Transdisziplinäre Forschung in Reallaboren

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Transdisziplinäre Forschung in Reallaboren
Ein Plädoyer für Einheit in der Vielfalt
Reaktion auf T. Jahn, F. Keil in GAIA 25/4 (2016):
Reallabore im Kontext transdisziplinärer Forschung
Transdisciplinary Research in Real-world Laboratories.
A Plea for Unity in Diversity | GAIA 26/1 (2017): 9 –12
Martina Ukowitz
Keywords: methodology, real-world laboratories, sustainability research, transdisciplinarity
er Beitrag Reallabore im Kontext transdisziplinärer Forschung
von Thomas Jahn und Florian Keil (2016) baut sich aus zwei
Argumentationslinien auf. Einerseits wird eine kritisch-skeptische Argumentation deutlich, die den Begriff und die Konzeption des Reallabors zur Diskussion stellt und eine Reihe offener
Fragen aufwirft. Daneben umfasst der Beitrag eine konstruktive Linie, die Überlegungen zu Anknüpfungspunkten zwischen
Reallabor- und transdisziplinärer Forschung sucht und – den
Ausführungen eine sozialdynamische Botschaft unterstellend –
die „Heimholung“ und Integration des Reallabors in bestehende Konzeptionen transdisziplinärer Forschung verfolgt. Die beiden Linien erscheinen zunächst widersprüchlich, bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass darin wichtige Fragen zur Weiterentwicklung der heterogenen Landschaft partizipativer, praxis- und
problemlösungsorientierter Forschung, für die hier der Begriff
transdisziplinäre Forschung verwendet sei, eingelagert sind.
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Die Positionierung transdisziplinärer Forschung
Diskussionen rund um den Neuigkeitswert von wissenschaftlichen Verfahren oder Diskursbeiträgen erinnern an die von Robert Merton beschriebenen Prioritätsstreitigkeiten in der Wissenschaft. Diese Streitigkeiten gehen damit einher, Ansprüche anzumelden und Territorien abzustecken – nicht zuletzt aufgrund
der in der Wissenschaft herrschenden institutionellen Normen,
die das Konkurrenzprinzip befördern (Merton 1985, S. 258 f.). Es
stellt sich dabei die Frage, ob das Neue wirklich neu ist und wer
es sich auf die Fahnen heften kann, das Neue eingebracht zu
1 Die von Merton geschilderten Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte,
mitunter verbitterte Kontroversen bedeutender und weniger bedeutender
Wissenschaftler(innen), sind zahlreich und amüsieren aus der zeitlichen
Distanz betrachtet. Galilei wird beispielsweise als versierter Verteidiger
seiner Verdienste und Prioritätenrechte skizziert, es ist von Verleumdungen
und Betrügereien, Unbolden, hinterhältigem Vorgehen einzelner Kollegen
und geraubtem Ruhm die Rede (Merton 1985, S. 259).
https://doi.org/10.14512/gaia.26.1.4
haben.1 Prioritätsstreitigkeiten sind bei Merton stark individualistisch gedacht.
Wenn man Ludwik Flecks (1980) Perspektive hinzuzieht, verschiebt sich der Fokus auf das Individuum und Forschungsgruppen rücken in das Blickfeld. Denkkollektive entwickeln wissenschaftliche Verfahren, generieren Erkenntnis und treiben
nicht zuletzt auch über die Positionierung von Begriffen die Bildung von Denkschulen voran. Sicherlich sind es im Diskurs in
der transdisziplinären Forschung nur Nebenbemerkungen; wenn
aber in Artikeln die Frage aufgeworfen wird, ob nicht etwas „lediglich in neuem Gewand wieder auf die Bühne“ gebracht werde
(Jahn und Keil 2016, S. 247), ob nicht ohnehin schon alles hinlänglich bearbeitet sei (Pohl 2014 im Zusammenhang mit Überlegungen zu einer Theorie transdisziplinärer Forschung), drängt
es sich auf, eine Parallele zu den von Merton und Fleck beschriebenen Dynamiken herzustellen.
Die Skepsis der Autoren Jahn und Keil führt auf eine weitere
Spur. Im wissenschaftspolitischen wie im wissenschaftlichen Diskurs findet sich aktuell eine Vielfalt an Begriffen, die partizipative Forschungsansätze in einen methodischen oder konzeptionell-theoretischen Rahmen stellen und die Beziehung zwischen
Wissenschaft und Gesellschaft skizzieren und mögliche Rollen
und Aufgaben der Forschung benennen.
