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Neuö Zürcör Zäitung
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
SB 1
SONDERBEILAGE LUCERNE FESTIVAL
Sandstein (Antelope Canyon, USA).
«Natur» – so heisst das Thema, das sich Lucerne Festival für seine
Sommerausgabe 2009 gegeben hat. Nichts Natürlicheres als das,
möchte man meinen. Tatsächlich sind Natur und Musik (oder Natur
P. FRISCHKNECHT / BLICKWINKEL
und Kunst ganz allgemein) in vielfältigster Weise miteinander verbunden – nicht zuletzt durch das Moment der Struktur, das hier wie
dort waltet. In ihrer Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg ist
die Beziehung indessen von ausserordentlicher Vielschichtigkeit und
Komplexität. Weshalb in den knapp siebzig Konzerten der kommenden sechs Wochen wieder manche Entdeckung zu machen sein wird.
Musik ist Genuss
Das Lucerne Festival Orchestra gehört zu den eindrucksvollsten Klangkörpern der Welt. Erstklassige Musiker unter
der Leitung von Maestro Claudio Abbado überzeugen in ihrem Spiel durch unnachahmliche Intensität und Brillanz.
Nestlé, das führende Unternehmen für Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden, freut sich, Ihnen diesen Höhepunkt
des Konzertjahres 2009 als Sponsor des Lucerne Festival Orchestra präsentieren zu dürfen. www.nestle.com
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Photo: Lucerne Festival
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Neuö Zürcör Zäitung
LUCERNE FESTIVAL
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
Natur in der Musik?
Das Äussere und das Innere
«Musik und Natur» – das Thema, das die diesjährige Sommerausgabe von Lucerne Festival bestimmt, liegt verdächtig nahe. Musik ist in der
Natur, man muss nur der Amsel zuhören; und
Natur ist in der Musik, wovon zahllose Stücke im
Geist von Beethovens «Pastorale» künden. Indessen, ganz so einfach sind die Beziehungen zwischen dem in der Schöpfung Gegebenen und dem
von Menschenhand in künstlerischer Absicht Geschaffenen doch nicht. Zwischen den (durchaus
unterschiedlich ausgelegten) Prinzipien der Nachahmung, wie sie im 18. Jahrhundert galten, und
den Ideendramen der spätromantischen Sinfonischen Dichtung liegen Welten und Wege, denen
ein erster thematischer Block dieser Sonderbeilage nachzugehen sucht.
Und heute – oder: im 20. und 21. Jahrhundert?
Spielt da die Natur in der Musik noch eine Rolle?
Gewiss, Arnold Schönberg wünschte sich, dass
seine zwölftönigen Lineaturen dereinst so natürlich wirkten, dass sie von jedermann auf der
Strasse nachgepfiffen werden könnten. Wer jedoch an Nono, Stockhausen und Boulez denkt
oder auch an Klaus Huber und Heinz Holliger,
assoziiert weder Abendrot noch die Nöte eines
Helden. Im Gegenteil, nach dem Zweiten Weltkrieg und als Folge davon hat sich die Vorstellung
einer reinen, ganz und gar in sich selbst verankerten und ausschliesslich auf strukturelle Vorgänge
zielenden Musik verbreitet. Die Idee der absoluten Musik stellte nicht nur die Frage, ob Musik
– zumal Instrumentalmusik, wie sie bei Lucerne
Festival dominiert – überhaupt einen Inhalt
haben könne, sie verneinte sie zugleich, und zwar
radikal. Damit tat sie nichts prinzipiell Neues,
wenn man sich an die durch den Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick im späten 19. Jahrhundert so nachhaltig geschürten Debatten um die
Musik als «tönend bewegte Form» erinnert. Aber
sie spitzte das Thema zu und führte einen Begriff
ein, der heute Allgemeingut ist. Um ihn und überhaupt um die Frage nach einem möglichen Inhalt
von Musik dreht sich weiter hinten ein zweiter
Schwerpunkt der Beilage.
Ein Thema hat die Musik allerdings ohne
Zweifel. Es ist der Raum. Der Aspekt des Räumlichen ist geradezu ein Parameter der Musik geworden, das lehrt der Blick in die Geschichte.
Und welche Bedeutung diesem Aspekt zuwachsen kann, zeigt sich in Luzern, wo mit der Salle
modulable ein gutes Jahrzehnt nach der Eröffnung des KKL von Jean Nouvel noch einmal ein
neuer Saal geplant ist, der ungewohnte räumliche
Dimensionen erschliessen soll. Woher stammt die
Idee der Salle modulable? Wie ist sie entstanden,
und aus welchem ästhetischen Umfeld kommt
sie? Diese Fragen stellt ein dritter thematischer
Schwerpunkt ins Zentrum der Beilage. Herausgearbeitet wird dort, in welchem Mass das Konzept einer Salle modulable auf den Komponisten
und Dirigenten Pierre Boulez zurückgeht, der
eben nicht nur geraten hat, die Opernhäuser in
die Luft zu sprengen, sondern auch Alternativen
entwickelt hat. Der – natürlich angeregt durch
Denkansätze, die in der Luft lagen – schon früh
das räumliche Denken in sein Schaffen integriert
hat. Und der schon in den 1960er Jahren den
Gang durch die Institutionen angetreten und einiges bewirkt hat. Mag sein, dass sich seine Visionen in Luzern erfüllen.
