Idee und Konzeption Während Soziologen gegen Ende des letzten Jahrhunderts in weitgehender Übereinstimmung davon ausgingen, „dass zwischen der fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft und der Überlebensfähigkeit religiöser Glaubensgemeinschaften ein Nullsummenspiel bestehe“ 1 werden Spiritualität, Selbsttranszendenz und Religion heute als essentielle Aspekte einer entwickelten Persönlichkeit angesehen und auch von der Wissenschaft mehr und mehr als solche anerkannt, etwa in Robert Clonigers Temperament and Character Inventory und dessen Weiterentwicklung2. Am spektakulärsten dürfte wohl der „ritualistic turn“ gewesen sein, den Jürgen Habermas, „der bedeutendste, wirkungsmächtigste politische Philosoph der Gegenwart“ in seinem vielbeachteten Schlussreferat 3 zum XXII. Deutschen Kongress für Philosophie am 15. September 2011 in München vollzogen hat. Der Begründer der Theorie des kommunikativen Handelns sieht nun in der ausseralltäglichen Kommunikation des sakralen Komplexes, und insbesondere im Ritus, die stärkste normative Kraft einer Gesellschaft verkörpert. Er geht damit noch über Ken Wilber hinaus, der 2006 in einem Buch mit dem vielsagenden Titel „Integral Spirituality - A Startling New Role for Religion in the Modern and Postmodern World“ die Aufgabe der grossen Religionen darin sah, „die alten Mythen zu hegen, zu pflegen und zu zelebrieren.“4 Denn: „Offenbar haben die mythischen Erklärungen dem Druck kognitiver Dissonanzen (...) auf Dauer nicht standhalten können“, wohl aber die rituellen Praktiken, denn „die in einer propositional ausdifferenzierten Sprache formulierten Gründe prallen an dieser ikonischen Form der Gestenkommunikation (...) ab“.5 Und an anderer Stelle schreibt Habermas: „Anders als die autonom gewordenen, inzwischen mit der diskursiven Kunstkritik verschwisterten Künste scheinen die Riten selbst, auch wenn sie in mythischen Erzählungen kommentiert werden, noch nicht vom Sprachgeist infiziert zu sein.“6 Und er fährt fort: „Der Zugang zu dieser archaischen Quelle hat sich uns ungläubigen Mitgliedern weitgehend säkularisierter Gesellschaften verschlossen.“ 7 Es ist bemerkenswert wie Habermas hier, ganz im Sinne des festival religio musica nova, die Künste und insbesondere die Instrumentalmusik mit dem Ritus parallel führt, und berührend zu sehen, wie Habermas als Aussenstehender, und dennoch dem bussfertigen Sünder gleich, die Schuld am Versagen der rituellen Kommunikation sich selbst zuschreibt, anstatt den nekrotischen Zustand des sakralen Komplexes, den er in seinem Hymnus besingt, zu konstatieren. Denn jedes einzelne Element, das Habermas als konstitutiv für die normative Kraft des sakralen Komplexes beschreibt, wurde zerstört und mit Bann belegt. So wäre denn der damit einhergehende Niedergang der Kirchen als sinngebende, moralische Instanz nicht auf blosse Synchronizität zurückzuführen - das liegt auf der Hand - sondern durchaus auf starke Kausalität. 1 Jürgen Habermas, Religion und nachmetaphysisches Denken, in: Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012, S. 121 2 http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0191886901001076 3 https://cast.itunes.uni-muenchen.de/vod/clips/jpeVw4yW95/quicktime.mp4 4 Ken Wilber, a.a.O. S.193 5 Habermas, a.a.O. S.70 6 S.75 7 S.74f 1 Das Ritual Europas Das zentrale Ritual Europas aber, das in seinen Hauptmerkmalen, beispielsweise in der Ausrichtung des Priesters nach Osten zur aufgehenden Sonne, mutmasslich bis zu den Anfängen der Menschheit zurückreicht, ist die lateinische Messe. Archaisches, Magisches und Mythisches ist in ihr aufgehoben im dreifachen Hegelschen Sinne. Sie ist nicht nur das älteste Schauspiel der Menschheit, bei dem ausser dem Text auch die Regieanweisungen mit grösster Präzision überliefert sind - ein vergessenes und verdrängtes Weltkulturerbe - sondern, um mit Habermas zu sprechen, die rituelle Verkörperung der Gründe der europäischen Kultur. Indem das festival religio musica nova 2007 mit Immaculata die Messe aus ihrer konfessionellen Konnotation gelöst und in einen transreligiösen Zusammenhang gestellt hat, war nur ein erster Schritt getan, denn in der konzertanten Aufführung hat das Entscheidende: die Riten, Gesten und Handlungen gefehlt. Nun soll also dieses grösste Kunstwerk der Menschheit, das, in seiner Substanz unverändert, über die Jahrhunderte immer wieder neu inszeniert wurde, wieder einmal aufgeführt werden - so wie noch nie zuvor. Ganz im Sinne dieser Tradition werden die Worte, einem tausendsilbigen Mantra gleich, in der heiligen Sprache Europas belassen und die Gesten minutiös so ausgeführt wie seit Jahrhunderten vorgegeben. Die Musik verbindet Ältestes und Neuestes, und es