Annabelle Selldorf Die Architektin, die Kunst und Kultur einen vom Zeitgeist unabhängigen baulichen Rahmen gibt A ls William Steinway, alias Wilhelm Steinweg, 1925 seine Geschäftsräume schräg gegenüber der Carnegie Hall in Manhattan bezog, war schon klar, dass sich dort die weltbesten Pianisten vor großen Konzerten warm spielen würden. Vladimir Horowitz, Artur Rubinstein, Hélène Grimaud – sie alle machten den Ort mit der Zeit zu einer Pilgerstätte für Klaviermusik. Knapp 90 Jahre später fällt das Gebäude dem aktuellen Bauboom zum Opfer. Wo einst aus den berühmten Flügeln perlende Klänge durch die Fenster auf die laute Straße drangen, herrscht jetzt Baulärm. Auf der 111 West 57. Straße steht seit zwei Jahren mit fast 70 Metern der höchste frei stehende Kran New Yorks, um ein Apartmenthaus der Superlative zu bauen. Keine leichte Aufgabe für Michael Sweeney, den CEO von Steinway & Sons, eine neue Bleibe und den richtigen Architekten für das heimatlose Unternehmen zu finden: „Wir ziehen nur einmal pro Jahrhundert um. Da muss dann alles stimmen.“ Dass er bei Annabelle Selldorf landete, verwundert nicht. Die gebürtige Kölnerin gilt seit Jahren als Spezialistin für Räume, die so subtil zurückgenommen sind, dass die darin stattfindende Kunst hautnah erfahrbar ist. Wer die ganz große, laute Geste will, geht nicht zu Selldorf Architects. Wer an die Kraft von eleganter Reduktion und maßvollen Proportionen glaubt, muss dorthin. „Wir hatten die Aufgabe, die Leidenschaft und Sorgfalt, die die Firma in den Bau der besten Instrumente investiert, in Räume zu übersetzen, die sich für das Publikum in neuer Weise öffnen“, erklärt die WahlNew-Yorkerin die Herausforderung, eine Institution mit Erfolg zu verpflanzen. Gerade wurde unter Beifall das neue globale Headquarter von Steinway & Sons auf der Avenue of the Americas eröffnet. „Ihre Elefantenherde“ nennt sie die Flügel humorvoll. Gerade kommt sie aus einem Meeting mit ihren vier Partnern, darunter drei Frauen. Bio-Tee steht auf dem Tisch, die Stimmung ist trotz ein paar Dutzend laufender Projekte entspannt. Seit die Deutsche 2001 im Auftrag des Mäzens Ronald S. Lauder auf der Fifth Avenue eine prachtvolle Beaux-Arts-Villa mit ihrer einfühlsamen Ästhetik zur „Neuen Galerie“ umbaute, gilt sie als ers- te Adresse der Kunstwelt. Es folgten Aufträge für Neu- und Umbauten von angesehenen Galerien wie David Zwirner, Hauser & Wirth und Gladstone sowie von Museen quer durch Amerika und Europa – darunter das Museum of Contemporary Art San Diego und das GlasMuseum Le Stanze del Vetro in Venedig. Mit ihrem präzisen Auge machte sich die Frau mit der ruhigen Ausstrahlung außerdem einen Namen für Ausstellungsdesign. Bereits fünfmal betraute sie der Mega-Kunsthändler Larry Gagosian damit, Werke von Picasso, Monet, Rauschenberg und anderen Künstlern zu arrangieren. Als Selldorf im Frühjahr 2009 die Show „Picasso: Mosqueteros“ mit späten Werken des Spaniers einrichtete, bildeten sich Schlangen auf der 21. Straße in Chelsea. „Ich bin nicht der Liebling der Kunstwelt, weil ich nett bin, sondern weil ich denen etwas zurückgeben kann“, stellt die vielfach ausgezeichnete Architektin fest. „Und ich nehme für mich in Anspruch, eine kreative Leistung zu erbringen, die speziell ist. Die Kunden kommen zu mir, wie man zum besten Zahnarzt geht.