Ein Blick ins Jenseits? Nahtod-Erlebnisse und - RPI

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Ein Blick ins Jenseits? Nahtod-Erlebnisse und christlicher Gottesglaube Von
Christian Hoppe
http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=894069
Seit einiger Zeit beobachtet man in Fachzeitschriften, wie zum Beispiel „Gehirn und Geist", oder in
Illustrierten ein verstärktes Interesse an sogenannten Nahtod-Erlebnissen. Betroffene berichten dabei
aus ihrer Erinnerung von Zuständen, in denen sie
das Gefühl hatten, ihren Körper zu verlassen und
die Situation einschließlich ihres eigenen Körpers
unbeteiligt von außen aus einer erhöhten Position
wahrzunehmen. Dieses außerkörperliche Erlebnis
nennt man in der Fachsprache Autoskopie. Andere
sahen einen Tunnel oder eine Brücke, über die sie
gleichsam auf ein helles Licht zuschwebten (im
folgenden verkürzend als „Tunnel-Licht-Erlebnis"
bezeichnet). Nicht selten begegneten den Betroffenen bei dieser Reise auch ihnen bekannte Personen.
Neue Studien - wie zum Beispiel das Buch „Berichte
aus dem Jenseits" von Hubert Knoblauch (vgl. dazu
auch die Literaturangaben am Ende des Artikels) unterstreichen die immense Vielgestaltigkeit des
Phänomens und die unverkennbaren kulturellen
Einflüsse auf die jeweiligen Erlebnisinhalte. Es zeigt
sich: Physische Todesnähe stellt keine notwendige
Bedingung für derartige Erlebnisse dar. Vielmehr
treten diese auch im Zusammenhang mit Narkosen
sowie in neurowissenschaftlichen Experimenten
fern des Todes auf.
Anders als bei bloßen Sinnestäuschungen weicht
bei Nahtod-Erlebnissen - insbesondere beim Tunnel-Licht-Erlebnis - die Wahrnehmung des Betroffenen von der Wahrnehmung aller anderen anwesenden Personen ab. Aus medizinischer Sicht sind
Nahtod-Erlebnisse daher als komplexe Halluzinationen zu beurteilen. Halluzinationen sind innere
Reisen in der Welt unseres Bewußtseins: Weder
könnte der bei einem außerkörperlichen Erlebnis
oder bei einem Tunnel-Licht-Erlebnis subjektiv
wahrgenommene Bildeindruck fotografisch dokumentiert werden, noch wird man ernsthaft annehmen, man könne irgendwo im Weltall die wahrgenommenen Tunnel oder Lichter physisch real finden. Im Unterschied zu Träumen sind Halluzinationen durch ein starkes subjektives Realitätsgefühl
gekennzeichnet. Nicht selten wird eine Halluzination
sogar als „wirklicher" empfunden als alles andere
bis dahin Erlebte. Halluzinationen sind stets mit
persönlichen Gedächtnisinhalten verknüpft und
daher autobiographisch und kulturell geprägt.
Welche „Realität" haben Halluzinationen?
Bis heute weiß die Hirnforschung nicht, warum
materielle Vorgänge im Gehirn überhaupt mit geistig-seelischen Phänomenen, also bewußten, mentalen, subjektiven Zuständen, einhergehen. Aber
unbestritten ist, daß neurophysiologische Prozesse
eine notwendige Bedingung für bewußtes Erleben
darstellen und daß ihr Fehlen hinreichend ist für
einen Verlust einzelner Module des bewußten Erlebens (zum Beispiel Gedächtnisverlust bei Demenz)
oder des Bewußtseins insgesamt (etwa bei einer
Narkose). Das Zustandekommen einer Halluzination erklärt man sich dadurch, daß unter bestimmten Umständen im Gehirn genau diejenigen Prozesse auch ohne Reizung der äußeren Sinne ablaufen können, die normalerweise in Verbindung mit
einer Sinnesreizung das alltagsbewußte Realitätserleben bedingen.