Peter Hagmann
Musik und Natur – ein vielschichtiges Verhältnis im Wandel der Zeiten
INHALT
Natur und Kunst, Kunst und Natur
Ohne Natur keine Kunst, aber auch: ohne Kunst
keine Natur. Denn Natur entsteht zusammen mit
SB 4
dem Widerschein der Kunst.
Musik im Raum
Musik schafft Raum, entfaltet sich im Raum, erweitert den Raum. Der Blick in die Geschichte
SB 5
lässt spannende Beziehungen erkennen.
Boulez und seine räumlichen Visionen
Die Idee der Salle modulable geht auf den jungen
Pierre Boulez zurück. Schon in den frühen sechziger Jahren arbeitete er in diese Richtung. SB 6
Eine Salle modulable für Luzern
Kommt sie wirklich, die Luzerner Salle modulable? Es lässt sich mit gutem Grund annehmen.
SB 7
Die Arbeiten gehen planmässig voran.
Nichts als reine Musik
Die Musik erzähle nichts, genüge vielmehr ganz
sich selbst – so die Idee der absoluten Musik.
Heute ist von ihr nur mehr der Begriff übrig. SB 8
Musik und ihre Geschichten
Sie kann sehr wohl erzählen. Erst hat die Musik
den Naturlaut nachgeahmt. Später fühlten sich
SB 9
die Komponisten als Dichter.
Verantwortlich für diese Beilage: Peter Hagmann (hmn.)
Natur und Struktur
hmn. Natur kennt ebenso die hochgradige Ordnung wie die vom Menschen geschaffene Kunst.
Das zeigen die Sandsteinformationen auf den
Bildern zu dieser Beilage. Die Auswahl besorgte
unser Bildredaktor Christian Güntlisberger.
SB 3
Von Ernst Lichtenhahn
Musik hat seit je und in einer primären
Weise mit Natur zu tun; sie kommt aus
der Natur, orientiert sich an ihr und geht
doch eigene Wege – in immer wieder
anderer Art. Eine komplexe Beziehung.
Die Natur als Umwelt und Lebensraum hat den
Menschen seit je dazu herausgefordert, in Tönen
auf sie zu reagieren. Die Fiedelspielerin der Tuareg in der südlichen Sahara, nach der Bedeutung
ihrer Stücke befragt, verweist auf das Auf und Ab
der Sanddünen; ihre Kollegin mit der Trommel
beherrscht eine Unzahl von Rhythmen, die die
Bewegungsarten des Kamels wiedergeben, und
der flötende Hirte schätzt den hauchenden, nach
unseren westlichen Vorstellungen «unsauberen»
Ton seines einfach gebauten Instruments, weil so
sein Spiel den Wind einzufangen vermag.
ZWEI ARTEN DER MUSIKBETRACHTUNG
Das Naturelement wird nicht nur tönend abgebildet, es muss sich gleichsam der Verfügungsgewalt des Musikers unterwerfen. Das gilt für unzählige nichtwestliche Gesellschaften, für die
Herder einst die Bezeichnung «Naturvölker»
prägte. Doch auch in der Kunstmusik der westlichen Kultur begegnen uns auf die Natur bezogene Werke allenthalben: Vivaldis und Haydns
«Jahreszeiten», die «Alpensinfonie» von Richard
Strauss, «La mer» von Debussy, «Déserts» von
Edgard Varèse, um nur einige der Kompositionen
zu nennen, die auf dem Programm von Lucerne
Festival im Sommer 2009 stehen. Sich musikalisch
mit Naturphänomenen auseinanderzusetzen, erscheint als ein ursprüngliches Bedürfnis, naheliegend und einleuchtend. Indes sind die Beziehungen von Musik und Natur so vielfältig und
wurden im Laufe der Geschichte so kontrovers
und leidenschaftlich diskutiert, dass jeder Schein
von Evidenz längst verschwunden ist.
Um die Zusammenhänge zwischen Musik und
Natur aufzuzeigen, boten sich von der Antike
über das Mittelalter bis in die Neuzeit zwei Erklärungsmuster an. Das eine geht von dem Grundsatz aus, dass es die Aufgabe aller Künste sei, die
Natur nachzuahmen, und dass die Musik, als
deren eigentliche Erscheinungsform bis weit ins
18. Jahrhundert hinein die wortgebundene, die
Vokalmusik galt, solche Nachahmung vor allem
durch die klangliche Verlebendigung der Worte
und der darin angezeigten menschlichen Affekte
und Leidenschaften bewerkstelligen solle. Dem
anderen Erklärungsmuster liegt die mathematische Berechnung der Intervallverhältnisse zugrunde, wonach die bei jedem Ton mitschwingenden Obertöne die Naturgegebenheit der harmonischen Ordnung erwiesen, die zudem ihre Entsprechung in den Umlaufbahnen der Planeten fänden.