“ 65 Mitarbeiter sind heute in ihrer Firma am Union Square tätig – in dem Gebäude, in dem einst Andy Warhol seine berühmte Factory hatte. Der Schlüssel zum Erfolg liegt im aufmerksamen Zuhören. Sensibilität gegenüber dem Kunden prägt den Dialog: „Kompetenz kann man sich beweisen lassen, aber am Ende geht es darum, ob man die Seele einer Firma oder eines Auftrags versteht. Man muss sich gegenseitig zuhören und nachschauen, ob man dieselben humanistischen Werte hat.“ Nach New York verschlug es die Tochter des Designers und Architekten Herbert Selldorf eher aus Zufall, weil sie keinen Studienplatz in Deutschland bekam. „Ich hatte vom ersten Tag an diese tiefe Affinität zu New York. Die Stadt hat mich nie eingeschüchtert, sondern sofort neugierig gemacht. Man wird immer wieder aus seiner vorgefassten Meinung rausgezogen.“ Als dann doch ein Studienangebot aus Berlin kam, habe sie beschlossen zu bleiben. „Ich kann hier das, was ich zu bieten habe, besser verwirklichen. Deutsche sind im Ausland oft am besten.“ Sie habe nach wie vor eine sehr starke Verbindung zu Europa und Deutschland, aber sei leidenschaftliche New Yorkerin. Auch privat hat sie hier ihr Glück gefun- den und lebt seit vielen Jahren mit Thomas Outerbridge zusammen, dem Manager einer von ihr in Brooklyn gebauten Recycling-Anlage. Am Washington Square, an dem das Paar wohnt, sieht man beide oft mit ihrem Mischling Jussi spazieren, einer Mischung aus Corgi und Labrador. Das von ihr fertigstellte LuxusApartmenthaus an der Bond Street haben sie nicht bezogen: „Ich mag es im Univiertel, dort hat sich New York weniger verändert als andernorts.“ Im Sommer ist der ganze Platz voll mit Musikern und auf dem Weg zur Arbeit kommt sie über den Wochenmarkt am Union Square, wo der Duft von Obst und Blumen die Luft erfüllt. Amerikanerin ist sie nicht geworden. „Ich bin und bleibe Deutsche. Es gibt keinen Grund, das zu ändern. Dann muss ich mich auch nicht mit Trump identifizieren“, meint sie trocken. Was sie an Amerikanern schätze, sei ihre Unvoreingenommenheit. Es fasziniere sie nach wie vor, wie sich die diversen Kulturen in Amerika gegenseitig im Denken beeinflussen. „Hier werden unterschiedliche Meinungen nicht so hastig in Vorwürfe verwandelt. Es ist von Anfang klar, dass es nicht nur eine mögliche Sichtweise gibt.“ Als Architektin steht sie oft vor der Aufgabe, ein bestehendes Gebäude im Respekt vor dem Werk eines anderen Architekten zu modernisieren. „Wir Deutschen unken gerne. Den Amerikanern ist das eher fremd. Es gibt einen Grundoptimismus, der uns oftmals abgeht. Mir gefällt die Chuzpe, die Lust am Wagnis, die Kreative hier zeigen. Das macht mich frei.“ Im Moment arbeiten sie und ihre Kollegen, darunter viele Frauen, neben den zahlreichen anderen Projekten pro bono an dem Bau einer Schule im bitterarmen Sambia. „Es ist toll zu sehen, wie das ganze Team voll an Bord ist und wie enthusiastisch alle sind. Wir hoffen, dass unser Gebäude ein Modell für weitere Schulbauten sein kann.“ Dann muss Annabelle Selldorf weiter. Ihr Terminkalender ist auf Monate hinaus mit Ortsbesichtigungen ausgebucht, die kreuz und quer über den Atlantik reichen. Wer die Essenz ihrer Architektur erfahren will, sollte auf der nächsten Tour im Amangiri Resort in der Wüste Utahs haltmachen. Aber Vorsicht: Kann sein, dass Sie dort nie wieder wegwollen. Huberta von Voss 49