KULTUR 24 DIENSTAG, 15. NOVEMBER 2016 KULTURTIPP Neue CD mit Werk von Dvorak E s ist schon erstaunlich, mit welchem Erfolg sich Dirigent Marcus Bosch mit verschiedenen Orchestern unterhalb der absoluten Spitzenklasse das symphonische Kernrepertoire auf dem reichlich gesättigten CD-Markt erarbeitet. Ob Bruckner und Brahms mit dem Aachener Sinfonieorchester, Schumann mit seinem Heidenheimer Festivalorchester, „Cappella Aquileia“ oder Dvorak mit seinem derzeitigen Stammorchester, der Staatsphilharmonie Nürnberg. Nun liegt sogar ein Live-Mitschnitt der Nürnberger von Dvoraks populärstem Highlight vor, der Symphonie „Aus der Neuen Welt“. Hervorzuheben ist hier wiederum der hohe Qualitätsstandard des Orchesters, auch wenn sich an etlichen Details Unterschiede zu Top-Orchestern nicht überhören lassen. Nun pflegt Bosch auch eine Werksicht, in der es ihm weniger auf rundes klangliches Volumen oder ästhetische Glätte ankommt, sondern auf eine entfettete Darstellung mit zügigen Tempi und vorwärtsdrängender Energie. Das führt zu spannenden Ergebnissen, auch wenn man auf eine Prise böhmischen Charmes verzichten muss. Da geraten die Cello-Kantilenen im Finale etwas kurzatmig, und die dynamischen Höhepunkte entwickeln eine gewöhnungsbedürftige Schärfe. Eine Einspielung, die der derzeitigen Neubewertung romantischer Musik entspricht. Insofern eine interessante Bereicherung des CD-Angebots, auch wenn man auf emotional wärmere Referenzaufnahmen im Umfeld von Rafael Kubelik nicht pedr verzichten möchte. Marcus Bosch: Antonin Dvorak, Symphonie Nr. 9; 1 CD Coviello PERSÖNLICH Leon Russell (Bild), USMusiker, ist tot. Russell, der als Studio- und Tourmusiker und auch als Solokünstler erfolgreich war, wurde 74 Jahre alt. Im Juli hatte er sich einer BypassOperation am Herzen unterzogen. Als führendes Mitglied der Studiomusiker-Gruppe Wrecking Crew arbeitet er mit Stars wie den Rolling Stones, George Harrison, Frank Sinatra, Bob Dylan, Eric Clapton und den Beach Boys zusammen. Ab Ende der 60er-Jahre war Russell auch als Song-Schreiber Foto: dpa aktiv. Monika Grütters (CDU), Kulturstaatsministerin, hat dem Liedermacher und früheren DDR-Dissidenten Wolf Biermann zu seinem heutigen 80. Geburtstag gratuliert. Selten spiegele sich in einer Biografie so viel Zeitgeschichte wie in Biermanns bewegtem Leben, erklärte Grütters. „Man muss Ihre Positionen nicht alle teilen, um sagen zu können, dass Sie zu den wichtigsten Künstlern und Intellektuellen in Deutschland gehören, die mit klaren und bisweilen scharfen Worten zu einem lebendigen Diskurs beitragen.“ Verführerisch: Teodor Currentzis und das Orchester Musicaeterna haben einen fabelhaften „Don Giovanni“ aufgenommen. Foto: Anton Zavjyalov Der unerbittliche Verführer Einfach fabelhaft: Teodor Currentzis und Musicaeterna bringen Mozarts „Don Giovanni“ zum Sprechen Teodor Currentzis hat die Gesamteinspielung des „Don Giovanni“ vorgelegt. Er krönt damit seinen Zyklus mit den Mozart/DaPonte-Opern. Von Ralf Döring OSNABRÜCK. Der Tod ist allgegenwärtig. Akkorde mit dramatisch überhängenden Grundtönen im Bass treffen einen mit der Wucht von Glockenschlägen aus dem Jenseits. Fahle Töne sinken leise wie ein Todesengel nach unten, dann drängt und stürmt es nach vorne: voller Lust und