Idee und Konzeption (März 2017)

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Idee und Konzeption
Während Soziologen gegen Ende des letzten Jahrhunderts in weitgehender Übereinstimmung
davon ausgingen, „dass zwischen der fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft und der
Überlebensfähigkeit religiöser Glaubensgemeinschaften ein Nullsummenspiel bestehe“ 1 werden
Spiritualität, Selbsttranszendenz und Religion heute als essentielle Aspekte einer entwickelten
Persönlichkeit angesehen und auch von der Wissenschaft mehr und mehr als solche anerkannt, etwa
in Robert Clonigers Temperament and Character Inventory und dessen Weiterentwicklung2.
Am spektakulärsten dürfte wohl der „ritualistic turn“ gewesen sein, den Jürgen Habermas, „der
bedeutendste, wirkungsmächtigste politische Philosoph der Gegenwart“ in seinem vielbeachteten
Schlussreferat 3 zum XXII. Deutschen Kongress für Philosophie am 15. September 2011 in München
vollzogen hat. Der Begründer der Theorie des kommunikativen Handelns sieht nun in der ausseralltäglichen Kommunikation des sakralen Komplexes, und insbesondere im Ritus, die stärkste
normative Kraft einer Gesellschaft verkörpert.
Er geht damit noch über Ken Wilber hinaus, der 2006 in einem Buch mit dem vielsagenden Titel
„Integral Spirituality - A Startling New Role for Religion in the Modern and Postmodern World“ die
Aufgabe der grossen Religionen darin sah, „die alten Mythen zu hegen, zu pflegen und zu
zelebrieren.“4 Denn: „Offenbar haben die mythischen Erklärungen dem Druck kognitiver
Dissonanzen (...) auf Dauer nicht standhalten können“, wohl aber die rituellen Praktiken, denn „die in
einer propositional ausdifferenzierten Sprache formulierten Gründe prallen an dieser ikonischen
Form der Gestenkommunikation (...) ab“.5
Und an anderer Stelle schreibt Habermas: „Anders als die autonom gewordenen, inzwischen mit der
diskursiven Kunstkritik verschwisterten Künste scheinen die Riten selbst, auch wenn sie in mythischen
Erzählungen kommentiert werden, noch nicht vom Sprachgeist infiziert zu sein.“6 Und er fährt fort:
„Der Zugang zu dieser archaischen Quelle hat sich uns ungläubigen Mitgliedern weitgehend
säkularisierter Gesellschaften verschlossen.“ 7
Es ist bemerkenswert wie Habermas hier, ganz im Sinne des festival religio musica nova, die Künste
und insbesondere die Instrumentalmusik mit dem Ritus parallel führt, und berührend zu sehen, wie
Habermas als Aussenstehender, und dennoch dem bussfertigen Sünder gleich, die Schuld am
Versagen der rituellen Kommunikation sich selbst zuschreibt, anstatt den nekrotischen Zustand des
sakralen Komplexes, den er in seinem Hymnus besingt, zu konstatieren. Denn jedes einzelne
Element, das Habermas als konstitutiv für die normative Kraft des sakralen Komplexes beschreibt,
wurde zerstört und mit Bann belegt. So wäre denn der damit einhergehende Niedergang der
Kirchen als sinngebende, moralische Instanz nicht auf blosse Synchronizität zurückzuführen - das liegt
auf der Hand - sondern durchaus auf starke Kausalität.
1 Jürgen Habermas, Religion und nachmetaphysisches Denken, in: Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012, S. 121
2 http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0191886901001076
3 https://cast.itunes.uni-muenchen.de/vod/clips/jpeVw4yW95/quicktime.mp4
4 Ken Wilber, a.a.O. S.193
5 Habermas, a.a.O. S.70
6 S.75
7 S.74f
1
Das Ritual Europas
Das zentrale Ritual Europas aber, das in seinen Hauptmerkmalen, beispielsweise in der Ausrichtung
des Priesters nach Osten zur aufgehenden Sonne, mutmasslich bis zu den Anfängen der Menschheit
zurückreicht, ist die lateinische Messe. Archaisches, Magisches und Mythisches ist in ihr aufgehoben im
dreifachen Hegelschen Sinne. Sie ist nicht nur das älteste Schauspiel der Menschheit, bei dem ausser
dem Text auch die Regieanweisungen mit grösster Präzision überliefert sind - ein vergessenes und
verdrängtes Weltkulturerbe - sondern, um mit Habermas zu sprechen, die rituelle Verkörperung der
Gründe der europäischen Kultur.
Indem das festival religio musica nova 2007 mit Immaculata die Messe aus ihrer konfessionellen
Konnotation gelöst und in einen transreligiösen Zusammenhang gestellt hat, war nur ein erster
Schritt getan, denn in der konzertanten Aufführung hat das Entscheidende: die Riten, Gesten und
Handlungen gefehlt. Nun soll also dieses grösste Kunstwerk der Menschheit, das, in seiner Substanz
unverändert, über die Jahrhunderte immer wieder neu inszeniert wurde, wieder einmal aufgeführt
werden - so wie noch nie zuvor.
