Alltagsethik in der Onko-Spitex Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten Dr. Heidi Albisser Schleger, MSc, RN METAP-Alltagsethik und Forschung in der Gesundheitsversorgung Alltagsethik - Charakteristiken Fokus: Ethische Problemlösung beim einzelnen Patienten Befähigung von Berufspersonen, schwierige Patientensituationen mit ethischen Fragen in eigener Kompetenz zu lösen Standardisiertes ethisches Entscheidungsverfahren Ethische Entscheidungshilfen zur selbständigen, standardisierten Problemlösung Möglichkeit für Ethikkonsilium Gestützt auf Expertise aus Medizinethik und Wissen der Berufstätigen Def inition f ür METAP-II Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Alltagsethisches Problem - Charakteristiken Ethisches Problem Typ 1: Situation ist durch ein offensichtliches ethisches Defizit oder durch ethisches Fehlverhalten gekennzeichnet (Verhalten gegen Berufsethos). Ethisches Problem Typ 2: Situation ist durch Unsicherheit bzgl. der ethisch angemessenen Entscheidung gekennzeichnet. Salloch et al (2015), Ethik Med; Klinische Ethik - METAP (2012), Springer Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Entstehungsbedingungen alltagsethischer Probleme in der ambulanten Onko-Spitex Patientenbedingte ethische Probleme Ethische Probleme seitens des Personals Institutionell und organisatorisch bedingte ethische Probleme im Einzelfall Sozial- und gesundheitspolitisch bedingte ethische Probleme im Einzelfall Beispiel für Überversorgung Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Fragen und Problemstellungen im Einzelfall Entstehungsbedingungen (1) Alltagsroutine Patientenbedingte ethische Probleme im Einzelfall Patienten und Patientinnen • Schmerzmanagement und Selbstbestimmung • Bedürfnisse Patienten und Ressourcen pflegender Angehörigen: Abwägen zwischen Nutzen und Grenzen aller Beteiligten • Patientenwillen – Willen pflegender Angehörigen: Umgang mit Uneinigkeit • „ich will sterben“ – „ich will nicht sterben“ Berufspersonen (angestellt, selbständig) Mitarbeitende: Moral Distress • Zeitdruck (Arbeitsverdichtung, Personalmangel) • Quote nicht-verrechenbarer Leistungen vs. Debriefing, Problem bei der Durchführung von Fallbesprechungen, Teambesprechungen etc. Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Beispiele für ethische Fragen und Problemstellungen im Einzelfall - Entstehungsbedingungen (2) Organisation Institutionell und organisatorisch bedingte ethische Probleme im Einzelfall Arbeitgeber/ Geschäftsleitung • Ökonomisierung: Zunahme Administration, Regulierungen (Leistungserfassungen, Leistungsvorgaben, Anträge an Krankenkassen) Zusammenarbeit mit anderen Akteuren • Mangelhafte Kooperation zwischen den ambulanten Akteuren ganz überwiegend noch keine gemeinsamen Patientendokumentationen Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Fragen und Problemstellungen im Einzelfall Entstehungsbedingungen (3) Gesellschaft Sozial- und gesundheitspolitisch bedingte ethische Probleme im Einzelfall Staat (Gesetzgebung, Organisationen: Verbände), Kantone, • kantonal unterschiedlich Gemeinden • unterschiedliche Finanzierungsmodelle Krankenkassengesetz: falsche Anreize (entgegen nationale Strategie prioritär wird Behandlung vergütet) Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Leistungen obligatorische Krankenkasse 2014, BS 2% Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Überversorgung bei jüngeren onkologischen Patienten, USA N= 28’731 Patienten, < 65 Jahre, Versicherungsdaten 2007-2014, letzte 30 Lebenstage Aggressive care within the last 30 days of life. Lung Colorectal Breast Pancreas N = 12,764 N = 5,207 N = 5,855 N = 3,397 (%) (%) (%) (%) Overall aggressive care 76 71 74 74 Chemotherapy 28 26 32 29 Radiotherapy 21 