Wenn man zum Beispiel die Hirnrinde eines Epilepsie-Patienten im Rahmen der prächirurgischen
Epilepsie-Diagnostik in einer bestimmten Region
elektrisch reizt, dann kribbelt es den Patienten nicht
im Gehirn, sondern in der Hand. Die eigentliche
Ursache für seine Empfindung liegt dabei jedoch
nicht wahrnehmbar und für das Gehirn ununterscheidbar im Gehirn selbst. Halluzinationen einschließlich des Nahtod-Erlebnisses treten im Übergang zwischen Wachbewußtsein und Bewußtlosigkeit auf (zum Beispiel bei Herzinfarkten oder Atemnot). Im Experiment können Nahtod-Erlebnisse
durch neuropharmakologische Medikamente - zum
Beispiel mit dem Narkosemittel Ketamin - gezielt
hervorgerufen werden. Selbstverständlich treten
Halluzinationen auch bei schweren psychischen
Störungen auf, aber die Befürchtung nicht weniger
Betroffener, ihr Nahtod-Erlebnis sei Ausdruck einer
Geisteskrankheit, ist völlig unbegründet.
Wie bei Träumen macht es wenig Sinn, ernsthaft
den physischen Realitätsgehalt von Nahtod-Erlebnis-Halluzinationen zu behaupten. Nicht nur würde
die Natur in eine sichtbare und eine im Alltag unsichtbare Wirklichkeit zerfallen. Vielmehr müßte
man dann konsequenterweise auch den Realitätsgehalt aller anderen Halluzinationen allein auf der
Basis des subjektiven Realitätserlebens einzelner
Personen anerkennen. Ronald D.Siegel hat zum
Beispiel die sogenannte Sukkubus-Halluzination
beim Erwachen genau beschrieben: Wie gelähmt
erlebt der Halberwachte das Herannahen des Sukkubus, einer dunklen mächtigen Schattengestalt,
die sich auf seine Brust setzt und ihm fast den Atem
raubt.
Offensichtlich schlummern im Bewußtsein Erlebnispotentiale, von denen der einfache Alltagsmensch
ohne Nahtod-, Meditations- oder Drogen-Erlebnisse
wohl nicht einmal etwas ahnt. Nicht selten haben es
die Protagonisten (und nicht selten auch Propagandisten) dieser Erlebnisse verstanden, den Eindruck
zu erwecken, es handle sich dabei um „höhere",
erstrebenswerte Bewußtseinszustände. Dies ist
jedoch nicht der Fall. Denn nur im wachen Alltagsbewußtsein sind wir in der Lage zu mitmenschlicher
Kommunikation und zur Organisation aller lebensnotwendigen Dinge. Halluzinatorischen Zuständen
fehlen dagegen wichtige Elemente (Module) des
wachbewußten Erlebens infolge eines Ausfalls der
diesen Modulen zugrundeliegenden Hirnfunktionen.
chen Auffassung als pures Sehendes (und eventuell Hörendes) vom Körper und vom Gehirn ablösen
und sich dann frei bewegen könne. Obwohl hierzu
immer wieder Experimente durchgeführt werden,
fehlen bisher überzeugende Belege für derartige
hirnunabhängige Wahrnehmungen. Ein solcher
Nachweis erfordert eine exakte zeitliche Zuordnung
der während des außerkörperlichen Erlebnisses
wahrgenommenen Ereignisse zu den zeitgleichen
Hirnfunktionsmessungen (etwa über ein EEG). In
dem viel diskutierten Fall der Amerikanerin Pam
Reynolds, die angeblich bei einer Operation reale
Erlebnisse während eines vorübergehenden Hirnfunktionsstillstandes (Hypothermie) hatte, gelingt
dieser entscheidende Nachweis nicht.
Was sagt uns das über das Paradies? Nichts!
