Leselampe Salz - Salzburg 2016

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Norbert Niemann
Cosy
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Ich habe mich selber darüber gewundert, dass
sich mir ausgerechnet dieses Thema, dieses
Gebäude, dieser Anblick sofort aufgedrängt hat,
nachdem ich zu „Salzburg von außen“ eingeladen
worden war. Und ich weiß noch immer keine
Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet
der Eindruck eines Verlagshauses und der Eindruck
der Stadt Salzburg in meinem Innern zu einer
solchen Einheit verschmolzen sind, dass ich
augenblicklich gewusst habe, ich würde, wollte
ich über Salzburg schreiben, zwangsläufig über
das Anwesen des Cosy Verlags schreiben müssen.
Erst recht habe ich keine Ahnung, ob das überhaupt etwas miteinander und nicht vielmehr
nur mit mir, mit meiner Art von Wahrnehmung
nicht einmal speziell dieser Stadt, sondern vielleicht
der Welt im Allgemeinen zu tun hat.
Aber wenn doch: Was?
Jedenfalls habe ich es während der vergangenen
dreißig Jahre, also seit ich am Chiemsee lebe
und immer wieder nach Salzburg, als der nächstgelegenen größeren Stadt mit einem ansprechenden Kulturangebot, gefahren bin, kein einziges
Mal versäumt, sowohl beim Hinein- als auch beim
Hinauskommen die Fassade, den Garten, das
Ensemble des Cosy Verlags zu studieren. Immer
über die Landstraße, die Thomas-BernhardFahrradroute von Traunstein nach Freilassing
kommend, also stets die unerfreuliche Autobahn-Maut umgehend, empfing mich kurz nach
Passieren der lange geschlossenen, aber mit
freundlich durchwinkenden Beamten besetzten,
später offenen, zwischenzeitlich wieder und
demnächst wohl erneut ganz geschlossenen und
wahrscheinlich mit weniger freundlich durchwinkenden Beamten besetzten österreichischen
Grenze linker Hand dieser zweistöckige Betonflachbau, auf dessen Dach unübersehbar die
großen weißen Lettern zu lesen sind. Und verabschiedete mich später wieder, diesmal natürlich
rechter Hand, bei der Ausreise.
Jedes Mal dachte oder sagte ich, je nachdem, ob
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ich allein oder mit anderen im Auto saß, manchmal
sogar schon auf der Salzach-Brücke: „Wie es wohl
dem Cosy Verlag geht?“
Es wurde geradezu meine fixe Begrüßungsformel
für Salzburg, während meine Abschiedsfloskel zwar
gleichfalls stets die gleiche blieb, doch mit der Zeit
gewisse semantische Verschiebungen erfuhr.
Nie hatte ich recherchiert, was der Cosy Verlag
eigentlich verlegt, erst jetzt, anlässlich dieses
Beitrags, bin ich ins Internet gegangen, habe es
herausgefunden und bin unverzüglich zu dem
Schluss gekommen, dass es immer noch genauso
wenig zur Sache tut wie in all den Jahren davor,
als ich nicht den blassesten Schimmer davon
hatte. Immer war es mir nur darum gegangen,
die unten von einer braunen, beige gesprenkelten
Klinkeroptik gefliesten, oben von einem rundum
laufenden Fensterband zwischen zwei gleichfalls
rundum laufenden Betonplattenbändern
beherrschten Fassade und den von einem Kiesweg
durchschnittenen Rasenstreifen des Vorgartens
nach irgendwelchen Zeichen der Veränderung
abzusuchen. Und selbstverständlich keine zu
finden. Denn genaugenommen war es das,
wonach ich suchte, wenn auch keineswegs mit
Bewusstsein und Absicht.
Genauer gesagt, nur bei meiner Ankunft interessierte mich die scheinbar vollständige Unveränderlichkeit im Aussehen des Verlagshauses inklusive
Vorgarten. Beim Verlassen hingegen fesselte mich
eher Neugier auf Sensationen. Normalerweise fuhr
ich bei Tageslicht in die Stadt ein und erst nachts
wieder aus ihr heraus, was bedeutete, dass sich
nur auf der Heimfahrt Rückschlüsse auf das Innenleben des Gebäudes ziehen ließen, insofern dort
eben noch Licht brannte oder nicht.