9 16 6 Invasive procedure 29 26 27 31 Hospital admission/ED 65 61 63 65 visit ICU admission 20 16 17 16 In-hospital death 35 30 33 30 Prostate N = 1,508 (%) 72 24 13 26 62 18 31 Chen, RC (2016) J Clin Oncol 34 Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Überversorgung bei onkologischen Patienten am Lebensende - Schweiz? • • Verstorben im Spital: n = 2327 % = 61.1 Aktive Therapie: insgesamt ca. 40% • N=3808 Patienten 30 Tage vor Lebensende Zeitraum: 20062008 Hospitalisierung: n = 2608 %= 68.5 Matter-Walstra K (2014) BCM, Cancer Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Folgen ungelöster ethischer Probleme Schadensrisiko für Patienten, Patientinnen oder pflegende Angehörige Unangemessene Versorgung Ungünstiger Effekt auf Pflegequalität Verursacht Kosten Moral Distress Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Entscheidungsfindung bedingt standardisierte Entscheidung - Wies0? Nicht-standardisierte Entscheidungsprozesse in schwierigen Situationen: Gefahr von Verzerrung durch Werte, Stereotypien, Denkfehler, unvollständige, ungültige Patienteninformationen oder unvollständiges ethisches Wissen Qualitativ gute ethische Entscheidung ist gestützt auf: • Standardisiertes Verfahren • Verbindliche ethische Kriterien Risikomanagement Fehlervermeidung Potentielle Folge: Ethische Probleme Schadensrisiko für Patienten oder pflegende Angehörige Beeinträchtigte Pflegequalität Verursacht Kosten Moral Distress Potentieller Nutzen: – Kontrolle von Verzerrungen während des ethischen Entscheidungsprozesses – Beitrag zur Sicherung der Pflegequalität – Kompetente Mitarbeitende weniger Stress auch in schwierigen Situationen Marckmann (2013) Ethik Med; METAP-Gruppe (2012) Springer Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT METAP – Alltagsethische Entscheidungsfindung Albisser Schleger, Merz, Meyer-Zehnder, Reiter-Theil (2012) Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Eskalationsmodell von METAP Stufe 1: Mitarbeiter, Mitarbeiterin nimmt Problem wahr und bearbeitet es mit den verschiedenen Hilfsmitteln. Stufe 2: Wenn keine Lösung: Besprechung mit der für Ethik resp. METAP-II verantwortlichen Person. Stufe 3: Wenn keine Lösung: Durchführung einer ethischen interprofessionellen Fallbesprechung im Team. Stufe 4: Wenn keine Lösung: Online-Beratung durch externe EthikFachperson. Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Problemlösung: Standardisierte, d.h. Hilfsmittel gestützte Verfahren (1): Identifikation des ethischen Problems Hilfsmittel zur Identifikation eines ethischen Problems Identifikation auf den medizinethischen Dimensionen von Beauchamp und Childress: Respekt vor der Autonomie Hilfeleistung / Nutzen Schaden und Nebenwirkungen vermeiden Gerechtigkeit / Gleichbehandlung sowie Problemwahrnehmung Informationsgrundlage Respekt vor der Autonomie/Respekt vor dem Patientenwillen - - Welche Werte sind dem Klienten, der Klientin wichtig? Werden diese berücksichtigt? Ist Klient/Klientin urteilsfähig? - Ist der Patientenwille bekannt? Ist er übereinstimmend mit dem Auftrag an die Spitex? - Wurde der Klient angemessen und vollständig informiert? Hat er, sie die Informationen verstanden? - Möchte der Klient nicht informiert werden und vom Recht „Nicht-zu-Entscheiden“ Gebrauch machen? - Konnte der Klient, die Klientin seinen/ihren Willen ohne äusseren Zwang bilden? - Wird der Patientenwille berücksichtigt? Wenn nein, warum nicht? Ist Klient/Klientin teilweise, fluktuierend oder nicht urteilsfähig? Wurde der mutmassliche Patientenwille sorgfältig erhoben? Stehen Entscheide mit weitreichenden Konsequenzen an und sind die Interessen des Klienten und seines Umfeldes entsprechend geschützt? Gibt es eine Patientenverfügung? Ist die vertretende