Das außerkörperliche Erlebnis bietet keinen Trost in
Bezug auf den Tod. Denn was ist an der
Vorstellung tröstlich, daß wir als unsichtbare
Geister durch die Welt streifen, ohne sie noch am
eigenen Leibe spüren oder irgendwie auf sie
einwirken zu können? Wie könnten wir hoffen, daß
dieser Zustand irgendwann endet, wenn eine Seele
nicht sterben kann?
Das Gefühl des Schwebens und der absoluten
Ruhe zum Beispiel, das häufig bei Nahtod-Erlebnissen berichtet wird, dürfte sich dadurch erklären, daß
keine körpersinnlichen Signale aus Haut und Muskeln mehr im Gehirn ankommen und daß zum selben Zeitpunkt meistens eine komplette Lähmung
besteht: Für das Gehirn existiert der Körper somit
nicht mehr. Er kann nicht mehr als „mein Körper"
empfunden werden. Das „Ich" ist dann körperlos.
Dies ist wahrscheinlich auch die Ausgangsbasis für
ein außerkörperliches Erlebnis: Ohne körpersinnliche Signale kann die perspektivische Mitte des
visuellen Eindrucks nicht mehr im Körper beziehungsweise im Kopf verankert werden. Verbunden
mit dem Gefühl des Schwebens kommt es dann
erstaunlicherweise zu einem „Sehen" aus der Vogelperspektive. Die Wahrnehmungsinhalte sind
dabei durchaus real; aber in Bezug auf die ungewöhnliche Perspektive handelt es sich auch beim
außerkörperlichen Erlebnis um eine Halluzination.
Sie kann - wie Olaf Blanke gezeigt hat - durch Elektrostimulation der Hirnrinde im Bereich des rechten
Scheitellappens gezielt herbeigeführt werden.
Was sagen uns Nahtoderlebnisse über ein „Leben
nach dem Tode"? Wohl gar nichts, denn nur der
unwiederbringliche Verlust der Funktionen des
ganzen Gehirns ist als medizinisches Todeskriterium anerkannt. Personen, die Erlebnisse berichten
können, waren nie tot.
Wie „unsterblich" ist die Seele?
Manche Wissenschaftler, wie zum Beispiel Piet van
Lommel, behaupten, daß während eines außerkörperlichen Erlebnisses außersinnliche, ja außercerebrale Wahrnehmungen der physischen Realität
möglich seien. Angeblich erlangen Betroffene bei
diesen körperunabhängigen „Astralreisen" auch
Wissen über andere Räume in der Klinik, welche
sie nie zuvor betreten haben. Dies beweise, daß
sich die Seele entgegen der neurowissenschaftli-
Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß
Menschen während des Sterbens Hirnzustände
durchlaufen, die mit lichtvollen Halluzinationen einer
göttlich anmutenden Wirklichkeit ohne Erdenschwere und ohne Schmerz einhergehen - man
möchte es jedem von Herzen wünschen! Aber auch
negative, erschreckende Halluzinationen sind leider
möglich. Mit dem dann jedoch weiter voranschreitenden Verlust von Hirnfunktionen wird das Bewußtsein schließlich insgesamt verlöschen. Wie
beim allabendlichen Einschlafen gibt es danach im
eigentlichen Sinne kein „Danach" mehr: Ohne Erleben sind wir nirgendwo, und auch diese Abwesenheit werden wir nicht erleben.
Ganz offensichtlich speisen sich religiöse Mythen
und Bilderwelten aus spontan aufgetretenen, meditations- oder drogeninduzierten „Nahtoderlebnissen". Platon, der die Lehre einer unsterblichen
Seele vertrat, zitiert in „Der Staat" (X. Buch) die
Geschichte des pamphylischen Soldaten Er, der
nach mehreren Tagen des Scheintodes ebenfalls
ein eindrucksvolles Nahtoderlebnis zu berichten
wußte. Nüchtern betrachtet ist das Nahtoderlebnis
jedoch kein Blick ins Jenseits des Todes, sondern
eine Halluzination, also ein Blick ins Jenseits unseres Alltagsbewußtseins - aber innerhalb des Diesseits vitaler, ohne moderne Hilfsmittel gar nicht
beobachtbarer Hirnprozesse.