Komik, aber dem Tod entgegen. Live fast, love hard, die young. Anderthalb Jahre länger als geplant hat sich Teodor Currentzis Zeit gelassen, seine Trilogie mit den Opern von Wolfgang Amadeus Mo- zart und Lorenzo Da Ponte abzuschließen. Denn Currentzis hat eine fast fertige Einspielung verworfen und die gesamte Oper Ende 2015 noch einmal neu aufgenommen. Das zeigt, wie sehr das Label Sony Classical den Dirigentenstar hätschelt. Andererseits wird darin der Anspruch deutlich, den der griechische Dirigent im russischen Perm an sich und sein Ensemble stellt. Was dieses Team entfacht, erlebte das Konzerthaus Dortmund vor einem Jahr bei der zyklischen Aufführung der Mozart/DaPonte-Trilogie: Abend für Abend erreichten das Orchester Musicaeterna, das Solistenensemble und Currentzis ein höheres Level an Perfektion und Intensität, auch wenn das spätestens nach der „Così“ nicht vorstellbar gewesen ist. Nun also liegt das Album vor, so auf- Musikverlagen drohen Millionenverluste dpa BERLIN. Musikverlagen in Deutschland drohen Einnahmeverluste in Millionenhöhe. Nach einem Urteil des Berliner Kammergerichts haben die Verlage kein Recht, ohne Weiteres an den Einnahmen aus Urheberrechten von Komponisten und Textern beteiligt zu werden. Im Streit mit der Gema gab das Gericht am Montag dem ehemaligen Piratenpolitiker und Musiker Bruno Gert Kramm und seinem Bandkollegen Stefan Ackermann überwiegend recht. Die Verwertungsgesellschaft dürfe im vorliegenden Fall nicht mehr einen Teil der Tantiemen an die Verlage ausschütten, sagte eine Gerichtssprecherin. Das Urteil erfolgte in letzter Instanz. Ob ein Revisionsantrag vor dem Bundesgerichtshof (BGH) zulässig ist, soll aus der schriftlichen Urteilsbegründung hervorgehen. Wie viel Geld die Gema rückwirkend bis zum Jahr 2010 an die Kreativen zurückzahlen muss, ist offen. Zunächst müsse sie Auskunft über ihre Einkünfte vorlegen. Laut Piraten handelt es sich um einen Millionenbetrag. Mit dem Urteil werde für die Musikbranche das BGHUrteil zur Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) vom April fortgeschrieben, sagte die Gerichtssprecherin weiter. Die Musikverlage erhalten laut Piraten bisher etwa 40 Prozent der Gema-Einnahmen. Die Kläger hatten argumentiert, eine pauschale Vergütung für die Verlage sei im digitalen Zeitalter obsolet. Die Gema sei nicht berechtigt, von den Ausschüttungen an die Kreativen die Verlegeranteile abzuziehen. Die Rolle der Verlage habe sich grundlegend verändert, viele druckten heute weder Noten noch Texte. Was ursprünglich als Investitionsschutz gedacht gewesen sei, habe sich zu einem Relikt aus alten Zeiten entwickelt. Den Urhebern gingen dabei wesentliche Erlöse verloren. Die Gema wollte sich auf Anfrage erst zu der Gerichtsentscheidung äußern, wenn das schriftliche Urteil vorliegt. Die Piratenpartei, die die Klage unterstützt hatte, erklärte, das Urteil habe wesentliche Konsequenzen für die Zukunft und die Struktur der Gema in Fragen der Transparenz und der fairen Verteilung. Der BGH hatte im einem ähnlichen Fall entschieden, dass die Einnahmen der VG Wort ausschließlich den Autoren zustehen. Für eine Ausschüttung an die Buchverlage gebe es keine rechtliche Grundlage. Die Gema nimmt Geld für die öffentliche Nutzung von Musik