SWR2 Cluster 05.06.2013, Musikmarkt extra: CD-Tipp „Ehrenplatz im Plattenschrank“ René Leibowitz Musique de Chambre Concerto pour violin SCHOLA HEIDELBERG & ensemble aisthesis Leitung: Walter Nußbaum DIVOX Excellence 2 CD CDX-21103/04 Autorin: Dorothea Bossert Man weiß gar nicht, was man zuerst machen soll. Soll man zuerst lesen oder zuerst hören? Da ist ein Buch im CD-Format, 150 Seiten dick, Hardcover, mit satinartigem Stoffbezug und Lesebändchen. Eine bibliophile Ausgabe. Weiches Büttenpapier, das die vielen Fotos und Abbildungen im Inneren so plastisch und lebensvoll erscheinen lässt, dass sie einen geradezu anspringen. Also – zuerst lesen. Es geht los mit einem Vorwort unter dem Titel „Musik von gestern – René Leibowitz“. Walter Nußbaum hat ihn geschrieben, der Dirigent dieser Aufnahme und Leiter der Ensembles Aisthesis und SCHOLA HEIDELBERG. Der Titel ist natürlich eine Provokation und zitiert ein gängiges Klischee. Ein Urteil, das von der tonangebenden Avantgarde, den jungen Wilden der 1950er und 1960er Jahre stammt und sich seitdem unhinterfragt gehalten hat. Der Text von Walter Nußbaum ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Musik von René Leibowitz, das mit differenzierten musikalischen Argumenten begründet wird. „Schon beim ersten Kennenlernen seiner Partituren“ schreibt Walter Nußbaum „war mir ihre Bedeutung klar geworden: filigran in Tongebung und Struktur, deutlich in ihrer musikalischen Rhetorik durch Phrasierung und genaue Artikulation, subtil instrumentiert mit größter Farbigkeit und mit Texten, die den geistigen Horizont des Komponisten belegen.“ An dieser Stelle habe ich das Booklet dann zur Seite gelegt – Verzeihung, das Buch – ein Booklet sieht anders aus – und wollte die Musik hören. Und was ich hörte, war dies: René Leibowitz: Laboratoire central (Ausschnitt) Truike von der Poel (Mezzosopran) SCHOLA HEIDELBERG, Leitung: Walter Nußbaum 1‘50 Was für eine Musik, wie lebendig, wie packend und wie sinnlich! – Und: was für eine aufregende Interpretation! Weich und gleichzeitig präzise, klangschön und dabei immer beweglich und vital. Nie elegant, sondern immer von einer natürlichen Anmut und Stimmigkeit in der Phrasierung – und eine Sängerin, die es schafft, diese Mischung aus Gesang und Rezitation zu einer beinahe selbstverständlichen und jedenfalls völlig glaubwürdigen Lautäußerung zu machen. Spannend. Ich lese weiter. Finde in dem 20-seitigen Essay von Jan Marc Reichow eine Fülle von Informationen – Zitate von und über René Leibowitz, eingebunden in eine biographische Überschau, die sich offensichtlich vorgenommen hat, dicht bei der Perspektive von Leibowitz und seinem Umfeld zu bleiben. Der Text ist ein bisschen zu rhapsodisch zuweilen, vielleicht auch manchmal gefährlich hoch im Ton. Aber – diese Edition ist eine Mission. Und da gelten andere Gesetze. René Leibowitz war, zumindest betonte er das immer wieder, Schüler von Arnold Schönberg und Anton Webern. Belegt ist das nicht. Vielleicht hatte er sich Schönbergs und Weberns Kompositionsmethode auch in Paris autodidaktisch angeeignet, als er mit Musikern aus dem Umkreis der Schönberg-Schule, mit Erich Itor Khan, Rudolf Kolisch und Paul Dessau engen Kontakt hatte. Aber – so sehr das überraschen mag, ob er nun bei Schönberg Unterricht hatte oder nicht, ist beinahe egal. Denn nach dem frühen Tod von Anton Webern und Alban Berg war René Leibowitz der konsequenteste Vertreter von Schönbergs Idee einer Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen, der so