Die Halbwertszeiten von Begriffen wie responsible research and
innovation, responsible science, third mission und andere sind kurz
(vergleiche Schneidewind und Singer-Brodowski 2014). Den State
of the Art zu halten, führt zu einer gewissen Atemlosigkeit der
Wissenschaftler(innen). Positiv wenden lässt sich diese Beobachtung im Zusammenhang mit der Etablierung und Positionierung
Kontakt: Assoc. Prof. Mag. Dr. Martina Ukowitz | Alpen-Adria-Universität
Klagenfurt | IFF – Institut für Palliative Care und Organisationsethik |
Sterneckstr. 15 | 9020 Klagenfurt | Österreich |
Tel.: +43 463 27006128 | E-Mail: [email protected]
©2017 M.Ukowitz; licensee oekom verlag.This is an Open Access article distributed under the terms of
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der transdisziplinären Forschung in ihren unterschiedlichen Spielarten. Die Zeiten für transdisziplinäre Forschung scheinen günstig zu sein, besonders hinsichtlich ihrer Anerkennung außerhalb
der Universitäten. In Deutschland gibt es eine Reihe von Förderprogrammen 2, in Österreich zeigt sich die Wissenschaftspolitik
interessiert, wenn auch die konkrete Übersetzung in Förderprogramme und eine institutionelle Stärkung, etwa in der stärkeren
Berücksichtigung transdisziplinärer Forschungsleistungen in der
Wissensbilanz, derzeit noch auf sich warten lassen.
Am Beispiel des Reallabors wird deutlich, dass politischer Wille, der sich auch in Form finanzieller Ressourcen manifestiert,
einem Begriff Aufwind geben kann und Wissenschaftspolitik gewissermaßen in den wissenschaftlichen Diskurs interveniert.
Schlagworte, die die Politik und die gesellschaftlichen Akteursgruppen ansprechen, können der transdisziplinären Forschung
einen guten Dienst tun. Wie Jahn und Keil zu Recht bemerken,
muss aber innerhalb der Wissenschaft diskutiert werden, wie es
beispielweise mit dem eigenen Selbstverständnis zu vereinbaren
ist, dass zentrale naturwissenschaftliche Konzeptionen als Metaphern gewählt werden. Auch wenn das (soziale) Labor als For-
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Perspektiven- und Wissensintegration erfolgen. Der Ansatz des
Reallabors, dessen detailliertere methodologische und theoretische Konzeption noch aussteht (Grunwald 2016, S. 204f.), akzentuiert eine andere Ebene. Er untersucht, wie transdisziplinäre Forschung Anknüpfung an die gesellschaftlichen Akteure herstellt
und bietet dafür ein setting an, das einen Rahmen für transdisziplinäre Prozesse bietet. Insofern könnten Reallabore eine Antwort
auf das Defizit abstrakt-prozessualer Modelle sein. Denn denen
wird oft vorgehalten, dass sie keine Aussage treffen, wie sich die
Forschung im gesellschaftlichen Kontext einrichtet. Reallabore
sind „Orte“ und „soziale Kontexte in der gesellschaftlichen Realität“ (MWK 2013, Wagner und Grunwald 2015), wobei ein Bezug
der gesellschaftlichen Akteure zueinander (in einer Stadt, einer
Region, einer Organisation, einer Branche), vorzugsweise ein
räumlicher Bezug 4, vorausgesetzt wird.
Anders ist dies beispielsweise in der Interventionsforschung,
wo die für transdisziplinäre Prozesse relevanten sozialen Konstellationen und nicht die räumliche Dimension im Mittelpunkt
stehen (Ukowitz 2012). Relevanter ist hier die Gestaltung eines
sozialen Prozesses, der das Ziel hat, einen tragfähigen „Sozial-
Eine Ausdifferenzierung der ohnehin heterogenen Landschaft transdiszplinärer
Forschung wäre problematisch – für ihre Weiterentwicklung wie für ihre institutionelle
Verankerung in Wissenschaft und Gesellschaft.
schungs- und Lernsetting durchaus auch in anderen sozialwissenschaftlichen Bereichen wie etwa der Gruppendynamik 3 genutzt
wird, können Begriffe wie Labor oder Experiment als Signale für
starke Orientierung an einem naturwissenschaftlichen Paradigma verstanden werden. In der transdisziplinären Forschung geht
es aber um ein produktives Miteinander der wissenschaftlichen
Sphären – in dieser Hinsicht könnten Konzeptionen im Vorteil
sein, die Vorschläge machen, wie unterschiedliche Paradigmen
integriert werden können.