ein. Abgaben werden auch pauschal auf Wiedergabegeräte über den Kaufpreis erhoben. wendig gestaltet wie die beiden Vorgänger, aber schwarz wie die Seele des Verführers. Zu Hören ist dabei das Ensemble, das in Dortmund für Furore gesorgt hat. Nun orientiert sich Currentzis klanglich an der historischen Aufführungspraxis, verwendet historische Instrumente und eine gewissermaßen sprechende Artikulation. Dazu passen die schlanken Stimmen seines Ensembles, etwa die von Vito Priante als Leporello – der Diener des Titelhelden singt zum Dahinschmelzen verführerisch und elegant. Beim Don Giovanni von Dimitris Tiliakos vibriert einerseits, mit Zerlina in „Là ci darem“, die Luft vor feinsinniger Erotik. Wenn er Leporello gefügig machen muss, nimmt seine Stimme aber auch mal einen hässlich-metallischen Klang an. Tenor Kenneth Tarver hingegen ist ein lyrischer Don Ottavio und Guido Loconsolo ein kraftstrotzender Masetto. Und der Komtur des Mika Kares führt in erhabener Klarheit vor, dass man Don Giovanni nicht mit Wagner’ scher Wucht in die Hölle holen muss. Fast noch exquisiter klingen die Frauen: Myrtò Papatanasius Donna Anna hat leuchtende Spitzentöne und geschmeidige Koloraturen, Karina Gauvin verleiht der Donna Elvira durch einen Anteil an Mezzo-Farben die Sinnlichkeit der erfahrenen Frau – die sich trotzdem vergeblich an Don Giovanni abarbeitet. Und Christina Gansch verkörpert die Zerlina in jugendlicher Listigkeit. Zum Ereignis aber wird die Aufnahme, weil bei Musicaeterna die Musik spricht. Das beginnt mit dem Hammerklavier (Benoît Hartoin und Maxim Emelyanychev): Es unterlegt nicht einfach die Rezitative mit einem harmonischen Gerüst, sondern übernimmt die Rolle des allwissenden Erzählers. Es verbindet die Nummern, greift kommentierend ins orchestrale Geschehen ein, antizipiert Emotionen, lässt sie nachschwingen. Den Hauptstrang des „Dramma giocoso“ – so haben Mozart und Da Ponte ihr Gemeinschaftswerk genannt – aber erzählt dieses fabelhafte Orchester, das Currentzis in Perm, fernab der Metropolen für historische Aufführungspraxis, um sich geschart hat. Da liegen Klänge fein wie Seide unter Ottavios „Dalla sua pace“; Liebe, Hass, Verzweiflung kehrt die Musik nach außen, es betont die Komödie und erzählt von den letzten Dingen: Von Liebe und vom Tod. Dafür ist Cur- rentzis jedes Mittel recht; wenn erforderlich, setzt er auch eine E-Gitarre ein, hat er einmal gesagt. Das klingt exzentrisch, und vermutlich ist das Currentzis auch. Aber in der Suche nach dem richtigen Klang, dem richtigen Ausdruck ist er unerbittlich. Und erfolgreich: Sein „Don Giovanni“ spricht, behält aber seine geheimnisvolle Aura. Genau das macht ihn so verführerisch. Wolfgang Amadeus Mozart: „Don Giovanni“. Teodor Currentzis, Musicaeterna. 3 CDs, ersch. bei Sony Classical. ·· ·· ·· ·· ·· ·· ·· ·· ·· · Mehr aus der Welt der klassischen Musik lesen Sie im Internet auf noz.de/kultur Experten erforschen Internet-Sprachstil Facebook, Twitter und Co.: Verroht die Sprache durch soziale Netzwerke? MANNHEIM. Durch Facebook, Twitter und Co. verändert sich Sprache – doch nicht unbedingt zum Schlechteren. Davon sind Sprachforscher überzeugt. „Die meisten Nutzer im Internet wollen durch innovative sprachliche Strategien beeindrucken“, sagt die