Journal Club Opioid-induzierte Halluzinationen: Ursachen, Diagnose und Behandlung Sivanesan E et al. Opioid-induced Hallucinations: A Review of the Literature, Pathophysiology, Diagnosis, and Treatment. Anesth Analg 2016; 123: 836 – 843 Eellan Sivanesan und seine Kollegen haben dazu eine Literaturrecherche in verschiedenen elektronischen Datenbanken angestellt. Dabei suchten sie nach Halluzinationen oder deliranten Zuständen, die in Zusammenhang mit einer Opioidtherapie beschrieben waren. Letztlich gingen 56 Arbeiten in die Auswertung ein, die Mehrzahl davon kasuistische Serien. Eine umfassende Übersicht über die Inzidenz von opioidbedingten Halluzination bietet die französische Base Nationale de Pharmacovigilance, in der bei 482 von 12 184 mit Opioiden behandelten Patienten Halluzinationen beschrieben waren. Am höchsten schien das Risiko für Tramadol, mit einer Odds Ratio (OR) von 6.3, gefolgt von Morphin (OR 4,4). Als pathophysiologische Grundlage dieser Halluzinationen wird eine Störung des Dopaminstoffwechsels im Zentralnervensystem mit vermehrter Dopaminfreisetzung vermutet. Das würde dem Mechanismus ähneln, der Halluzinationen schizophrener Patienten zugrunde liegen soll. Dabei könnten Opioidmetabolite eine ähnliche Wirkung aufweisen wie die Ausgangssubstanz, was zu einer zunehmenden Toxizität bei chronischer Einnahme beitragen könnte. Die Diagnose kann schwierig sein – eine bestehende Therapie mit einem Opioid ist ein Hinweis, aber kein Beweis. Differenzialdiagnostisch müssen andere Ursachen der Halluzinationen ausgeschlossen werden, wie psychiatrische und neurolo- 18 gische Erkrankungen, metabolische und endokrinologische Störungen, Infektionen, Hirntumoren, Schlaganfall u. a. Lassen sich die Halluzinationen mit Gabe eines Opioidantagonisten beenden, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine opioidbedingte Genese. Letztlich ist die Diagnose aber eine klinische – sichere Labortests gibt es nicht. Wenn die (Verdachts-)Diagnose steht, existiert eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten. Am einfachste scheint das Absetzen des Opioids – was aber seinerseits zu Entzugserscheinungen mit Halluzinationen führen kann. Wird das Opioid im Rahmen einer chronischen Schmerztherapie gegeben, kommt eine Dosisreduktion mit Umstellung auf ein multimodales Schema auch mit Gabe von Ko-Analgetika infrage. Gelegentlich kann auch die Umstellung auf ein anderes Opioid oder auf eine andere Darreichungsform (z. B. rektal statt oral) helfen, das muss im individuellen Fall ausprobiert werden. Grundsätzlich empfiehlt es sich, einen Schmerzmediziner hinzuzuziehen. Neben diesen mehr oder weniger kausalen Ansätzen steht die Therapie der Symptome. Bei dringlicher Indikation können Neuroleptika, Acetylcholinesterase-Inhibitoren oder Benzodiazepine alle im Einzelfall nach Abwägung der Vor- und Nachteile hilfreich sein. FA ZIT Prospektive Studien zur Inzidenz von Halluzinationen unter Opioidtherapie sind dringend nötig, denn bislang gibt es keine sicheren Zahlen dazu. Sie werden aber wohl mit zunehmender Opioidverordnung ebenfalls zunehmen und auch in der hausärztlichen Praxis häufiger gesehen werden. Die Praktiker sollten sich der Möglichkeit auch dieser seltenen Nebenwirkung bewusst sein, denn Patienten zögern von sich aus häufig, Halluzinationen anzusprechen: Sie fürchten, dann als geistig instabil zu erscheinen. Dr. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim Kommentar Opioid-vermittelte Halluzinationen treten im Vergleich zu den zahlreichen anderen, klinisch auffälligeren Opioid-assoziierten Nebenwirkungen eher sehr selten auf, sind für den betroffenen Patienten jedoch extrem störend und beeinträchtigen dessen Lebensqualität. Diese sehr seltenen Einzelfallbeispiele werden eher bei Patienten beobachtet, die sich in einer palliativen „end-of-life“-Situation befinden und in diesem Kontext überdurchschnittlich hohe Dosierungen eines Opioids erhalten. Ihr Auftreten kann jedoch zunächst nicht erkannt werden, u. a. weil zahlreiche psychische oder organische Komorbiditäten für ihr Auftreten angeschuldet werden. Darin liegt auch der besondere Stellenwert dieses Übersichtsartikels, dessen primäres Anliegen es ist, auf dieses sehr seltene Phänomen aufmerksam zu machen und damit die Häufigkeit der Diagnose deutlich zu erhöhen. In dem Artikel wird die Schwierigkeit deutlich, Opioid-vermittelte Halluzinationen eindeutig zu diagnostizieren; handelt es sich doch primär um eine Ausschlussdiagnose, als dass es eine spezifi- Journal Club AINS 2017; 6: 18–19 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die Verschreibung von Opioiden hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, u. a. weil die Substanzen häufiger als früher auch bei nicht tumorbedingten Schmerzen eingesetzt werden. Mit zunehmendem Gebrauch gewinnen auch eigentlich seltene Nebenwirkungen an Bedeutung. Eine Übersicht zu Halluzinationen unter Opioidtherapie haben Mediziner aus Miami zusammengestellt. Metaboliten – dieses keine langfristige therapeutische Möglichkeit darstellt. Naheliegender wäre die Dosisreduktion des Opioids mit gleichzeitiger Substitution durch ein weiteres analgetisches Verfahren (Medikamente, invasive sowie nichtinvasive Verfahren) oder die Rotation auf ein anders Opioid. Die Evidenzlage hierfür ist jedoch sehr lückenhaft, bezieht sich lediglich auf Einzelfallberichte und erlaubt keine allgemeine Handlungsempfehlung. Der Erfolg bzw. Misserfolg einer solchen jeweiligen Therapie wird sich erst im Rahmen eines individuellen Therapieversuchs zeigen. Der Autor Univ.-Prof. Dr. med. Michael Schäfer, Klinik für Anaesthesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, CharitéUniversitätsmedizin Berlin Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. sche Untersuchung gibt, die eine eindeutige Diagnosestellung erlaubt. In der Regel kann auch kein bestimmtes Opioid vermehrt dafür verantwortlich gemacht werden, gibt es doch Berichte zu fast allen handelsüblichen Opioiden (außer bisher Remifentanil, Sufentanil, Alfentanil). Zur Therapie empfehlen die Autoren ein abgestuftes Vorgehen. Der Vorschlag einer rein symptomatischen Behandlung mit Opioid-Antagonisten, Antipsychotika, Anticholinergika bzw. Benzodiazepine mag nur für eine kurzzeitige Dauer eine wirkliche Option sein, da bei zunehmenden neurotoxischen Erscheinungen – vermutlich durch eine Akkumulation von Journal Club AINS 2017; 6: 18–19 19