Bedarf an neuen Konzeptionen
transdisziplinärer Forschung
Wenn neue Forschungsansätze eingeführt und Begriffe geprägt
werden, stellt sich die Frage, auf welches möglicherweise bestehende Defizit die Konzeptionen eine Antwort suchen, welcher
Bedarf an Spezifizierung sich in ihnen ausdrücken könnte. So
auch im Fall von Reallaboren. Ein skizzenhafter Vergleich ausgewählter Modelle oder Konzepte mit Charakteristiken des Reallabors ergibt folgendes Bild: Modelle transdisziplinärer Forschung
wie etwa jenes von Bergmann et al. (2010) oder Pohl und HirschHadorn (2006) adressieren die abstrakt-prozessuale Ebene. Sie geben Auskunft darüber, wie transdisziplinäre (Forschungs-)Prozesse idealtypisch ablaufen und wie inter- und transdisziplinäre
körper“ der Forschung zu formieren, ein temporär eingerichtetes soziales und funktionales System als zukünftigen Träger der
transdisziplinären Forschung, und adäquate organisationale Strukturen einzurichten. Die räumliche Dimension ist insofern von Bedeutung, als dass sie Einfluss auf die Gestaltung der Kommunikationsstrukturen und die Auswahl der Kommunikationsmedien
hat. Die von Jahn und Keil aufgeworfene Frage nach der demokratischen Legitimation der Reallabore würde sich vermutlich im
Kontext der Interventionsforschung weniger deutlich stellen, weil
gerade diese Dimension, das Identifizieren der zu beteiligenden
Akteure und der Prozess der Einbindung, hohe Aufmerksamkeit
genießt.
2 Als Beispiele seien hier genannt: die Förderung von Reallaboren in
Baden-Württemberg – https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/forschung/
forschungspolitik/wissenschaft-fuer-nachhaltigkeit/reallabore –, die Fortschrittskollegs in Nordrhein-Westfalen – www.wissenschaft.nrw.de/forschung/
fortschritt-nrw/inter-und-transdisziplinaere-forschung – oder die Förderlinie
Wissenschaft für nachhaltige Entwicklung der Volkswagenstiftung –
www.volkswagenstiftung.de/unsere-foerderung/unser-foerderangebot-imueberblick/vorab/wissenschaft-fuer-nachhaltige-entwicklung.html.
3 Gruppendynamik steht übrigens ebenso wie das Reallabor in Verbindung
zu Konzepten der Feldforschung und Aktionsforschung (vergleiche
Grunwald 2016, S. 204).
4 Vergleiche die Reallabore in Baden-Württemberg:
https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/forschung/forschungspolitik/
wissenschaft-fuer-nachhaltigkeit/reallabore.
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Es sind also spezifische Ausgangspunkte, die sich in einem
Ansatz spiegeln und die Unterschiedliches ermöglichen – und
natürlich auch unterschiedliche offene Fragen mit sich bringen.
Es erscheint daher sinnvoll, Forschungsansätze nicht im Sinne
einer Unter- und Überordnung zu betrachten, sondern als je nach
Kontext passende Möglichkeiten zu sehen, in transdisziplinären
settings zu forschen und zu intervenieren. Die Entscheidung für
einen Forschungszugang kann beispielsweise auf Basis der zugrunde liegenden Forschungs- und Interventionsstrategien getroffen werden.
kung zeigt, hängt vom jeweiligen Gegenüber ab (Willke 1999).
Transdisziplinäre Forscher(innen) können lediglich dazu beitragen, die Wahrscheinlichkeit von Wirkungen zu erhöhen. Die von
Jahn und Keil angesprochene Problematik der Zeit ist dabei ein
relevanter Aspekt. Transdisziplinäre Forschungsprojekte, genauso wie Reallaborsettings, werden auf begrenzte Zeit eingerichtet.
Die möglichen Wirkungen der Interventionen entstehen mitunter erst nach Abschluss der Aktivtäten und sind auch dann nicht
immer bestimmten Ursachen zuzuordnen (Krainer und Winiwarter 2016).