Mannheimer Sprachwissenschaftlerin Eva Gredel. „Die Sprache verroht dadurch nicht wirklich, sie differenziert sich nur mehr aus: Es geht darum, den Stil für seine Community zu finden“, erläuterte die Sprecherin des Wissenschaftsnetzwerks „Diskurse digital“ vor einer Konferenz zum Thema am Dienstag und Mittwoch in Mannheim. Sprachforscher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Netzwerks diskutie- dpa ren dabei, wie Twitter-Hashtags wie „#RegrettingMotherhood“ die Diskussion über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beeinflussen und wie Wortneubildungen wie „Flüchtlingsflut“ oder „Asylantenstrom“ zur Hass-Sprache avancierten. „Sprache verfällt nicht“, betonte Wissenschaftlerin Gredel am Beispiel des teils sehr speziellen Slangs mancher Wikipedia-Autoren. Die ziehen schon mal über „Newstickeritis“, „Zitieritis“ oder „Abkürzeritis“ her, um Beiträge zu diskreditieren, die ihnen nicht adäquat erscheinen. „Jeder Sprecher hat einen unterschiedlichen Stil.“ Wer als „Troll“ bezeichnet wird, kann jedoch sicher sein, dass es kein Kompliment ist. Eltern, die sich über die teils schmale Die Nutzer sozialer Netzwerke haben häufig ihre eigene Foto: dpa Sprache. sprachliche Kost ihres Nachwuchses etwa via Whatsapp aufregen, kann die Wissenschaftlerin beruhigen: „Wenn Schüler mehrere Stile beherrschen, ist das doch nicht schlecht.“ Der Notendruck in der Schule sorgt aus ihrer Sicht schon dafür, dass Kinder und Jugendliche auch die regelkonforme Sprache beherrschen. Dass Donald Trump es mit „Vulgärsprache“ auch im In- ternet ins US-Präsidentenamt geschafft hat, heißt für Gredel nur: „Einzelne Akteure werden aggressiver.“ Ganz schlimm findet sie Metaphern wie „Flüchtlingsflut“, die Menschen in Not als Naturkatastrophe darstellen. In welchen Netzwerken so etwas am meisten vorkommt, ist noch Gegenstand der Forschung. „Digitale Plattformen wie Wikipedia und Facebook sind ein sozialer Raum, an dem gesellschaftliche Entwicklungen sprachlich beobachtbar werden oder Diskurse überhaupt erst entstehen“, sagte Gredel. An dem Wissenschaftsnetzwerk sind neben der Universität Mannheim und dem Institut für Deutsche Sprache derzeit acht weitere Universitäten beteiligt. KOMMENTAR Sprache als Waffe im Netz W er nur von Textflut spricht, hat das Internet nicht verstanden. Das Netz ist keine Abraumhalde der Texte und Bilder, es funktioniert wie ein Generator, der das gesellschaftliche Gespräch formiert. Wissenschaftler sprechen von Diskursen, wenn sie solche Formationen meinen, die Themen setzen. Von Stefan Lüddemann Während Sprachwissenschaftler auf Konferenzen die Idiome des Netzes analysieren, machen manche Nutzer in den sozialen Netzwerken Ernst. Das Internet ist nicht einfach ein Marktplatz für den ungestörten Austausch, es ist vor allem eine Arena, in der um Einfluss und Macht gestritten wird. Das Spektrum reicht von der feministischen Kampagne #aufschrei bis zur Hetze vom rechten Rand. Im Internet wird Sprache bisweilen wie eine Waffe eingesetzt. Das verdient die aufmerksame Analyse. Wissenschaftliche Resultate gehören nicht nur auf Tagungen, sie sollten auch die alltägliche Sprachpraxis im Netz verbessern helfen und vor allem die Nutzer souveräner im Umgang mit dem Internet machen. [email protected]