Teil I: Depression 1 Versorgung von Depressionen im Alter Susanne Zank und Sonja Heidenblut 1.1 Das Krankheitsbild Depression Epidemiologie Risikofaktoren Versorgungsforschung Aktuelle Entwicklung Fazit Literatur Das Krankheitsbild Depression Depressionen sind psychische Störungen, die von einer dauerhaften Überschattung des menschlichen Erlebens durch negative Gedanken und Gefühle gekennzeichnet sind. Kernsymptome sind niedergeschlagener Affekt, Verlust von Freude und Interesselosigkeit sowie eine Antriebsstörung oder erhöhte Ermüdbarkeit; dabei können je nach Schweregrad in unterschiedlicher Anzahl und Ausprägung zahlreiche weitere Beschwerden wie Konzentrationsschwierigkeiten, Verlust des Selbstvertrauens, psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung, Störungen des Schlafrhythmus, verminderter oder gesteigerter Appetit sowie Suizidalität auftreten. Eine depressive Episode im Sinne eines krankheitswertigen Zustandes wird diagnostiziert, wenn mindestens zwei Kernsymptome sowie zwei weitere Symptome seit mindestens zwei Wochen vorhanden sind, die nicht durch eine körperliche Störung oder Substanzmittelmissbrauch verursacht wurden. Neben den depressiven Episoden unterscheidet man noch zwischen leichteren Erkrankungsformen, den Dysthymien, die durch einen chronischen Verlauf über Jahre hinweg charakterisiert sind, und den Anpassungsstörungen, bei denen man einen ursächlichen Auslöser der Erkrankung in der Lebensgeschichte des Erkrankten annimmt (WHO 2005). 1.2 Epidemiologie Depressionen zählen weltweit zu den am stärksten verbreiteten Erkrankungen; nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation werden sie 2020 die zweithäufigste Volkskrankheit nach der ischämischen Herzerkrankung sein (Murray & Lopez 1997). Derzeit leidet ein Fünftel der Weltbevölkerung zumindest 15 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 Teil I: Depressionl einmal im Leben unter einer klinisch relevanten Depression und unipolare Depressionen sind in allen Altersgruppen die häufigste Ursache für durch Behinderung beeinträchtigte Lebensjahre (Lopez et al. 2006). In der älteren Bevölkerung treten depressive Störungen etwa ebenso häufig auf wie in anderen Altersgruppen, allerdings verschiebt sich in der älteren Population das typische Krankheitsbild zugunsten verstärkt auftretender leichterer Erkrankungsformen, schwerere Fälle nehmen dagegen tendenziell ab. Die Berliner Altersstudie, die sich an Krankheitsnormen nach DSM-III orientiert, nennt Gesamtprävalenzraten der Population der über 70-Jährigen von 9,1 % (Helmchen et al. 1996). Davon beziehen sich 5,4 % auf Major-Depressionen, d. h. mittelgradige bis schwer ausgeprägte depressive Episoden, 2,0 % auf dysthyme Störungen, 0,7 % auf Anpassungsstörungen und 1,0 % auf Demenzen mit Depression. Eine besondere Rolle kommt im Alter der so genannten subdiagnostischen Depressivität zu. Damit sind Krankheitsbilder gemeint, die zwar nicht voll ausgebildet sind, die aber die Lebensqualität der Betroffenen bereits deutlich beeinträchtigen und die das Risiko einer späteren Erkrankung deutlich erhöhen. Die Berliner Altersstudie nennt einen Anteil von 23 % der Probanden, die subdiagnostische Depressivität aufweisen. In scheinbarem Widerspruch zur stärkeren Verbreitung milderer Erkrankungsformen bei älteren Patienten steht der Befund, dass mit dem Alter das Suizidrisiko stark ansteigt. So sind nach der Befundlage des Jahres 2000 bei den unter 25-Jährigen 3,4 % von Suizidalität betroffen, bei den über 75-Jährigen steigt der Anteil auf 30,5 % (Weyerer & Bickel 2007). Risikofaktoren Ursächlich werden Depressionen von zahlreichen Faktoren ausgelöst; heutzutage geht man von dem so genannten Diathese-Stress-Modell aus, das besagt, dass akut auftretende Stressoren, etwa kritische Lebensereignisse, Verlust­ erlebnisse etc. die Störung bei einer entsprechenden genetischen oder psychosozialen Prädisposition auslösen können (Hautzinger & de Jong-Meyer 2003). Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen im höheren Lebensalter ist das Vorhandensein weiterer Erkrankungen und Behinderungen. So betragen die Prävalenzraten depressiver Störungen in Pflegeheimen zwischen 40 % und 50 %, wobei zwischen 15 % und 20 % der Bewohner schwer erkrankt sind (Ernst & Angst 1995). Die Zusammenhänge verschiedener körperlicher Faktoren und der depressiven Verstimmung sind dabei meist komplex und hinsichtlich eines Ursache-Wirkungsmechanismus schwer voneinander abzugrenzen, wie Häfner (1986, S. 34–35) anschaulich verdeutlicht: Ein passiver Lebensstil begünstigt Bewegungsmangel und Überernährung. In deren Folge kann sich ein Diabetes mellitus entwickeln, der nach langjährigem Bestehen das Auftreten einer Depression und die Entwicklung eines zerebralen Gefäßprozesses begünstigt. Die depressive Krankheit hat eine Vernachlässigung diätischer Regeln und medizinischer Verordnungen zur Folge, die zur Dekompensation des Diabetes und, in Zusammenhang damit, zu einem 16 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.3 1 Versorgung von Depressionen im Alter Hirninfarkt führt. Als Folge des Hirninfarktes verbleibt eine Demenz mit Pflegebedürftigkeit. 1.4 Versorgungsforschung Die komplexe Verschränkung körperlicher Erkrankungen und depressiver Verstimmung bei älteren Patienten ist auch eine der Ursachen für die derzeit noch deutlich defizitäre Versorgung in der Diagnostik und Behandlung von Depressionen im Alter. So fehlt dem Hausarzt, der für diese Patientengruppe die erste Anlaufstelle darstellt, häufig das Fachwissen, um zwischen primär psychogenen somatischen Auffälligkeiten im Sinne depressiver Symptome und körperlich begründeten Beschwerden sicher zu unterscheiden. In einer Metastudie mit 633 Hausarztpraxen wird beispielsweise eine Rate korrekter Diagnosen nach ICD-10 von lediglich 50 % berichtet (Jacobi et al. 2002). Screeningverfahren, d. h. psychologische Messinstrumente, die durch das Anzeigen von Risikopatienten bei jüngeren Patienten ein wirkungsvolles Hilfsmittel in der Diagnostik sein können, sind für ältere Patienten bisher kaum explizit entwickelt worden oder scheitern an der Differenzierung zwischen körperlichen und psychischen Beschwerden1. Ähnlich problematisch sieht die Situation in der Behandlung aus. Die Berliner Altersstudie berichtet nur bei 40 von 133 dia­gnostizierten Patienten eine psychopharmakologische Versorgung, keiner der Patienten wurde an einen Facharzt überwiesen und keiner psychotherapeutisch behandelt (Wernicke & Linden 1997). Dieser Befund wird auch durch die Tatsache gestützt, dass über 60-Jährige, die in der Allgemeinbevölkerung einen Prozentsatz von 20 % stellen, nur 5 % der Patienten in ambulanten psychotherapeutischen Praxen ausmachen; dabei geben 90 % der Therapeuten sogar explizit an, Patienten dieser Altersgruppe nicht behandeln zu wollen (Richter 2006). Dieser (psycho)therapeutische Nihilismus gegenüber der Behandlung älterer Patienten scheint sich in der praktischen Erfahrung nicht zu bestätigen; so war in einer Befragung von Berliner Psychotherapeuten Vorerfahrung mit einer älteren Klientel der Hauptprädiktor für die Bereitschaft zur Übernahme weiterer Patienten im höheren Lebensalter (Zank 2002). Aktuelle Entwicklung Die starke Verbreitung der Volkskrankheit Depression mit ihren entsprechenden sozialen und auch ökonomischen Folgen hat in letzter Zeit zu einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilisierung für dieses Thema geführt. So wurde die Prävention, Früherkennung und effektive Behandlung depressiver Störungen vom Bundesministerium für Gesundheit und der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung 2006 zum 6. Nationalen Gesundheitsziel erklärt. In diesem Zusammenhang werden vom ärztlichen Zentrum 1 Die Entwicklung eines neuen Messinstrumentes an der Universität Siegen, das die klinischen Besonderheiten depressiver Störungen im höheren Lebensalter explizit berücksichtigt, soll diese Situation verbessern. 