genannten Zwölftontechnik. Und zwar bis zu seinem Tod 1972. Da war er längst der Letzte seiner Art. René Leibowitz hat vor allem von Paris aus Bücher, Essays und Traktate geschrieben über Arnold Schönberg und seine Werke, auf Französisch. Sie sind bis heute gültig und relevant. Er hat sich immer wieder nachdrücklich für Schönbergs Werke eingesetzt und viele aufgeführt, auch auf Schallplatte aufgenommen, denn er war ein bedeutender Dirigent in den 1950er und 1960er Jahren. Wer seine Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien kennt, die damals in ihrer Sensibilität und zupackenden Frische eine Sensation waren und noch heute Kultstatus haben, der weiß, was für ein Musiker Leibowitz war. Wer nicht, kann es auch auf dieser CD hören, die das erste Violinkonzert von Leibowitz unter seinem eigenen Dirigat anbietet. René Leibowitz war aber auch ein bedeutender Lehrer. Pierre Boulez und Hans Werner Henze, Claude Helffer, Jean-Pierre Drouet und Vinko Globokar waren zum Beispiel seine Schüler. Und von ihnen allen gibt es Zeugnisse darüber, was für einen phantastischen Unterricht sie bei ihm genossen haben. Nur als Komponist – da schätzten sie ihn nicht. Da war er für sie von gestern in seinem klaren Bekenntnis zur Musik Arnold Schönbergs und seiner Selbsteinschätzung, diese Linie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterzuführen. Aber er ließ sich nicht unterkriegen und komponierte täglich und intensiv. Ein Großteil seiner 90 Werke wurde nie uraufgeführt. Und erst Recht nie aufgenommen. Bis Walter Nußbaum kam und sich der Sache annahm. 1991 hat er in Heidelberg eine erste Retrospektive des Komponisten unternommen, 1993 eine erste CD veröffentlicht. Die ist in dieser Jubiläums-Edition zum 100. Geburtstag von René Leibowitz mit dabei. Samt einer zweiten neuen CD mit 13 Kammermusikwerken mit Liedern, Solostücken – fast alles sind Ersteinspielungen. Und was für welche. Hören Sie etwa dieses Caprice, das er für seinen Schüler, den Schlagzeuger Jean-Pierre Drouet geschrieben hat. Ein Vibraphon, das zugleich Schlagzeug, Flöte und Harfe ist. Phantastisch interpretiert von Boris Müller. René Leibowitz: Caprice für Vibraphon op. 70 Nr. 1 0‘55 Wir leben in einer Zeit, in der wir die Vorstellung längst über Bord geworfen haben, dass Komponisten sich wie Perlen auf einer Schnur in Linien von Vorgängern und Nachfolgern einordnen lassen oder sich zu „mächtigen Häuflein“ gruppieren, die man dann mit dem Etikett „Schule“ versehen und in eine Schublade stecken kann. Jeder Komponist beansprucht heute seinen eigenen Kosmos von Voraussetzungen und Vorstellungen, die seinen Werkideen zugrundeliegen. Das ist in Ordnung – aber – gleiches Recht für alle. Auch diejenigen, die die jungen Wilden von damals in eine Schublade gesteckt haben, oder die sich womöglich selbst dort einsortiert haben, verdienen diese gleiche individuelle Betrachtung ihres Werkes. Und darum ist diese Edition eine revolutionäre Tat – denn die Musik, die aus dieser lange vergessenen Schublade herauskommt, ist völlig anders als das, was man glaubte, hineingelegt zu haben. Da sind Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg natürlich deutlich identifizierbar als nahe Verwandte – aber wie dicht, wie lebendig und authentisch diese Musik ist. Kein Pathos, kein Manierismus, kein Leerlauf, keine Überkomplexität. Diese Musik hat eine Qualität und Tiefe, der man gerne öfter zuhört. Und diese Edition bekommt bei mir einen Ehrenplatz im Plattenschrank – unter der Rubrik Lieblings-CD.