4.10 Dysexekutives Syndrom 4.10 Dysexekutives Syndrom In unserem Alltag führen wir viele Handlungen aus, ohne unsere Aufmerksamkeit bewusst darauf zu lenken. Die zu erfüllende Aufgabe bestimmt unser Handeln überwiegend automatisch. Erst wenn etwas Ungewohntes auftritt oder wir etwas mit Vorsatz durchführen möchten, konzentrieren wir uns auf die Handlung. Wir überlegen welchen Schritt wir als nächstes durchführen möchten und kontrollieren die Ausführung. Dieser Mechanismus wird in der Neuropsychologie als zentrale Kontrolle bezeichnet. Vor allem Patienten, die eine Läsion des Frontallappens erlitten haben zeigen Symptome des dysexekutiven Syndroms. Sie treten aber auch bei diffusen und bei tiefen Hirnschädigungen auf. Das dysexekutive Syndrom vereint widersprüchliche Symptome wie z. B. vorschnelles Handeln und Rigidität, Rücksichtslosigkeit und Leichtgläubigkeit, Antriebslosigkeit und perseverativ (ständiges Wiederholen [Anm. der Autoren]) hartnäckiges Verfolgen einzelner Ziele oder Plazidität und unkontrollierte Wutausbrüche (Goldenberg, G. 2007). Unter Plazidität versteht man eine Antriebsstörung, die vom Patienten selbst als „innere Ruhe“ erlebt wird. Fällt unsere zentrale Kontrolle aus, wird unsere Selbstkontrolle kognitiver Leistungen und des Verhaltens behindert. Ebenso fällt uns das Problemlösen in neuen oder unerwarteten Situationen schwer. Auch das selbstständige Planen und Durchführen von langfristigen Zielen ist von unserer Funktionsfähigkeit der zentralen Kontrolle abhängig. Eine fest gelegte Tagesstruktur erfordert weniger Ansprüche an die zentrale Kontrolle und schafft Sicherheit. Je mehr und je höhere Anforderungen gestellt werden, desto mehr sorgt unsere Fähigkeit der zentralen Kontrolle dafür, dass wir Prioritäten setzen können. Wir wägen unterschiedliche Lösungswege ab, können Entscheidungen treffen und kennen auch die Folgen des sozialen Miteinanders. Patienten mit einem dysexekutiven Syndrom fällt es schwer, zwei Dinge gleichzeitig zu bewältigen (s. Aufmerksamkeit und Konzentration (S. 57)). Sie unterbrechen z. B. immer wieder die Körperpflege, stehen auf, nehmen sich eine Zeitung, beginnen ein Gespräch usw. Handlungen werden begonnen aber nicht zu Ende durchgeführt. Für Ablenkung sind aber nicht nur äußere Störfaktoren verantwortlich sondern auch die eigenen Gedanken. Vergisst ein Patient, dass er auf dem Herd Essen kocht und verlässt nun das Haus, ist die Gefahr eines Brandes gegeben. Diese Konsequenzen und Zusammenhänge können von Patienten mit einem dysexekutiven Syndrom nicht erfasst werden. Zur Abwehr einer Gefahr gehört als erster Schritt das Erkennen eines möglichen Problems. Dies ist die Voraussetzung für eine adäquate Handlung: z. B. das Ausschalten des Ofens oder Verlassen des Hauses erst nach dem Kochen. Viele Betroffene zeigen ein deutlich haftendes Verhalten. Sie halten z. B. pedantisch an einer durch sie festgelegten Anordnung von Gegenständen auf ihrem Nachtschrank fest und ertragen keine Abweichung. Andere Patienten lassen Dinge überall liegen. Ein weiteres Symptom kann sein, dass Patienten nicht dazu in der Lage sind, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Ihnen fehlt die gedankliche Flexibilität. Zusätzliche Problemlösungsstörungen und Entscheidungsschwächen erschweren es auch Angehörigen und Freunden den Betroffe- 4 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die Konzentration von Patienten mit einer Aphasie auf einer Station oder in einem Wohnbereich schafft fördernde Voraussetzungen. Intensive, gezielte Schulungen des gesamten pflegerischen, therapeutischen und ärztlichen Teams ermöglichen ein fundiertes Basiswissen und lehren Umgangsmöglichkeiten. Eine differenziertere Hilfestellung ist möglich. Geduld und Ruhe sind wesentliche Eigenschaften, die für jeden im Umgang mit Aphasikern hilfreich sind. Hektik und Unruhe erschweren und verlangsamen die