Person bekannt? Ist die Privatsphäre des Klienten, der Klientin geschützt? Wie ist die Haltung der Angehörigen, Helfer? Gibt es Differenzen zum Willen des Klienten? Wird ein kulturell bedingtes anderes Autonomieverständnis entsprechend berücksichtigt? Hilfeleistung/Nutzen - Weisen die bisherigen oder geplanten Massnahmen einen Nutzen für den Klienten, die Klientin auf und dienen seinem/ihrem Wohl im Bereich Pflege, Medizin und/oder Hauswirtschaft, Sozialbetreuung? Definieren die beteiligten Personen/Dienstleister das Patientenwohl unterschiedlich oder anders als der Klient, die Klientin selber und entstehen daraus Konflikte? Schaden und Nebenwirkungen vermeiden - Gibt es Beobachtungen von Leiden/Schaden/Nebenwirkungen, Schmerz/Angst/langandauernde Trauer oder Zeichen von Gewaltanwendung von aussen? Liegen Hinweise auf eine mögliche Überversorgung vor? Lehnen Klient/Klientin, Angehörige oder Vertretungsperson sinnvolle Massnahmen ab? Können die daraus entstehenden Folgen eingeschätzt und allenfalls getragen werden? Liegt mögliche Selbst- oder Fremdgefährdung vor? Gerechtigkeit / Gleichbehandlung - Liegen Hinweise auf eine mögliche Unter- oder Ungleichversorgung vor und wurden diese Hinweise sorgfältig berücksichtigt? Besteht der Eindruck, dass der Klient aufgrund persönlicher Wertvorstellungen oder ökonomischer Überlegungen benachteiligt wird oder sinnvolle Massnahmen nicht durchgeführt werden? Hat die aktuelle Situation ungerechte Folgen gegenüber anderen Klienten oder Klientinnen? Problemwahrnehmung und (interprofessionelle) Zusammenarbeit - METAP-II (in Bearbeitung). Alltagsethik für die ambulante Praxis - Informationsgrundlage - Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Sind die Sichtweisen der verschiedenen Beteiligten und Betroffenen bekannt und werden angemessen einbezogen (z.B. Klient/Klientin, Angehörige, Vertretungspersonen)? Gibt es Probleme zwischen den verschiedenen Leistungserbringern? Ist der behandelnde Arzt, sind die behandelnden Ärzte erreichbar und einbezogen? Können alle Beteiligten ihre Einstellungen, Wünsche, Bedürfnisse und Kritik frei äussern? Gibt es gemäss „Checkliste Informationssammlung“ fehlende oder ungültige Informationen? Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Problemlösung: Standardisierte, d.h. Hilfsmittel gestützte Verfahren (2): Checkliste zur Informationssammlung o Entlang des Patientenwillens o Vorbeugung Über-, Unter- und Ungleichversorgung o Integriert verschiedene Perspektiven Ziel: Vollständige und gültige Information METAP-II (in Bearbeitung). Alltagsethik für die ambulante Praxis Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Ethische Problemlösung: Standardisierte, d.h. Hilfsmittel gestützte Verfahren (3): Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Take Home Message Qualitativ gute ethische Problemlösung verlangt - auch zur eigenen Orientierung - ein standardisiertes ethisches Verfahren Gefahr Standardisierung: unreflektierte Benutzung von Hilfsmitteln Einbezug ethik-theoretischer Grundlagen, Ethikexpertise unabdingbar Grenzen der Alltagsethik dort, wo Berufspersonen aufgrund ihrer Position keine Veränderungsmöglichkeiten sehen Verantwortung für wiederkehrende Problemstellungen dokumentiert an entsprechende Instanzen weiterleiten (Organisation, Vorstand, Gemeinde, Verband) Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT Vielen Dank Homepage METAP I für die klinische Praxis: www.klinischeethik-metap.ch/ Homepage METAP II für die ambulante Praxis: In Bearbeitung Kurzfilm METAP: Anwendung & Nutzen https://www.youtube.com/watch?v=zfIYg4YIQ1Q [email protected] Alltagsethik in der Onko-Spitex, Albisser Schleger, 01.09.2016 Universität Basel, Department Public Health | PFLEGEWISSENSCHAFT