Auf dem Programm von Lucerne Festival
steht (am 12. September) ein Werk aus dem französischen Barock von Jean Fery Rebel mit dem
Titel «Les Eléments, symphonie nouvelle». Im
ersten Satz, überschrieben «Le cahos», wird die
Erschaffung der Welt musikalisch dadurch geschildert, dass zu Beginn in einem kühnen Cluster
alle Töne der Tonart d-Moll zugleich erklingen,
dass dann in der Reduktion auf einen einzigen
Ton die Erde hervortritt, ehe sich die Tonart festigt, mäandernde Flötenmelodien das Wasser,
lang gehaltene, von Piccolo-Kadenzen überlagerte Akkorde die Luft und brillante Geigenpassagen das Feuer anschaulich machen.
NACHAHMUNG UND FUNKTIONALITÄT
Beide Betrachtungsarten kommen hier zu ihrem
Recht: in der erst allmählich entstehenden harmonischen Ordnung die eine, im klangmalerischen Abbilden der Naturphänomene die andere.
Nur dass sich diese Abbildung hier, in einem
Stück reiner Instrumentalmusik, nun eben nicht
an einem Text und an menschlichen Affekten
orientieren konnte, sondern lediglich an der unbelebten und – sofern in andern Werken etwa
Vogelstimmen mit ins Spiel gebracht wurden – an
der aussermenschlichen Natur.
Diese Orientierung war zu jener Zeit und zumal in Frankreich geradezu unerlässlich für die
Instrumentalmusik, wollte sie sich nicht dem Verdacht der Bedeutungslosigkeit aussetzen, den
Fontenelle in der Frage formulierte: «Sonate, que
me veux-tu?» So steht es denn etwa für den Abbé
Dubos in seinen damals viel gelesenen «Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture»
fest, dass instrumentale Sätze vor allem dazu taugten, in Opernouverturen und -zwischenspielen
recht deutliche Naturschilderungen zu geben. Gewiss, die Komponisten jener Zeit entwickelten im
Klangmalerischen grosse Fertigkeiten und stellten sich zumal im Bereich der Blasinstrumente
immer reichere Möglichkeiten bereit, mit den
Orchesterfarben eindrücklich und spektakulär zu
spielen. Das setzt sich fort bis in die Revolutionsmusik mit ihren Schlachtsinfonien, bis zur «Symphonie fantastique» von Hector Berlioz (Konzert
vom 2. September), und findet seinen Nachklang
noch in Webers «Freischütz» (27. August).
Zugleich aber droht die Gefahr der Veräusserlichung; die Musik rückt in die Nähe der damals
hochentwickelten Theatermaschinen, als perfektes Mittel, Bühneneffekte zu erzeugen, oder sie
verkümmert zur Postkartenidylle oder zur Jahrmarktsattraktion von der Art jener gerade in
Luzern lange Zeit so beliebten Orgelgewitter (als
Beispiel hierzu: Sigismund Ritter von Neukomms
«Konzert am See, unterbrochen von einem Donnerwetter» im Orgelrezital vom 5. September).
Denn nicht immer konnte die Klangmalerei in der
Vorstellung die geistige Vertiefung und Verinnerlichung erlangen, wie sie etwa in Händels «Israel
in Egypt» dadurch ermöglicht wird, dass es der
Gott Abrahams selber ist, welcher die zehn Plagen über das Land schickt und – eindrücklich geschildert in der Chorpassage «But the waters
overwhelmed their enemies» – die Truppen des
Pharao in den Fluten des Roten Meers versinken
lässt (Konzert vom 26. August).
SPIEGEL INNERER BEWEGUNGEN
Das Unbehagen gegenüber einer bloss äusserlichen Naturschilderung wuchs in dem Masse, als
die moderne Instrumentalmusik, wie sie in den
Sinfonien Haydns, Mozarts und Beethovens zutage trat, immer deutlicher erkennen liess, welche
inneren Mittel einer rein musikalischen Gestaltung zur Verfügung standen. Unter diesem Eindruck verfasste Johann Jacob Engel, Hauslehrer
der Brüder Humboldt und einer der bedeutendsten Vertreter der Berliner Aufklärung, seine
Schrift «Über die musikalische Malerei». Darin
schlägt er vor, die Instrumentalmusik, deren
Stärke doch darin liege, die Empfindungen und
Bewegungen der Seele auszudrücken, solle nicht
bloss – quasi objektiv – die Aussenseite abmalen,
sondern die durch das Naturerlebnis ausgelösten
inneren Bewegungen in Töne bringen, da das Verhältnis der Musik zum Abgebildeten ja ohnehin
eine überhöhte, «transzendentelle» Ähnlichkeit
sei. Durch Engels Vorschlag wurde wahrscheinlich Beethoven dazu angeregt, über die Stimme
der ersten Violine der sechsten Sinfonie, der
«Pastorale», die Bemerkung zu setzen: «Mehr
Ausdruck der Empfindung als Malerei».
