonsten um eins der europa- und integrationsfreundlichsten Länder handelt (Dehousse 2013:
167-168).
In Zeiten verschiedener Wirtschafts- sowie Finanzkrisen, die viele betreffen und nur mit
gemeinsamer Anstrengung überwunden werden können, war es somit nunmehr nicht mehr möglich, das Thema Europa zu ignorieren, was sich auch in der medialen Berichterstattung zeigte.
6. Fazit
Aus Sicht der proeuropäischen Kräfte muss es als negativ betrachtet werden, dass im Zuge
globaler Finanzkrisen sowie hausgemachter Überschuldung ausgerechnet Entwicklungen, die
viele Menschen in ihrer Existenz bedrohen und für den wirtschaftlichen Zusammenbruch von
Teilen der Eurozone gesorgt haben,10 eine stärkere Wahrnehmung Europas bewirkt haben. In
den folgenden Jahren, und im Idealfall bereits in diesem Wahlkampf, muss dem etwas entgegengesetzt werden.11
Aus dieser Perspektive kann es als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet werden,
dass die Europaparteien nach der dementsprechenden Neuerung im Vertrag von Lissabon
Spitzenkandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten aufgestellt haben. Die dadurch
erfolgende Personalisierung dieser Wahl folgt der Ambition, der traditionellen Wahrnehmung
Europas als unübersichtlich, abstrakt und intransparent etwas entgegenzusetzen (Stratulat/
Emmanouilidis 2013: 4).
Es bleibt jedoch dabei, dass noch eine Reihe von Änderungen erfolgen muss, damit
Europawahlen wichtiger werden und dementsprechend nicht mehr nur als Nebenwahlen der
nationalen Ebene wahrgenommen werden. Erstens müssen europäische Themen in den Medien
noch stärker behandelt werden und für die Wähler präferenzentscheidender werden (Kovár/
Kovár 2012: 37). Weiterhin müssen zu diesem Zweck transnationale Listen kreiert werden, so wie
es vonseiten einiger Befürworter einer tieferen Integration schon länger gefordert wird (Duff
2011: 22). Dadurch würde eine neue Qualität von Kohäsion und transnationaler Zusammenarbeit
innerhalb der Parteien entstehen. Unvermeidlich und am wichtigsten ist letztendlich, dass eine
Aufwertung der Stellung des EP im Institutionengefüge der Union vollzogen wird, im Zuge derer
dieses die legislativen Befugnisse erhält, die einem Parlament in einer Demokratie zustehen. Erst
wenn es bei den Europawahlen wirklich darum geht, ein vollwertiges Gesetzgebungsorgan auf
europäischer Ebene zu wählen, ist der Grundstein für die Aufwertung dieser Wahlen gesetzt.
Eine Ursache für die Europäisierung der nationalen Wahlkämpfe war auch, dass die Handhabung
der Krisen sehr stark intergouvernemental geprägt war und die europäische Ebene oft nicht nur
mangelhaft beteiligt war, sondern aus Gründen mangelnden politischen Vertrauens sogar umgangen wurde.12 Die im Zuge der Schuldenkrise und der Versuche, diese unter Kontrolle zu bekommen, klar zutage getretene Schwäche des EP wird definiert durch den Zustand der unfertigen
Integration und der unvollständigen Parlamentarisierung der EU. Dieses Problem muss als
Das entspricht dem von Simon Hix 2009 entworfenen Szenario der „ganz tiefe[n] Krise“.
in Zukunft der politische Wille dafür vorhanden sein, so wäre zum Beispiel eine europaweite oder wenigstens
unter Teilnahme mehrerer Unionsländer erfolgende Kooperation zur Regulierung des Finanzkapitalismus ein geeignetes Thema dafür, mit welchem versucht werden könnte, das Image der Union, das an ihrer Peripherie in den
letzten Jahren Schaden genommen hat, positiv zu beeinflussen.
12Zum Beispiel durch die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds, der eine wichtige Rolle im Schuldenmanagement übernahm (Mayer 2012: 171).