Interventionsstrategien der transdisziplinären
Forschung
Wissenschaftliche Forschung im Kontext
transdisziplinärer Prozesse
Wissenschaft kann in transdisziplinären Forschungskonstellationen auf mehreren Ebenen und mit unterschiedlicher Intention
Anknüpfung an gesellschaftliche Realitäten suchen. Dafür sind
jeweils adäquate Interventionsstrategien zu wählen. Hierzu drei
Beispiele: Transdisziplinäre Forschung kann die primäre Intention haben, …
1. … ein Thema in einem lokalen Kontext zu platzieren, etwa das
Thema nachhaltige Stadtentwicklung oder nachhaltiger Konsum in einem Quartier. Forscher(innen) können dort die alltäglichen Bedürfnisse der Bevölkerung untersuchen. Diese
Orte bilden den Rahmen für Forschung, Bewusstseinsbildung
und Lernen – und möglicherweise gelingt es, gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen.
2. … konkrete, lokal wahrgenommene Probleme und Herausforderungen zu bearbeiten, wie etwa das Entwickeln von nachhaltigen Mobilitätskonzepten in Gemeinden oder Nachhaltigkeit in Organisationen. Hier geht das Interventionsanliegen
über Bewusstseinsbildung und gesellschaftliches Lernen hinaus: Im Vordergrund steht das Entwickeln von Handlungsoptionen, die mit Blick auf möglichst erfolgreiche Umsetzung
konzipiert werden. Besonders in Kontexten, wo Forschung auf
widersprüchliche Interessenkonstellationen trifft (Krohn 2007,
S. 355), kann sie ein soziales Arrangement für Verständigungsund Aushandlungsprozesse anbieten. Um hier zu tragfähigen
Ergebnissen zu kommen, braucht es ein stabiles soziales Forschungssystem und ein hohes Maß an Engagement der Beteiligten.
3. … überregional oder global gesellschaftliche Entwicklungen
voranzutreiben. Dazu bedarf es vernetzter Forschungsaktivitäten, Bildungsinitiativen und eines politischen Handlungsbezugs von Forschung (Politikberatung).
Laut Jahn und Keil kann in Reallaboren nur sehr bedingt systematische Forschung betrieben werden.Vielmehr stehe dieUmsetzung von Ergebnissen aus transdisziplinären Forschungsvorhaben im Vordergrund. Ich denke, die Frage, inwieweit Forschung
betrieben werden kann, hängt davon ab, zu welchen Themen und
mit welchen Erkenntniszielen gearbeitet werden soll und was der
jeweilig konkrete transdisziplinäre Kontext überhaupt ermöglichen kann. Für Forschung über Transformationsprozesse wird
das Reallabor ein hervorragendes Umfeld bieten, weil beobachtet werden kann, wie Menschen zum Beispiel an Fragen nachhaltigen Konsums herangehen, wie sie ihren Alltag gestalten und
was sie über die Zeit im Reallabor lernen und welche Maßnahmen unter welchen Umständen umgesetzt werden. Um hier wissenschaftlich relevantes Wissen generieren zu können, braucht
es entsprechende methodische Arrangements. Da der Erfolg vom
Engagement der Beteiligten abhängt, ist es sinnvoll, deren Beziehungen untereinander im Sinne der Interventionsforschung
aufzubauen.
Reallabore, wie transdisziplinäre Prozesse generell, haben hybriden Charakter (Grunwald 2016). Demnach sind in transdisziplinäre Forschung unterschiedliche Modi der Wissensproduktion
eingelagert, die den Forscher(inne)n Flexibilität in der Rollengestaltung und der Ausrichtung der Aktivitäten abverlangen. Forschung in Reallaboren ist prinzipiell möglich, bleibt aber weniger planbar (vergleiche Parodi et al. 2016). Nicht intendierter Wissensgewinn (Grunwald 2016, S.217) stellt Wissenschaftler(innen)
genauso vor Herausforderungen wie der Umstand, dass sich Forschungsvorhaben nicht immer innerhalb eines Projekts verwirklichen lassen, mitunter fragmentarisch bleiben und über mehrere Projekte hinweg verfolgt werden müssen. Es ist umso schwieriger, systematische wissenschaftliche Forschung innerhalb von
transdisziplinären Prozessen zu verwirklichen, je größer die Nähe
zu den gesellschaftlichen Akteur(inn)en und je stärker die Ausrichtung des Gesamtvorhabens an praxisrelevanten Themen ist.