Ganz im Sinne dieser Tradition werden die Worte, einem tausendsilbigen Mantra gleich, in der
heiligen Sprache Europas belassen und die Gesten minutiös so ausgeführt wie seit Jahrhunderten
vorgegeben. Die Musik verbindet Ältestes und Neuestes, und es ist erstaunlich, wie beides zu einem
ästhetisch überzeugenden Ganzen verschmilzt. Auch die Gewänder offenbaren einen zeitgemässen
Blick auf Archaisches, Rituelles. Anklänge an die Ästhetik von Robert Wilson und Frida Parmeggiani
sind da unvermeidlich.
Von Stonehenge über germanische Sonnwendfeiern bis zu den Glasfenstern gotischer Kathedralen
hat immer wieder Licht eine wichtige Rolle im rituellen Kontext gespielt, aber erst seit wenigen
Jahrzehnten wird Licht selbst und unmittelbar künstlerisch gestaltet. So dient das Licht-Design in
unserem „Re-enacting“ 8 des europäischen Rituals auch nur gelegentlich dazu, die durch Ritus und
Musik evozierten Stimmungen zu verstärken. Bisweilen scheinen die liturgischen Gesten auf das Licht
zu reagieren, bisweilen die Musik auf die rituellen Handlungen. Über weite Strecken aber ist das
Licht der eigentliche Handlungsträger, während Worte schweigen, Gesten erstarren und die Musik
sich an die obere und untere Hörgrenze zurückzieht.
Im Lichte einer aktuellen, man möchte fast sagen postreligiösen Spiritualität, aber auch vor dem
Hintergrund unterschiedlichster Ansätze im Denken des 21. Jahrhunderts, etwa des holographischen
Prinzips der Quantengravitation oder des evolutionären Konstruktivismus, erscheinen mir die
spätantiken theologische Ansätze, die bis ins 15. Jahrhundert rezipiert wurden, äusserst aktuell, wo
hingegen die neuzeitliche Reduktion von Religion auf einen rigiden Moralismus uns „Mitgliedern
weitgehend säkularisierter Gesellschaften“ mehr und mehr zum Stein des Anstosses geworden ist.
Durch den Rückgriff auf die künstlerisch-sinnlich-rituellen Aspkete der Messe könnte die spirituelle
Kraft dieses über Jahrhunderte durch die religiösen Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte von
Millionen von Menschen aufgeladenen Rituals auch heute noch wirksam werden.
8 Habermas, a.a.O. S.82
2
Kristallisationskern europäischer Kultur
Für Karl den Grossen war die Messe eines der wichtigsten Instrumente bei der politischen Einigung
Europas.
Seit dieser Zeit ist der Text der Messe und die Regieanweisungen, die sog. Rubriken, in wesentlichen
Teilen, seit 1570 aber bis ins letzte Detail vorgeschrieben. Es handelt sich also um das älteste
vollständig erhaltene Schauspiel der Menschheit, mit Milliarden von Aufführungen das am meisten
rezipierte und mit einer ungebrochenen Rezeptionsgeschichte von mehreren Jahrhunderten das bei
weitem erfolgreichste.
Auch die grossen Stile der europäische Architektur verdanken ihre Entwicklung vor allem der Herausforderung, für dieses Schauspiel vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Bewusstseins ein je
angemessenes Gehäuse zur Verfügung zu stellen. Ähnliches gilt für die Bildenden Künste.
Das Ganze der Messe ist aber nicht nur ein „spartenübergreifendes Gesamtkunstwerk“, das Musik,
Architektur, Malerei, Skulptur und eben auch Liturgie umfasst, sondern weist über die Künste hinaus
in den Bereich der Transzendenz. Sie ist Urbild dessen, was sowohl Wagner im „Ring“ (mit dem
Hintergrund der germanischen Mythologie) als auch Stockhausen in der „Woche aus Licht“ (in Bezug
zum Urantia-Buch) angestrebt haben.
Insbesondere hat sich die europäische Musik, ausgehend vom Gregorianischen Choral über die
verschiedenen Formen des Organum, die Schulen von St. Martial und Notre Dame, Ars Antiqua und
Ars Nova, die burgundisch-niederländische Vokalpolyphonie bis ins Barock als liturgisch gebundene
Musik entwickelt. Machault, Mozart und Messiaen schreiben ihre Mess-Kompositionen für die gleiche
Mess-Liturgie. Sie sind gleichsam verschiedene Fassungen des musikalischen Teils eines
Jahrhunderte umspannenden Hyper-Kunstwerks.
1968 wurde die klassische Messe, ungeachtet eines von zahlreichen Künstlern unterzeichneten
Appels, von Papst Paul VI abgeschafft, der grosse Bewusstseinsstrom jäh unterbrochen. Ein halbes
Jahrhundert später ist es den Künstlern überlassen, post-dekonstruktivistisch, tastend, sich dem
Verlorenen zu nähern.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in der Schweiz ein solcher Versuch unternommen wird.
Denn es sind Schweizer Klöster, denen die Welt die ältesten schriftlichen Quellen europäischer
Musik verdankt: St. Gallen (Codex 359) und Einsiedeln (Codex 121). Und eben diesen Codices sind
die Gesänge vom Tag des Heiligen Abtes German („In Die Sancti Germani Abbatis“) entnommen.
Während Gallus im Jahre 612 eine Klause errichtet haben soll, aus der später das Kloster St.Gallen
erwuchs, gründete Germanus um 640 die Abtei von Moutier-Grandval, wo just am Gedenktag des
Heiligen, am 21. Februar 2018, in der Kirche, die heute noch seinen Namen trägt, die Uraufführung
der ihm gewidmeten liturgischen Oper stattfinden wird.
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