Kommunikation zwischen dem Betroffenen und anderen. Angehörige können durch einen ruhigen Umgang und vertraute Verhaltensweisen meist schnell eine korrekte Interpretation von individuellen Gesten herausfinden. Aus ähnlichen Gründen ist die Durchführung der Bezugspflege notwendig. Sind mehrere Patienten auf einer Station oder in einem Wohnbereich von einer aphasischen Störung betroffen, so ist eine Zentrierung sinnvoll. Eine ruhige Atmosphäre kann geschaffen werden, die zur Förderung aller beiträgt. Die Betroffenen zeigen viel Verständnis und Geduld füreinander und ihre Angehörigen finden Zeit zum wertvollen Erfahrungsaustausch. Trotz aller Stille wird viel gelacht und durch gezielt eingesetzte Musik, kann ein weiteres Kommunikationsmedium geschaffen werden. 85 nen immer wieder zu neuen Aktivitäten einzuladen oder mitzunehmen. Sie verlieren die Lust daran immer wieder (oft erfolglos) zu motivieren und zu überreden. In der Folge kommt es nicht selten zu einer sozialen Vereinsamung und Verwahrlosung. Die Symptome verstärken sich, wenn zu der Unfähigkeit, Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zu erkennen und zu durchdenken, noch eine Antriebsstörung hinzukommt. Die Betroffenen werden untätig oder verlieren sich in zufälligen Beschäftigungen. Eine Beziehung zu erhalten wird für Außenstehende immer herausfordernder bzw. anstrengender. Zusätzlich zeigen Betroffene oft Störungen des sozialen Verhaltens. Während unserer Erziehung haben wir alle sozialen Regeln erlernt. Diese machen Gemeinschaft möglich und wird durch die zentrale Kontrolle erhalten. Im Klinikalltag kommt es vor, dass Betroffene ohne anzuklopfen in fremde Zimmer gehen. Sie unterbrechen Besprechungen, nehmen keine Rücksicht auf Andere. Sie sagen ungefragt laut ihre Meinung und beschimpfen Mitmenschen. Den Patienten fällt es schwer Mitgefühl/Empathie zu zeigen. Sie zeigen sich rücksichtslos und werden als „asozial“ erlebt. Unkontrollierte Wutausbrüche oder bei noch schwerer betroffenen Patienten handgreifliches Vorgehen gegen Mitmenschen sind mögliche Folgen einer gestörten Impulskontrolle und sozialen Kontrolle. 4.10.1 Pflegetherapeutische Maßnahmen Im Alltag bieten feste, immer wiederkehrende Tagesstrukturen und die Umsetzung der Bezugspflege allen Beteiligten Sicherheit. In manchen Fällen ist die Unterbringung auf einer geschlossenen Neuropsychiatrischen Station erforderlich. Das Wissen über Auswirkungen des Dysexekutiven Syndroms ist für Pflegende, Therapeuten, Ärzte und Angehörige notwendig und der Austausch im Interdisziplinären Team unabdingbar. Merke Betroffene zeigen diese Verhaltensweisen nicht absichtlich oder mit Berechnung. 86 Verlieren sich Patienten in ihren Handlungen werden sie freundlich in die nachfolgende Situation geführt. Dies kann verbal oder je nach Beziehungsebene taktil erfolgen. Reize von Außen werden minimiert, um den Fokus auf eine gezielte Aktivität zu lenken. Schlagen und Treten sind oft Ausdruck einer eingeschränkten Wahrnehmung (Was passiert gerade mit mir? Was wollen die von mir? Hilfe, es passiert gerade etwas mit mir, was ich nicht kontrollieren kann!). Es ist meist sinnvoll, dass nur eine Person in Kontakt mit dem Betroffenen tritt. Dies vermeidet den Eindruck eines „Überfalls“. Zeigt ein Patient ein aggressives Verhalten und kann nicht abgelenkt oder beruhigt werden, verlässt die Pflegende die Situation. Ein späterer Zeitpunkt oder eine andere Person schafft wieder neue Voraussetzungen. Zwang hilft keinem der Beteiligten weiter. Wichtig dabei ist, dass Pflegende das mitunter „rücksichtslose“ Verhalten von Betroffenen nicht werten im Sinne von: „Der war schon immer so“, „Der war schon immer asozial“ oder „Der ist unmotiviert“. Auch Beschimpfungen seitens der Patienten gegenüber Pflegenden sollten nicht persönlich genommen werden. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Neuropsychologische Störungen