ist erstaunlich, wie beides zu einem ästhetisch überzeugenden Ganzen verschmilzt. Auch die Gewänder offenbaren einen zeitgemässen Blick auf Archaisches, Rituelles. Anklänge an die Ästhetik von Robert Wilson und Frida Parmeggiani sind da unvermeidlich. Von Stonehenge über germanische Sonnwendfeiern bis zu den Glasfenstern gotischer Kathedralen hat immer wieder Licht eine wichtige Rolle im rituellen Kontext gespielt, aber erst seit wenigen Jahrzehnten wird Licht selbst und unmittelbar künstlerisch gestaltet. So dient das Licht-Design in unserem „Re-enacting“ 8 des europäischen Rituals auch nur gelegentlich dazu, die durch Ritus und Musik evozierten Stimmungen zu verstärken. Bisweilen scheinen die liturgischen Gesten auf das Licht zu reagieren, bisweilen die Musik auf die rituellen Handlungen. Über weite Strecken aber ist das Licht der eigentliche Handlungsträger, während Worte schweigen, Gesten erstarren und die Musik sich an die obere und untere Hörgrenze zurückzieht. Im Lichte einer aktuellen, man möchte fast sagen postreligiösen Spiritualität, aber auch vor dem Hintergrund unterschiedlichster Ansätze im Denken des 21. Jahrhunderts, etwa des holographischen Prinzips der Quantengravitation oder des evolutionären Konstruktivismus, erscheinen mir die spätantiken theologische Ansätze, die bis ins 15. Jahrhundert rezipiert wurden, äusserst aktuell, wo hingegen die neuzeitliche Reduktion von Religion auf einen rigiden Moralismus uns „Mitgliedern weitgehend säkularisierter Gesellschaften“ mehr und mehr zum Stein des Anstosses geworden ist. Durch den Rückgriff auf die künstlerisch-sinnlich-rituellen Aspkete der Messe könnte die spirituelle Kraft dieses über Jahrhunderte durch die religiösen Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte von Millionen von Menschen aufgeladenen Rituals auch heute noch wirksam werden. 8 Habermas, a.a.O. S.82 2 Kristallisationskern europäischer Kultur Für Karl den Grossen war die Messe eines der wichtigsten Instrumente bei der politischen Einigung Europas. Seit dieser Zeit ist der Text der Messe und die Regieanweisungen, die sog. Rubriken, in wesentlichen Teilen, seit 1570 aber bis ins letzte Detail vorgeschrieben. Es handelt sich also um das älteste vollständig erhaltene Schauspiel der Menschheit, mit Milliarden von Aufführungen das am meisten rezipierte und mit einer ungebrochenen Rezeptionsgeschichte von mehreren Jahrhunderten das bei weitem erfolgreichste. Auch die grossen Stile der europäische Architektur verdanken ihre Entwicklung vor allem der Herausforderung, für dieses Schauspiel vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Bewusstseins ein je angemessenes Gehäuse zur Verfügung zu stellen. Ähnliches gilt für die Bildenden Künste. Das Ganze der Messe ist aber nicht nur ein „spartenübergreifendes Gesamtkunstwerk“, das Musik, Architektur, Malerei, Skulptur und eben auch Liturgie umfasst, sondern weist über die Künste hinaus in den Bereich der Transzendenz. Sie ist Urbild dessen, was sowohl Wagner im „Ring“ (mit dem Hintergrund der germanischen Mythologie) als auch Stockhausen in der „Woche aus Licht“ (in Bezug zum Urantia-Buch) angestrebt haben. Insbesondere hat sich die europäische Musik, ausgehend vom Gregorianischen Choral über die verschiedenen Formen des Organum, die Schulen von St. Martial und Notre Dame, Ars Antiqua und Ars Nova, die burgundisch-niederländische Vokalpolyphonie bis ins Barock als liturgisch gebundene Musik entwickelt. Machault, Mozart und Messiaen schreiben ihre Mess-Kompositionen für die gleiche Mess-Liturgie. Sie sind gleichsam verschiedene Fassungen des musikalischen Teils eines Jahrhunderte umspannenden Hyper-Kunstwerks. 1968 wurde die klassische Messe, ungeachtet eines von zahlreichen Künstlern unterzeichneten Appels, von Papst Paul VI abgeschafft, der grosse Bewusstseinsstrom jäh unterbrochen. Ein halbes Jahrhundert später ist es den Künstlern überlassen, post-dekonstruktivistisch, tastend, sich dem Verlorenen zu nähern. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in der Schweiz ein solcher Versuch unternommen wird. Denn es sind Schweizer Klöster, denen die Welt die ältesten schriftlichen Quellen europäischer Musik verdankt: St. Gallen (Codex 359) und Einsiedeln (Codex 121). Und eben diesen Codices sind die Gesänge vom Tag des Heiligen Abtes German („In Die Sancti Germani Abbatis“) entnommen. Während Gallus im Jahre 612 eine Klause errichtet haben soll, aus der später das Kloster St.Gallen erwuchs, gründete Germanus um 640 die Abtei von Moutier-Grandval, wo just am Gedenktag des Heiligen, am 21. Februar 2018, in der Kirche, die heute noch seinen Namen trägt, die Uraufführung der ihm gewidmeten liturgischen Oper stattfinden wird. 3