Auch in die Frühromantik gingen solche Ansichten ein, nur dass hier die Kritik an der musikalischen Naturnachahmung mitunter geradezu
in Verachtung umschlug, so wenn Schelling in seiner «Philosophie der Kunst» behauptet, nur «ein
ganz verdorbener und gesunkener Geschmack»
könne «das Malende» in der Musik gut finden
und sich am Blöken der Schafe in Haydns
«Schöpfung» ergötzen. Die positive Seite formuliert Novalis, wenn er sagt, der Musiker nehme
die Töne aus sich selber und nicht der geringste
Vorwurf von Nachahmung könne ihn treffen.
Und E. T. A. Hoffmann bringt beide Seiten zusammen, indem er in seiner Rezension von Beethovens fünfter Sinfonie alle Kompositionen, die
bestimmte Begebenheiten schildern wollen, als
«lächerliche Verirrungen» abkanzelt und betont,
die Musik erschliesse dem Menschen «eine Welt,
die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt,
die ihn umgibt».
Dennoch liegt es Hoffmann fern, die Natur aus
der Musik zu verabschieden, und keinesfalls geht
es ihm darum, die Musik auf die «tönend bewegte
Form» zu reduzieren, wie Hanslick es später versuchen wird. Dazu sind allein schon die Schilderungen, die er vom Werdegang seines Kapellmeis-
ters Kreisler gibt, viel zu eindrücklich. Hoffmann
beschreibt, wie Kreisler schon als Knabe aus der
Natur, aus verschlungenen Moosgeflechten etwa,
Töne heraushörte und wie er später, nachdem er
sich ins Räderwerk des kompositorischen Handwerks begeben hatte, diese ursprüngliche Divinationsgabe erst allmählich zurückgewann.
Damit richtet sich der Blick auf die innere
Transformation äusserer Eindrücke, die sich beim
Komponieren vollzieht, und zugleich auf den Verweischarakter des musikalischen Kunstwerks.
Solche Verwandlungsprozesse treten in Werken
aus jüngerer Zeit, über deren Intentionen wir
durch die Komponisten oft besser unterrichtet
sind, meist klarer hervor als in älteren Werken,
auch wenn die Wege letztlich immer verborgen
bleiben. Als Beispiel sei «Déserts» von Edgard
Varèse (Konzert vom 29. August) erwähnt: Nicht
um lautmalerische Abbildung der Wüste geht es
hier; Musik und Titel lassen sich eher auf einen
gemeinsamen Nenner bringen durch Stichwörter
wie unendliche Weite, Befreiung aus den Zwängen einer verrotteten Zivilisation, Ursprünglichkeit. Das entspricht der unerhört zukunftsgerichteten Klangwelt dieses Werks ebenso wie Varèses
damaligem Gefühl, in der Wüste Westamerikas so
etwas wie ein Zuhause gefunden zu haben.
DAS OFFENE KUNSTWERK
An wen richtet sich Beethovens Notiz «Mehr
Ausdruck der Empfindung als Malerei»? Klingt
mir die «Pastorale» anders, wenn ich mir nicht
Wachtel und Kuckuck, sondern den empfindenden Komponisten vorstelle? Und die Information,
dass Richard Strauss seiner «Alpensinfonie» ursprünglich den Titel «Der Antichrist» geben
wollte, wodurch das Werk als Auseinandersetzung mit Nietzsche in die Nähe von «Also sprach
Zarathustra» rückt (Konzerte vom 30. August
und 6. September): Verändert sie das Hören?
Oder die Herdenglocken in Mahlers sechster Sinfonie (24. August): Begrüsse ich sie als ein Stück
unverstellter Natur, oder erkenne ich in ihnen das
gebrochene Herbeizitieren eines Intakten, das so
nicht mehr sein kann?
Umberto Eco hat eine Poetik des «offenen
Kunstwerks» entwickelt, ausgehend von Kompositionen Berios und Pousseurs, die dem Interpreten Freiräume lassen und eigentlich eher «Möglichkeitsfelder» als abgeschlossene Werke sind.
Für die im vorliegenden Text erwähnten Kompositionen trifft dies nicht zu; sie haben allesamt
festgelegte Strukturen und eindeutigen Werkcharakter. Richtet sich der Blick jedoch auf die
Rezeption, darauf, wie diese Werke je gehört und
gedeutet werden, so verwandeln sie sich gleichfalls zu «Möglichkeitsfeldern». Das gilt für jede
Rezeption, vielleicht aber für die Musik, die auf
die eine oder andere Art Natur zu ihrem Gegenstand hat, in besonderer Weise. Ins Hören
mischen sich unweigerlich die eigenen Naturvorstellungen, und sie bestimmen Wirkung und Auffassung entscheidend mit. Gerade angesichts der
starren Apodiktik, mit der über solche Werke
immer wieder geurteilt wurde, dürfte es angebracht sein, auch diesen Aspekt zu bedenken.