Die Arbeit mit den gesellschaftlichen Akteur(inn)en verlangt den
Forscher(inne)n viel Energie ab und ist zeitaufwendig. Systematische Forschung in transdisziplinären Projekten zu betreiben
erfordert einen kontinuierlichen Wechsel des Arbeitsmodus und
will gegen „Anfechtungen“ verteidigt werden. Den Erfahrungs-
Mit Reallaboren können meines Erachtens alle drei genannten
Interventionsstrategien verfolgt werden. Besonders gut können
Themen in einem konkreten sozial-räumlichen Kontext bearbeitet werden. Das Transformationsanliegen, so eine Hypothese,
kann jeweils nur im Sinne Kants (2009) als regulative Idee gedacht werden, deren Verwirklichung angestrebt, aber nicht immer erreicht wird. Ob und wie eine Intervention nachhaltige Wir-
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berichten, wie Forschung in Reallaboren gut gelingen kann, sehe
ich mit Interesse entgegen, ebenso weiteren Arbeiten zu wissenschaftstheoretischen Aspekten, Fragen der Übertragbarkeit von
Ergebnissen sowie jenen nach den Konsequenzen der hybriden
Konstellation auf (disziplinäre) Wissensordnungen (Foucault
2001).
Schlussfolgerungen
Diese Replik auf den Beitrag von Thomas Jahn und Florian Keil
nahm bei der Frage ihren Ausgang, ob eine zu große Pluralität
an Ansätzen und Begriffen für die junge Tradition transdisziplinärer Forschung ein Risiko darstellen könnte. Ich plädiere dafür,
die Entwicklung als Chance zu sehen. Mit der Einführung des
Begriffs Reallabor wird im Sinne einer produktiven Irritation
(Krainz und Ukowitz 2014) die theoretische Reflexion angeregt
und eine Erweiterung des methodologischen Repertoires vorbereitet.
Wichtig erscheint mir, dass (wie bisher) konzeptionenübergreifend ein Diskurs zu jenen Fragen geführt wird, die allgemeiner für partizipative, transdisziplinäre Forschungsansätze relevant sind. Dieser Diskurs kann methodische Themen ansprechen,
Fragen rund um eine wissenschaftstheoretische Grundlegung
aufgreifen und das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft thematisieren, wie das Jahn und Keil vorschlagen. Eine
Ausdifferenzierung der ohnehin heterogenen Landschaft transdisziplinärer Forschung, die sich in Richtung Schulenbildung entwickelt, ohne immer wieder die gemeinsamen Anliegen in den
Blick zu nehmen, wäre problematisch – sowohl für die Weiterentwicklung der Forschungstradition in inhaltlicher Hinsicht als
auch für die Bemühungen um deren institutionelle Verankerung
im Wissenschaftssystem und in der Gesellschaft.
Ich komme also zu einem ähnlichen Schluss wie Jahn und
Keil, die mit einem Versuch der konzeptionellen Integration des
Reallabors in die transdisziplinäre Forschung reagieren und damit einen Zusammenhang herstellen. Anstelle von Über- und Unterordnungen plädiere ich allerdings für ein fruchtbares Nebeneinander von Forschungskonzeptionen, die den Forscher(inne)n
die Möglichkeit bieten, für die jeweiligen Kontexte adäquate Forschungssettings einzurichten, im besten Sinne eines reflektierten
„anything goes“ (Feyerabend 1983). Mir scheint, die durchaus sehr
heterogene Community der transdisziplinär Forschenden hat es
bisher gut geschafft, mit einer gewissen Offenheit im Gespräch
zu bleiben und mehr nach dem Verbindenden als nach dem Trennenden zu suchen. Dem Diskurs kommt die in den transdisziplinären Projekten gelebte Kultur und Haltung zugute, dass Multiperspektivität einen Wert darstellt, der gepflegt werden will.
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Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main:
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Jahn, T., F. Keil. 2016. Reallabore im Kontext transdisziplinärer Forschung.
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Parodi, O. et al. 2016. Das Konzept „Reallabor“ schärfen. Ein Zwischenruf
des Reallabor 131: KIT findet Stadt. GAIA 25/4: 284 –285.
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Willke, H. 1999. Systemtheorie III. Interventionstheorie. Stuttgart:
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Martina Ukowitz
Geboren 1967 in Klagenfurt, Österreich. Studium der
Germanistik, Romanistik, Philosophie und Gruppendynamik. Habilitation in transdisziplinärer Interventionsforschung. Associate Professor am Institut für Palliative
Care und Organisationsethik, Fakultät für Interdisziplinäre
Forschung und Fortbildung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Arbeitsschwerpunkte: Interventionsforschung, transdisziplinäre Forschung,
Organisationsentwicklung, praktische transdisziplinäre Forschungsarbeit in
den Feldern nachhaltige Regionalentwicklung, Naturschutz und Public Health.
GAIA 26/1(2017): 9 –12
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