17 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.5 Teil I: Depressionl für Qualität in der Medizin zurzeit nationale Versorgungsrichtlinien zur Behandlung von Depressionen entwickelt. Eine vielversprechende Innovation in der Versorgung ambulanter depressiver Patienten stellt dabei das so genannte Case Management dar. Case Management bezeichnet eine multiprofessionelle Behandlungsform, die sich durch ein hohes Maß an Interaktion zwischen Hausarzt, Patient, Facharzt und ggfs. Psychotherapeuten auszeichnet. Dabei wird für jeden Patienten eine klinisch geschulte Pflegekraft oder Psychologin als Case Manager eingesetzt, die nach sorgfältiger Diagnostik gemeinsam mit Patient und Hausarzt einen Therapieplan entwickelt, regelmäßig die Wirksamkeit der Behandlung überprüft und ggfs. Änderungen anregt. Eine wichtige Behandlungskomponente ist bei diesem Programm auch der stetige Kontakt zwischen der Koordinatorin und dem Erkrankten, der neben psychoedukativem Austausch psychotherapeutische Elemente einer vertrauensvollen, kontinuierlichen Beziehung einschließt. Nach einer erfolgreichen Evaluation dieses Behandlungsmodells durch das Programm IMPACT in den USA, das an einer Stichprobe von 1 800 über 60-jährigen Probanden deutlich höhere Besserungsraten nachweisen konnte als die herkömmliche Behandlung (Unnützer et al. 2002), läuft gegenwärtig ein BMBF-Projekt (Gensichen et al. 2004) mit dem Ziel, ähnliche Effekte im deutschsprachigen Raum nachzuweisen. 1.6 Fazit Die hohe Verbreitung depressiver Störungen in allen Altersgruppen stellt eine gesellschaftliche Herausforderung dar, die gegenwärtig stärker in den Blickpunkt geraten ist. Dabei zeigen aktuelle klinische Studien, dass eine erfolgreiche Behandlung vor allem bei älteren Patienten nur im Rahmen ganzheit­licher Behandlungspläne und unter Einbeziehung geschulten Personals erfolgen kann. Die komplexe Verschränkung körperlicher und psychischer Symptome macht auch die Berücksichtigung subdiagnostischer Krankheitsbilder bei der Behandlung primär körperlich erkrankter geriatrischer Patienten in der primärärztlichen Versorgung wünschenswert. Literatur Ernst C, Angst J (1995). Depression in old age. Is there a real decrease in prevalence? A review. European Archive of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 245:272–287. Gensichen J, Beyer M, Schwäbe N, Gerlach FM (2004). Hausärztliche Begleitung von Patienten durch Case Management – Ein BMBF-Projekt. Zeitschrift für Allgemeine Medizin, 80:507–511. Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (2006). Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln. Forum zur Entwicklung und Umsetzung von Gesundheitszielen in Deutschland. Bericht 6. nationales Gesundheitsziel. Verfügbar unter: http://www.bmg.bund.de/…/Publikationen/Gesundheit/g315,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/g315.pdf. Häfner H (1986). Psychische Gesundheit im Alter. Stuttgart: Fischer. 18 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.7 1 Versorgung von Depressionen im Alter 19 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Hautzinger M, de Jong-Meyer R (2003). Depressionen. In: Reinecker H (Hrsg.). Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie (S. 215–259). Göttingen: Hogrefe. Helmchen H, Baltes MM, Geiselmann B, Kanowski S, Linden M, Reischies FM, Wagner M et al. (1996). Psychische Erkrankungen im Alter. In: Mayer KU, Baltes BP (Hrsg.). Die Berliner Altersstudie (S. 185–216). Berlin: Akademie Verlag. Jacobi F, Höfler M, Wittchen HU (2002). Prävalenz, Erkennens- und Verschreibungsverhalten bei depressiven Syndromen – eine bundesdeutsche Hausarztstudie. Der Nervenarzt, 7:651–658. Lopez A, Mathers C, Ezzati M, Jamison D, Murray C (2006). Global Burden Of Dis­ ease and Risk Factors. Oxford: University Press. Murray C, Lopez A (1997). Alternative projections of mortality and disability by cause 1990–2020. Global Burden of Disease Study. The Lancet, 349:1498–1504. Richter R (2006). Psychische Erkrankungen im Alter: Vorbeugen und Therapieren. Verfügbar unter: http://www.who-tag.de/pdf/2006richter_r_abstract.pdf. Unnützer J, Katon W, Callahan C, Williams J, Hunkeler E, Harpole L, Hoffing M, Penna R, Noel P, Lin E, Areán P, Hegel M, Tang L, Belin T, Oishi S, Langston C (2002). Collaborative Care Management of Late-Life Depression in the Primary Care Setting. Journal of the American Medical Association, 288:2836–2845. Wernicke T, Linden M (1997). Psychopharmakotherapie bei Depressionen im Alter – Die Berliner Altersstudie (BASE). In: Radebold H, Hirsch RD, Kipp J, Kortus R, Stoppe G, Struwe B et al. (Hrsg.). Depressionen im Alter (S. 152–153). Darmstadt: Steinkopff. Weyerer S, Bickel H (2007). Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter. Grundriss Gerontologie Band 14. Stuttgart: Kohlhammer. WHO (2005). Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostischer Leitfaden. Bern: Hans Huber. Zank S (2002). Einstellungen alter Menschen zur Psychotherapie und Prädiktoren der Behandlungsbereitschaft bei Psychotherapeuten. Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, 23:181–193. 2 Psychotherapeutische Interventionen bei Altersdepressionen: das VEDIA-Programm Jochen Stien 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.1 Einleitung Psychotherapie im Alter Das VEDIA-Programm Zusammenfassung Literatur Einleitung Im Jahre 1905 schrieb Sigmund Freud: „… ist festzustellen, dass bei Personen nahe an oder über fünfzig Jahren einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und … andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert“ (Freud 1905). Über 100 Jahre später ist diese Überzeugung so oder so ähnlich immer noch anzutreffen, auch in Fachkreisen. Psychotherapie im Alter Das hier zu beschreibende Programm geht im Gegensatz dazu davon aus, dass auch ältere Menschen von einer Psychotherapie profitieren können, wenn sie nur an die entsprechenden Bedingungen und Themen dieses Lebensabschnittes angepasst wird. Stützen lässt sich diese Grundannahme von der Vielzahl der empirischen Belege über die Entwicklungsfähigkeit und Plastizität alter Menschen (z. B. Gedächtnis, kristalline Intelligenz, Rehabilitation). Altersprozesse sind vielfältig und lassen sich durch Stereotype nicht realistisch abbilden. Es gibt zwar eine hohe (körperliche) Komorbidität, dies ist allerdings absolut keine Kontraindikation für Psychotherapie. Eine Besonderheit der Alterspsychotherapie unserer Zeit ergibt sich durch die historische Dimension des spezifischen Kohorteneffektes der heutigen älteren Generation; durch das Durchleben des Zweiten Weltkrieges und auch der Nachkriegszeit kommt bestimmten Themen wie Schuld, Hilflosigkeit, existenzielle Unsicherheit uvm. eine besondere Bedeutung zu. Ebenso wird durch den häufig sehr großen Altersunterschied zwischen Patient und Therapeut die Übertragungs- und Gegenübertragungsproblematik auf eine besondere Weise mitbestimmt. Das zentrale Thema in der Alterspsychotherapie stellt die Autonomie und das Selbstmanagement dar. Dies führt in ganz besonderem Maße zu einer ressourcenorientierten Vorgehensweise (siehe auch: SOK-Konzept, Baltes & Carstensen 1998). 20 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 2.2 2 Psychotherapeutische Interventionen bei Altersdepressionen: das VEDIA-Programm Psychotherapie im Alter ist also möglich und nötig. Die Depression ist die häufigste psychische Erkrankung im Alter, die Suizidrate ist dreimal so hoch wie in jüngeren Jahren. Und unter dem Aspekt der Bevölkerungsentwicklung erscheint es sinnvoll, sich mittels spezieller psychotherapeutischer Konzepte den älteren Patienten zu widmen. In der Versorgungslandschaft – vor allem in der ambulanten – gibt es allerdings nahezu keine Psychotherapie Älterer; es existiert weder ein nennenswertes Angebot noch eine besondere Nachfrage (Zank & Niemann-Mirmehdi 1998). 