Prof. Dr. Ernst Lichtenhahn lehrte Musikwissenschaft an der
Universität Zürich und lebt in Basel.
SB 4
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
LUCERNE FESTIVAL
Neuö Zürcör Zäitung
Die Blindheit sehen machen
Natur und Kunst heute – eine Beziehung innerer Komplizenschaft
Von Martin Seel
ein Gefühl der Naturgebundenheit aller kulturellen Praxis, aller gesellschaftlichen Organisation
und mit ihr aller Technik mit. Ihr wohnt ein Keim
der Bejahung der Grenzen aller Kultur und somit
wenigstens ein Hauch ökologischer Demut inne.
Auch wo ihr Gegenüber nicht in erster Linie
Naturlandschaft ist, führt sie uns ins Offene unserer naturverhafteten historischen Welt hinein.
Aus Gründen wie diesen hat Adorno in seiner
«Ästhetischen Theorie» dem «Kultus grossartiger
Landschaft» widersprochen, einem, wie er sagt,
«amusischen Verhalten», in dem der menschliche
Geist nur wieder die eigene Grossartigkeit feiert.
Die abstrakte Grösse der Natur wird hier zum
«Reflex des bürgerlichen Grössenwahns, des
Sinns für Rekord, der Quantifizierung, auch des
bürgerlichen Heroenkults.» Adorno erhebt hier
gegen einen Narzissmus der Naturbegeisterung
Einspruch, der die Erfahrung von Landschaft im
eigenen Herrschergestus erstickt.
Ein solcher Abstand von aller Selbstbeweihräucherung ihres und unseres Könnens charakterisiert die gegenwärtige Auseinandersetzung der
Kunst mit Natur. Darin entfaltet sie ihre Macht
und Magie. Sie verwandelt das kulturelle Drinnen
in ein metaphorisches Draussen und das natürliche Draussen in eine metaphorisches Drinnen.
Ohne Natur keine Kunst, aber auch:
ohne Kunst keine schöne Natur – da diese
nicht einfach ist, sondern erst im Widerschein der Kunst entsteht. Ein dialektischer Versuch.
Zur Selbstverständlichkeit wurde, so lässt sich in
Abwandlung eines berühmten Satzes von Theodor W. Adorno sagen, dass nichts, was die Natur
betrifft, mehr selbstverständlich ist. Längst ist es
ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, dass wir in
einem Zeitalter zunehmender ökologischer Krisen leben. Mit diesem Bewusstsein aber hat es
eine eigentümliche Bewandtnis. Mit jeder bedrohlichen Meldung flammt es auf, um sich bald
darauf wieder einem unruhigen Halbschlaf zu
überlassen. Dabei gibt es verstörende Umstände
genug, die geeignet wären, sich die ungewisse Zukunft der nicht-menschlichen wie der menschlichen Natur ungeschönt vor Augen zu führen.
Was aber haben diese ungemütlichen Erinnerungen mit der Kunst zu tun? Durchaus viel –
denn sie haben mit ihrer Ungemütlichkeit zu tun.
Wo sich die neuere und neueste bildende Kunst
mit Phänomenen der Natur befasst, lotet sie die
vielfältigen Irritationen des modernen Naturverhältnisses und Naturverständnisses durch verstörende Darbietungen aus.
DOPPELTE VORBILDLICHKEIT
«Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts,
was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist»
– so lautet der zu Beginn abgewandelte erste Satz
von Adornos «Ästhetischer Theorie» aus dem Jahr
1970. Die beiden Sätze aber, die Abwandlung und
das Original, gehören zusammen. Die Einsicht,
dass sie zusammengehören, ist ihrerseits alles
andere als selbstverständlich. Sie stellt vielmehr
das Ergebnis eines langen historischen Prozesses
dar. Denn erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich die Erkenntnis einer inneren, jedoch
stets heiklen und spannungsreichen Komplizenschaft zwischen Kunst und Natur durchgesetzt –
angetrieben durch vielfältige Entwicklungen der
künstlerischen Produktion und begleitet von einer
zunehmend sensiblen theoretischen Reflexion.
Die klassische Formulierung der Wechselwirkung von ästhetischer Natur und ästhetischer
Kunst freilich war schon knapp zweihundert Jahre
vorher geglückt. In § 45 seiner «Kritik der Urteilskraft» aus dem Jahr 1790 schreibt Immanuel
Kant: «Die Natur war schön, wenn sie zugleich als
Anzeige
Tschaikowsky-Sinfonieorchester des
Moskauer Rundfunks | Vladimir
Fedoseyev, Leitung | Claire Huangci,
Klavier | Vilde Frang, Violine
Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewusst sind, sie sei
Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.»
Worum es Kant hier geht, ist – schon damals – die
Auflösung der Frage, wer denn nun das Vorbild
ästhetischer Wahrnehmung und Herstellung sei:
die freie Natur oder die freie Kunst.