10
11Sollte
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solches erkannt werden und der politische Wille, diese Verhältnisse zu korrigieren, muss herausgebildet werden. Selbst wenn dies erfolgt, würde eine solche Korrektur jedoch noch Jahre dauern,
weil hierzu die europäischen Verträge geändert werden müssten und die Verhandlungen dafür
besonders kompliziert und langwierig sind. Abgesehen davon ist die Konstellation dafür gegenwärtig nicht gegeben; die politische Kohäsion und das Image Europas sind durch die Austeritätspolitik und die Wiederkehr überwunden geglaubter Vorurteile auf beiden Seiten an einem Tiefpunkt angekommen (Pew Research Center 2013). Auch eine steigende Wahlbeteiligung ist
weiterhin nicht zu erwarten, was eben jene Befürchtungen über überproportionale Zugewinne
antieuropäischer Parteien befeuert. Signale der Änderung sind jedoch vorhanden. Die Verknüpfung der Europawahl mit der Entscheidung über die Kommissionspräsidentschaft war ein
erster Schritt in Richtung einer Aufwertung dieser.13 Seitens der europäischen Ebene ist der Wille
zu einer stärkeren Kohäsion offensichtlich vorhanden. Das allein wird jedoch nicht reichen, da es
der Zustimmung und aktiven Forderung nach einer stärkeren Parlamentarisierung der Union
seitens der nationalen Politik bedarf, um für das EP eine stärkere Rolle im EUInstitutionengefüge herbeizuführen, die als Basis für bedeutsamere Europawahlen unentbehrlich
ist.
Wenn also auch der Status einer second-order election nicht überwunden werden kann,14 so
wäre es dennoch möglich, eine Aufwertung der Europawahlen herbeizuführen. Dazu ist eine
vollständige Parlamentarisierung der EU unumgänglich, und das wiederum hängt vom Willen der
nationalen Regierungen ab.
Umso kritischer ist es zu beurteilen, dass Bundeskanzlerin Merkel hierzu sehr lange Zeit eine Blockadehaltung eingenommen hat.
14 Theoretisch wäre das nur möglich, wenn ein Bundesstaat Europa geschaffen wird, der die zentrale politische Entscheidungsgewalt bekommt und somit die Europawahlen zu Hauptwahlen würden.
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7. Bibliographie
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Online verfügbar unter http://www.aeuv.de/
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Online verfügbar unter http://dejure.org/gesetze/EU
Auel, Katrin (2012): Europäisierung nationaler Politik. In: Hans-Jürgen Bieling/ Marika Lerch
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Bannas, Günter (2013): Gabriel wirft Merkel Rechtsbruch vor. In: faz.net, 04.09.2013.
Online verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/euro-politikgabriel-wirft-merkel-rechtsbruch-vor-12559759.html
Bianchi, Federica (2012): Nelle mani di Tsipras. In: L’Espresso, 21.06.2012, S. 80-83.
Bieling, Hans-Jürgen (2008): (Ent-) Demokratisierungsprozesse im europäischen Mehrebenensystem. In: Andre Brodocz/ Marcus Llanque/ Gary S. Schaal (Hg.) Bedrohungen der Demokratie. VS: Wiesbaden, S. 119-135.
Brettschneider, Frank/ Rettich, Markus (2005): Europa - (k)ein Thema für die Medien. In: Jens
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Europäischen Parlament 2004. VS: Wiesbaden, S. 136-156.
Davidson-Schmich, Louise K./ Davidson-Schmich, Michael (2005): The Content of European
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Online verfügbar unter http://aei.pitt.edu/3076/1/Davidson-Schmich.pdf
Dehousse, Renaud (2013): Negative Europeanisation: European issues in the Italian elections. In:
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Hinweis zu den Online-Quellen:
Alle Quellen waren bis einschließlich 30.03.2014 online abrufbar.
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Alexander Cordes
Eine weitere second-order election?
Alexander Cordes, B.A.,
ist Student des Masterstudiengangs Demokratiewissenschaft
an der Universität Regensburg.
Kontakt:
E-Mail: [email protected]
Empfohlene Zitation: Cordes, Alexander (2014): Eine weitere second-order election? Die
Wahlen zum Europaparlament 2014, FRP Working Paper 01/2014, Regensburg,
abrufbar unter: www.regensburger-politikwissenschaftler.de/frp_working_paper_01_2014.pdf
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