2.3 Das VEDIA-Programm Inhaltlich liegt dem hier beschriebenen VEDIA-Programm (Adler 2005) eine kognitiv-verhaltenstherapeutisch fundierte und integrativ-schulenübergreifende Psychotherapie zugrunde, die sich im Besonderen auch den spezifischen Herausforderungen der Beziehungsarbeit stellt. Auch ein altersadaptiertes Entspannungsverfahren (PMR) ist Bestandteil des Programms. Die Zielsetzung orientiert sich an den von Heuft beschriebenen Themen: Fördern von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, Verbessern sozialer Fähigkeiten, stärkeres Berücksichtigen des Körpers (in Krankheit und auch Gesundheit), Klären intra- und intergenerationeller Schwierigkeiten, Akzeptanz des gelebten Lebens, Bearbeitung der Verlustthematik, Auseinandersetzung mit Altern, Sterben und Tod, Fördern des Gegenwartsbezugs und das Erarbeiten praktischer Lösungen (Heuft et al. 2002). Das VEDIA-Programm wurde konzipiert für Patienten mit depressiver Symptomatik, besonders im Alter depressiv Gewordener (LOD, „late onset depressives“). Nicht indiziert ist es bei ausgeprägten kognitiven oder mnestischen Störungen sowie paranoiden Symptomen, sowie auch bei geringen Kontrollüberzeugungen. Es gliedert sich formal in vier Teile: Innerhalb des Einführungsblocks erfolgen eine standardisierte Diagnostik sowie die Anamneseerhebung. Zentral ist auch die Beziehungsbildung, die am Anfang der Therapie den Grundstein für die weitere Arbeit legt. Auf dieser Grundlage erfolgt die Therapieplanung. Im ersten Therapieblock wird dann je nach Patient ein thematischer Baustein ausgewählt. Zur Verfügung stehen hier die symptombezogenen Komplexe „Angst“ oder „körperliche Beschwerden“ oder „Inaktivität“. Im daran anschließenden Therapieblock wird ebenfalls wieder aus verschiedenen Möglichkeiten diejenige ausgewählt, die am besten zum Patienten passen. Die situationsbezogenen Bausteine sind „Partnerverlust“, „Wohnungswechsel“ und „Rollenwechsel“. In der Abschlussstunde wird die Therapie rekapituliert, das Erreichte gewürdigt (auch anhand eines durchgeführten modifizierten Goal Attainment Scaling), das noch Offene konkretisiert und die Katamnese vereinbart. 21 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 1.Diagnostik und Anamnese (3 Stunden) 2.Symptombezogener Therapieblock (4 Stunden) 3.Situationsbezogener Therapieblock (4 Stunden) 4.Abschluss und Ausblick (1 Stunde). Teil I: Depressionl Das Programm findet in Form einer Einzeltherapie statt, was die Durchführbarkeit erleichtert und eine optimale Anpassung an die individuellen Bedürfnisse ermöglicht. Das VEDIA-Programm ist sowohl teilstationär, stationär als auch ambulant einsetzbar. Es finden 12 Sitzungen mit je 50 Minuten statt, in (teil-) stationärem Setting z. B. zweimal wöchentlich. Bei Bedarf kann an das Programm noch eine weitere Psychotherapie angeschlossen werden. Obligatorische Bestandteile einer jeden VEDIA-Therapie sind die Diagnostik (Depres­sivität, Angst, Selbstkontrolle, Lebensumstände), die Anamnese, ein modifiziertes Goal Attainment Scaling, Psychoedukation, eine gezielte Aktivierung durch Führen eines Wochenplans, das Erstellen einer Verhaltensanalyse sowie von Bedingungsmodellen und nicht zuletzt die Vermittlung eines Entspannungsverfahrens (PMR). Die möglichen Bestandteile sind abhängig von den jeweils gewählten Bausteinen, es können Verfahren der Stimulus- und Konsequenzkontrolle eingesetzt werden, ebenso kann eine kognitive Umstrukturierung notwendig erscheinen. Häufig rückt auch eine Trauerarbeit in den Fokus. Das VEDIA-Konzept ermöglicht aber auch den flexiblen Einsatz weiterer Elemente, diese lassen sich in das offene Programm integrieren. Im Rahmen einer Evaluationsstudie wurde für die Kontrollgruppe, die nicht mit dem VEDIA-Programm behandelt wird, ein so genanntes Clinical Management konzipiert. Hierbei wird keine spezifische Psychotherapie, sondern es werden die üblichen ärztliche Visitengespräche durchgeführt. PMR wird auch hier vermittelt. In diesen Gesprächen soll eine Grundhaltung von positiver Wertschätzung, Empathie und Kongruenz eingenommen werden. Möglich sind im Einzelnen: Ermutigung zur Medikamentencompliance, Information zu Medikamenten, Psychoedukation und Beratung im Allgemeinen (z. B. zu Ernährung, Schlafhygiene etc.), eine unsystematische Aktivierung sowie Ratschläge zur Entlastung (z. B. Sport, Reduktion von Verpflichtungen und Belastungen). Es werden explizit keine VEDIA- oder VT- Elemente angewandt, es findet kein Üben oder Protokollieren statt, es werden keine Hausaufgaben bearbeitet. Die Zielparameter der Evaluation sollen sein: Depression (MADRS, GDS), Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, Aktivitätsniveau, Funktionsniveau (ADL, IADL), Lebensverhältnisse (MILVA) und die kognitive Leistungsfähigkeit (SIDAM). Kontrolliert werden dabei die körperliche Morbidität, die Medikation sowie einschneidende Lebensereignisse. Zusammenfassung Aufgrund der bisherigen Auswertungen (N = 16) lassen sich die ersten Tendenzen wie folgt zusammenfassen: Patienten, die das VEDIA-Programm durchlaufen haben, zeigen im Vergleich zur Kontrollgruppe bei gleicher somatischer Gesundheit und Alltagsfunktion eine verringerte Depressivität sowie deutlich verringerte Anspannung und Traurigkeit, ebenso eine deutliche Verringerung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen im Katamnesezeitraum. Insofern erscheint das VEDIA-Programm als ein tauglicher Versuch, den Erfordernissen einer Alterspsychotherapie in ausreichender Form gerecht zu werden. 22 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart 2.4 2 Psychotherapeutische Interventionen bei Altersdepressionen: das VEDIA-Programm 2.5 Literatur 23 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Adler G (2005). Verhaltens-Einzelpsychotherapie von Depressionen im Alter (VEDIA). Stuttgart: Schattauer. Baltes M, Carstensen L (1996). Gutes Leben im Alter. Überlegungen zu einem prozessorientierten Metamodell erfolgreichen Alterns. Psychologische Rundschau, 47:199– 215. Freud S (1905). Über Psychotherapie. Berlin: Urban & Schwarzenberg. Heuft G, Rudolf G, Öri C (1992). Ältere Patienten in psychosomatisch-psychotherapeutischen Institutionen. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 38:358–370. Zank S, Niemann-Mirmehdi M (1998). Psychotherapie im Alter: Ergebnisse einer Befragung von Psychotherapeuten. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 27:125–129. 3 Systemische Therapie bei Depressionen im Alter Johannes Johannsen 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.1 Einleitung Systemische Sichtweise Familiäre Strukturen Depressive Störungen älterer Menschen Literatur Einleitung 3.2 Systemische Sichtweise Die systemische Sichtweise betrachtet die wechselwirkenden Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Systems und deren Überzeugungen und Einstellungen. Es wird in zirkulären statt in linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gedacht. So wie es verschiedene Sichtweisen gibt, kann es entsprechend viele Wirklichkeiten geben. Wirklichkeit ist eine soziale Konstruktion, sie wird immer wieder neu zwischen den beteiligten Personen ausgehandelt. Die systemische Sichtweise nimmt an, jedes Verhalten und auch Krankheit mache Sinn 24 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Depressionen unterschiedlicher Ausprägung – von der Major-Depression über die „endoreaktive“ Depression bis hin zu subsyndromalen Depressionen – sind die häufigsten psychischen Störungen des älteren Menschen. Bei der Entstehung, dem Erscheinungsbild und dem Verlauf einer Depression des älteren Menschen spielen psychosoziale – familiäre, soziale und wirtschaftliche – Bedingungen eine besondere Rolle. Dazu zählen insbesondere Veränderungen, Belastungen und Konflikte sowie krisenhafte Zuspitzungen in den inner- und außerfamiliären Beziehungen des betroffenen Menschen sowie Veränderungen in seiner soziokulturellen Umwelt. Systemische Therapie ist immer dann indiziert, wenn das klinisch auffällige Verhalten eines Patienten mit seinen familiären Beziehungen oder mit seinem um Drittpersonen erweiterten relevanten Bezugssystem eng verknüpft ist. Therapeutisch geht es im System dann darum, einerseits die bestehenden Beziehungen, ihre Muster und Regeln sowie die Weltbilder der Beteiligten zu erkennen und andererseits „passende“ Veränderungen und Weiterentwicklungen anzustoßen. In der klinischen Praxis – sei es stationär, teilstationär oder ambulant – bedeutet dies, bei der Behandlung eines Patienten ihn von vornherein im Gefüge seiner relevanten zwischenmenschlichen Beziehungen zu betrachten und seine im Rahmen der ICD-10 als depressiv (F32 – F39) oder auch als Anpassungsstörung (F43) bezeichnete Erkrankung als Ausdruck einer gestörten Kommunikation im System zu verstehen.