„Auferstehung" ist anders!
Christen, die diese naturwissenschaftlich gut begründete Sichtweise beunruhigend finden und dadurch die Grundfesten des Glaubens erschüttert
sehen, verwechseln möglicherweise die christliche
Hoffnung auf Auferstehung mit der platonischen
Idee einer aus sich heraus unsterblichen Seele. In
einem gewissen Sinne ist der christliche Glaube
Vollendung und darin Kritik und Überwindung aller
Religion, denn er hat mit religiös-symbolischen oder
magischen Praktiken der Überwindung einer vermeintlichen Trennung zwischen einer hypothetischen göttlichen und einer bloß irdischen Wirklichkeit nichts zu schaffen. Das ewige Leben bei Gott,
auf das Christen hoffen, ist nicht einfach eine endlose Fortsetzung der irdischen Existenz und schon
gar nicht das Weiterleben einer ihres Körpers beraubten Seele. Denn das ewige Leben hat nicht nur
kein Ende, sondern es hat auch keinen Anfang in
der Zeit, es beginnt also nicht im Tod. Der Mensch
zerfällt im christlichen Menschenbild nicht in zwei
Teile, einen irdischen Körper und eine göttliche
Seele, sondern er ist als ganzer Mensch zu einer
noch größeren Ganzheit gerufen, nämlich Kind
Gottes und Erbe Christi zu sein.
Der Gott der Christen gibt sich keinesfalls nur in
seltenen Bewußtseinszuständen oder gar erst nach
dem Tode zu erkennen. Vielmehr ist er näher als
nah, er ist das Offenbare schlechthin, er ist das
innerste Wesen der Wirklichkeit, auch meiner Wirklichkeit, er ist die Gegenwart dieses Augenblicks, er
ist genau dies hier jetzt. Der Auferstehungsglaube
bezeugt, daß der Gekreuzigte, der die unmittelbare
Gegenwart Gottes gepredigt und für diese befreiende Botschaft sein Leben gegeben hat, in der
lebendigen Gegenwart Gottes bleibend gegenwärtig
ist. Im Glauben an ihn erschließt sich nicht neues
weltbildliches Wissen, sondern der Mensch öffnet
sich der absoluten Wahrheit der lebendigen und
vergöttlichenden Gegenwart Gottes, die allen Weltbildern vorgängig ist. In ihr, so hofft der Glaubende,
wird sich einmal sein sterbliches Leben vollenden.
Literatur:
Olaf Blanke u.a., „Stimulating illusory own-body
perceptions". In „Nature" (2002), Heft 419, S.26970.
„Mythos Nahtod" Themenschwerpunkt in „Gehirn &
Geist" (2003), Heft 3.
„Journal of Near-Death-Studies" (seit 1983). Herausgegeben durch „The International Association
for Near-Death-Studies IANDS", (siehe auch:
www.iands.org).
Hubert Knoblauch, „Berichte aus dem Jenseits:
Mythos und Realität der Nahtoderfahrung", Herder
Verlag, Freiburg 2002.
Piet van Lommel u.a., „Near-death experience in
survivors of cardiac arrest: a prospective study in
the Netherlands". In: „The Lancet" (2001), Heft 358,
S.2039-2044.
Ronald D.Siegel, „Halluzinationen: Expedition in
eine andere Wirklichkeit", Rowohlt Verlag, Reinbek
1998.
Gerald M.Woerlee, „Mortal Minds: a biology of the
soul and the dying experience". De Tijdstroom Verlag, Utrecht (siehe auch: www.mortalminds.org).
Christian Hoppe, geb. 1967, Dr. rer. nat., Neuropsychologe und Diplom-Theologe; Promotion im
Fach Neuropsychologie an der Universität Bielefeld;
seit 1998 an der Universitätsklinik für Epileptologie
in Bonn; Vortragstätigkeit im Grenzbereich Hirnforschung / Theologie.
CiG 47/2005
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