Kants Lösung liegt in der These einer doppelten Vorbildlichkeit der Natur für die Kunst und
der Kunst für die Natur. Die Gegenwart ästhetisch wahrgenommener Natur ist ein Vorbild der
inneren Lebendigkeit des Kunstwerks, die Imagination des Kunstwerks dagegen ist ein Vorbild
einer intensiven Wahrnehmung der Natur. Die
gegenseitige Befruchtung von ästhetischer Kunst
und ästhetischer Natur kommt zustande, wenn
Natur unter anderem wie gelungene Kunst und
Kunst unter anderem wie freie Natur wahrgenommen werden kann, ohne dass die Differenz
zwischen Kunst und Natur dabei ausgelöscht
wird. Nicht die im Schein der Kunst wahrgenommene Natur, nicht die im Schein der Natur wahrgenommene Kunst, den Dialog zwischen Kunst
und Natur erhebt Kant zur Norm eines ungezügelten ästhetischen Bewusstseins. Aber stets ist
dies unser Dialog. Er vollzieht sich in der Produktion wie in der Betrachtung von Kunst, sobald wir
uns spürend darauf einlassen, wie wenig selbstverständlich uns unsere Natur eigentlich ist.
Vor allem die bildenden Künste partizipieren
an diesem Dialog auf eine herausragende Weise.
In der Vielfalt ihrer Genres und Formen erzeugen
sie ganz verschiedenartige Reaktionen auf unsere
Reaktionen gegenüber der Natur. Ob es sich um
Malerei, Fotografie, Video oder Plastik handelt,
oder ob es Installationen sind, die einige ihrer
Verwandten ins eigene Gefüge integrieren – sie
alle lassen sich beunruhigen von dem ungesicherten und verletzlichen, sowohl von innen wie von
aussen gefährdeten Verhältnis, das gegenwärtige
Gesellschaften und Kulturen zu der Naturseite
ihrer Existenz unterhalten. Was die Auseinander-
setzung der Kunst mit ihrem Gegenpart antreibt,
ist das individuelle wie kollektive Selbstverhältnis
des heutigen Menschen, der sich an jedem zufälligen Winkel der Welt und in der Anschauung jedes
einzelnen künstlichen oder unbehandelten Dings
inmitten eines globalen Spiels übergreifender
sozialer und natürlicher Kräfte weiss – oder doch
wissen kann. Wo die künstlerische Gestaltung
dieses Kräftespiel auf die eine oder andere Weise
in Szene setzt – so kann man mit nur wenig Übertreibung sagen –, erforscht sie den Landschaftscharakter unserer Beziehungen zur Natur:
Aspekte des Umstands, dass wir uns in unserem
Tun und Lassen in Sphären bewegen, von denen
wir wissen, dass sie den Horizont unserer Wahrnehmungsfähigkeit immer auch übersteigen.
EIN HAUCH ÖKOLOGISCHER DEMUT
Im klassischen Verständnis ist Landschaft diejenige Zone, in der die Erfahrung des Naturschönen kulminiert. Jedoch ist die Erfahrung von
Landschaft keineswegs an Schauplätze weitgehend unberührter oder parkähnlich inszenierter
Natur gebunden; sie kann sich beliebig einer Vergegenwärtigung domestizierter und städtischer
Areale öffnen. Ohnehin ist daran zu erinnern,
dass beinahe alle heutigen Landschaften, auch
diejenigen weit am Rand der Zivilisation, nie nur
Natur sind, sondern immer auch, obzwar in ganz
unterschiedlichem Mass, Legierungen von Natur
und Kultur darstellen. Zugleich aber ist das Gefüge jeder Landschaft, selbst dasjenige im Raum
einer grossen Stadt, allein durch den Einfluss von
Wind und Wetter, immer auch ein Zustand und
Geschehen der Natur. Eine jede, wie geprägt und
umstellt sie von den Werken des Menschen auch
sein mag, bietet dem ästhetischen Sinn ein im
Ganzen ungelenktes Schauspiel der Fülle und
Veränderung. Zugespitzt kann man deshalb sagen, dass Natur die Natur der Landschaft ist.
Anders gesagt: In der Erfahrung von Landschaft, wo immer sie sich zutragen mag, schwingt
VERWEIGERUNG DES ÜBERBLICKS
Diese Verwandlungen erlauben es der Kunst, auf
vielfältige Weise an die Grenzen ihrer und unserer Natur zu gehen. Die Malerei lässt im Binnenraum ihrer Flächen Bezüge sichtbar werden, die
mit dem Aussenraum – sowohl des Bildes selbst
als auch der Bildmotive – stillschweigend korrespondieren. Die Fotografie stellt darüber hinaus
das Rätsel, was jenseits der Ausschnitte ihrer
Aufnahmen lag. Das künstlerische Video verweigert das Heimischwerden in einer erzählten Welt.