Es brannte aber immer eins, und zwar nur ein
einziges links oben in der Ecke, verlässlich zu jeder
Nachtzeit, die gelegentlich auch sehr spät sein
konnte. Daher sagte oder, je nachdem, dachte ich
im Vorbeifahren jedes Mal: „Ah, im Lektorat wird
noch gearbeitet.“
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Es war ein Running Gag. In gespannter Erwartung
fuhr ich allein oder zu mehreren auf die Grenze
zu, um – wie immer – das Zimmer des offenbar
ohne Schlaf auskommenden Lektors hell
erleuchtet vorzufinden und meinen Spruch aufzusagen.
Jedoch muss ich zugeben, dass der Gag im Lauf
der Zeit mehr und mehr ins Sarkastische kippte.
Nacht für Nacht, Jahr um Jahr blieb im linken
oberen Eckzimmer dieses Gebäudes, in dem sich
um diese Zeit natürlich längst kein Mensch mehr
aufhielt, das Licht eingeschaltet. Die Gestalt des
über einem Berg von Manuskripten brütenden
Lektors hatte sich aber längst als Fiktion in
meinem Kopf festgesetzt. Und es war eben diese
Fiktion, die an Stelle des immer gleichen Anblicks
allmählich ihren Charakter veränderte.
Zuerst stellte ich mir, passend zum Verlagshaus
mit dem Verlagsnamen in einer runden lässigen
Siebziger Jahre-Schrift auf dem Dach seiner
selbstbewussten Siebziger Jahre-Architektur, einen
leicht verwahrlosten Mann mittleren Alters in
Cordhosen und Strickjacke vor, der, je nachdem,
wie weit die Stunden bereits vorgerückt waren,
eine halb oder doch schon ganz geleerte Flasche
Zweigelt und einen gut gefüllten Aschenbecher
neben sich, zwar erschöpft, manchmal auch verzweifelt, doch stets passioniert und gewissenhaft
mit dem Korrekturstift übers Papier gebeugt
dasaß. Nach und nach verwandelte sich die
Person in einen Herrn in Anzug und Krawatte,
der noch immer rauchend und trinkend, aber
voller Verachtung die trotz seines ins Enorme
gesteigerten Tempos niemals niedriger werdenden
Stapel nach Maßgabe einer beiliegenden oder
auswendig gelernten Prüfliste mit groben Strichen
beackerte beziehungsweise über die Schulter
hinweg in den Rachen eines Reißwolfs beförderte.
Als nächstes spaltete und multiplizierte sich die
Figur zu einer Gruppe gemischtgeschlechtlicher
junger Mitarbeiter, die nach dem Dress-Code von
Bankangestellten gekleidet waren. Sie saßen
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unter Rauchmeldern vor ihren Monitoren und
ließen irgendwelche Programme über irgendwelche Dateien laufen. „Ah“, dachte oder sagte
ich immer im gleichen Ton, „im Lektorat wird noch
gearbeitet“ – und doch setzte der Satz jedes Mal
die Betonung anders, so dass er sich böser und
böser anhörte.
Zuletzt schrumpfte mein fiktionales Lektorat
wieder auf eine einzige, einsame Gestalt, die sich
auf Mindestlohnbasis die Nächte in der Rolle
eines Korrektors um die Ohren schlug, der nichts
weiter zu tun hatte, als regungslos dazuhocken
und als lebende Attrappe seinen Posten einzunehmen.
Eines Nachts schließlich – ich kann nicht mehr
sagen, wie lange das her ist, zwei, drei Jahre vielleicht – war plötzlich alles finster im Haus.
Und ist es seither geblieben.
„Jetzt hat er sich aufgehängt“, sagte ich damals
und meinte meinen ausgedachten Verlagslektor.
Später sagte oder dachte ich gar nichts mehr.
Dafür habe ich auf einmal bei den Anfahrten, im
Tageslicht, den Eindruck, einer Art Metamorphose
des Baus samt Vorgarten beizuwohnen. Das Areal
wirkt seit neuestem, als würde es zunehmend
verstauben.
Obwohl andererseits von Staub gar nicht die
Rede sein kann.
Vielmehr ist es, als zögen sich sukzessive jene
Substanzen gleichsam nach innen, in die tieferen
Schichten der Beton- und Fliesenflächen, sogar
ins Erdreich unter dem noch immer regelmäßig
gemähten Rasen zurück, die einst für die
Deutlichkeit der Konturen, der Farben zuständig
gewesen waren und dem Gebäude, gleichgültig
gegenüber dem, was hinter seinen Fassaden vor
sich ging, eine Aura von Unerschütterlichkeit
verliehen hatten.
Genau damit – so scheint es – ist es nun won
möglich vorbei.
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