Skulptur und Objektkunst lassen keinen eindeutigen Standpunkt gegenüber ihren Gestaltungen
zu. Die Kunst der Installation stülpt in ihrem Bezirk das Antlitz der äusseren Welt nach innen und
das der Inneren nach aussen. Alle diese Künste
führen vor, was sich uns entzieht. Sie schaffen
Orte der Ortlosigkeit gegenüber unseren scheinbar vertrauten Orten. Sie bringen in ihrem Erscheinen die unsichtbaren Seiten des menschlichen Weltverhältnisses ans Licht. Darin liegt
ihre zentrale Reminiszenz an des Menschen undurchsichtige Stellung in und zu den vielfältigen
Dimensionen von «Natur». Denn auch ihr, der
Natur, sieht man oft genug nicht an, wie sie auf
uns wirkt und was wir mit ihr bewirken.
Es ist dieses im Kern gesellschaftliche Verhältnis, auf das die künstlerische Bildpolitik der Natur
reagiert. Auf dem Weg einer Bildstörung unterbricht sie jede selbstgewisse Handhabung der Differenz von Natur und Kultur. Wie in der entfesselten Erfahrung von Landschaft führt sie vor
Augen, dass sich jede noch so grosse Weitsicht in
einer Unschärfe verliert, die nur die Kehrseite
unserer Klarheit ist. Sie verweigert den Überblick
am nachdrücklichsten dort, wo wir meinen, einen
Überblick zu haben. Nicht nur die Natur geht
über unseren Horizont, auch die Kunst kann ihn
überschreiten. In den besten Fällen lässt sie uns
unsere Blindheit sehen.
Prof. Dr. Martin Seel lehrt Philosophie an der Universität Frankfurt a. M.
Junge Interpreten – grosse Komponisten
ORPHEUM
Extrakonzert zur Förderung
junger Solisten |19. August 2009 |
19.30 Uhr | Tonhalle Zürich
Künstlerische Leitung:
Howard Griffiths
Programm:
Edvard Grieg:
Auszüge aus «Peer Gynt»
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Edvard Grieg:
Konzert für Klavier und Orchester,
a-Moll, op. 16
Sergej Prokofjew:
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1,
D-Dur, op. 19
Peter I. Tschaikowsky:
Fantasie-Ouvertüre zu
«Romeo und Julia»
Vorverkauf:
Ticketcorner via 0900 800 800 (max. Fr. 1.19/min),
übers Internet: www.ticketcorner.com, sowie bei
allen Ticketcorner-Vorverkaufsstellen.
Tonhallekasse 044 206 34 34, BiZZ 044 221 22 83,
Jecklin Musikhaus 044 253 76 76, Jelmoli City
044 220 44 66, Migros City 044 221 16 71,
Musik Hug 044 269 41 00 sowie bei der Orpheum
Stiftung 044 381 12 22
Orpheum Stiftung zur Förderung
junger Solisten, Zürich.
www.orpheum.ch
Chaos und Ordnung
«Les Eléments», eine «Symphonie de danse» von Jean Fery Rebel
Von Rudolf Bossard
«L'introduction à cette Simphonie étoit naturelle;
C'étoit le Cahos même, cette confusion qui régnoit
entre les Elemens avant l'instant ou, assujettis à
des lois invariables, ils ont pris la place qui leur est
prescrite dans l'ordre de la nature.» Diese Erklärung zu «Chaos», dem ersten Satz seiner Symphonie nouvelle «Les Eléments», formulierte Jean
Fery Rebel in der Vorrede zum Erstdruck, der um
1738 in Paris erschien. Das Naturverständnis, das
hier zum Ausdruck kommt, stützt sich auf kosmogonische Vorstellungen, die in der Antike wurzeln,
und verrät zugleich seine Verankerung im Denken
der Aufklärung: Chaotisch hatten die Elemente
gewirkt, bevor sie den Platz bezogen, den ihnen
die unveränderlichen Gesetze der Natur vorschrieben. In der Musik von «Chaos» hat Rebel
den allmählichen Wandel vom Chaos zur Ordnung
überaus plastisch in Töne gesetzt.
EIN FRÜHER CLUSTER
Wer war Jean Fery Rebel? 1666 als Wunderkind
in eine Musikerdynastie hineingeboren, machte
er rasch Karriere, vorab als Geiger und Orchesterleiter. Lange war er Mitglied der 24 Violons du
Roi, denen er ab 1717 vorstand. Zwischen 1718
und 1733 leitete er das Orchester der Académie
royale de musique. 1747 starb er in Paris. Sein
Œuvre umfasst musikdramatische Werke, vor
allem jedoch Instrumentalmusik. Mit über 70 Jahren komponierte Rebel «Les Eléments», sein letztes Werk. Dabei handelt es sich um eine Symphonie de danse. Diese Bezeichnung betrifft allerdings nicht «Chaos», den Eröffnungssatz; getanzt
wird erst in den neun Sätzen, die auf «Chaos» folgen. Ursprünglich war das Werk getrennt. Die
Tanzsätze wurden 1737 aus der Taufe gehoben;
ein Jahr später erlebte «Chaos» die erste Aufführung. Im Druck fügte Rebel «Chaos» und die
Tanzsätze zu seiner «Symphonie nouvelle» zusammen. Das Werkganze lässt sich als Suite verstehen, «Chaos» fungiert dabei als Prolog.
Zu Beginn von «Chaos» wartet Rebel mit
einem spektakulären Effekt auf: Da bricht im
Forte ein krass dissonanter Akkord aus, wahrlich
chaotisch. Das Chaos besitzt aber das Potenzial
zur Ordnung. In Rebels Tontraube, die aus allen
sieben Tönen der Harmonisch-Moll-Skala besteht, werden zwei Akkorde miteinander verschränkt, die an sich aufeinander folgen müssten
im Sinne eines Kadenzschrittes. Der eine Teil des
Doppelakkords ist ein verminderter Septakkord
der VII. Stufe; die Auflösung läge im andern Teil,
dem d-Moll-Tonika-Akkord. Mit andern Worten,
aus dem Chaos muss Ordnung entstehen, indem
aus dem Miteinander ein Nacheinander wird.
Zu einem Zwischenziel auf seinem Weg gelangt der Komponist am Ende des ersten der sieben ineinander übergehenden Abschnitte des
Satzes: Vier strenge d-Moll-Akkorde markieren
diese Zäsur. Der Dur-Dreiklang, musikalisches
Abbild göttlicher Harmonie, verbietet sich einstweilen, denn das Ziel ist noch nicht erreicht. So
sind die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer,
die ab dem zweiten Abschnitt des Chaos-Satzes
das Geschehen bestimmen, zwar voneinander getrennt, sie gebärden sich aber noch chaotisch-un-
gezügelt und versuchen, einander zu übertrumpfen. Dabei werden sie mittels klar identifizierbarer musikalischer Muster vorgeführt.
Dem chaotischen Wirken der Elemente entsprechend verläuft die Musik sprunghaft. Dies
manifestiert sich besonders in abrupten Wechseln
der Tonart («confusion de l'harmonie»). Vom
Chaos zeugen zudem jene Forte-Tremoli in den
Streichern, die sich bereits im ersten Abschnitt
dem Ohr eingeprägt haben; mit roher Gewalt
stürzen sie jeweils herein. Erst im siebten Abschnitt kehrt Ordnung ein, die Elemente werden
nunmehr gebändigt und voneinander entflochten
(«débrouillement»). Jetzt ist es an der Zeit, dass
das Dur – nach ersten Ansätzen im fünften Abschnitt – sich endgültig gegen das Moll durchsetzt.
UNTERWERFUNG DER NATUR
Auch in etlichen der neun Tanzsätze sind die Elemente gegenwärtig: So repräsentieren in der eröffnenden Loure die Streicher die Erde und die
Flöten das Wasser; in der darauf folgenden Chaconne entwickelt sich eine fröhliche Feuer-Musik
über ostinaten Bassfiguren. In «Ramage» (Vogelgezwitscher) findet die Luft ihre Umsetzung;
ohne Bassfundament musizieren Piccolo-Flöten
und Violinen. Dabei offenbart sich eine stilisierte
Natur; die Vögel singen strikt im Dreiertakt.
Rebel hat mithin ein musikalisches Pendant geschaffen zur französischen Gartenarchitektur der
Epoche: Nachahmung der Natur fordert deren
Unterwerfung unter die Gesetze der Raison.
Der Musikwissenschafter Dr. Rudolf Bossard lebt in Luzern.
Neuö Zürcör Zäitung
LUCERNE FESTIVAL
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
SB 5
Klänge in Bewegung
Musik und Raum, Musik im Raum – von der Mehrchörigkeit zu Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono
Von Daniel Ender
Die Musikwissenschafterin Gisela Nauck unterscheidet in ihrer umfassenden Studie «Musik im
Raum – Raum in der Musik» drei Aspekte, die
sich durch die Gestaltung des räumlichen Klangs
veränderten. Nicht nur wurde die Trennung der
traditionellen Zeitkünste Musik, Dichtung und
Theater sowie der Raumkünste Malerei und
Architektur in Frage gestellt, sondern es begannen mit der räumlichen Komponente der Kompositionen «individuelle Klangtopologien die musikalische Gestalt einer Komposition unmittelbar
mitzuformen». Schliesslich entstand durch die
räumliche Verteilung von Schallquellen eine neue
Hörsituation, weil die traditionelle Trennung zwischen Bühne und Auditorium aufgehoben wurde.
Selbst wenn sie nicht im Raum erklingt,
schafft Musik stets Raum. Im Lauf der
Geschichte ist das von den Komponisten
ganz verschieden genutzt worden, heute
steht der Raum im Zentrum dieser Kunst.
Wenn sich Tamino und Papageno gegen Ende des
ersten Akts der «Zauberflöte» aus den Augen
verlieren, hilft ihnen nur noch die Musik. Die
schlichten Tonsignale ihrer Instrumente, mit denen sie sich erkennen und wiederfinden, weisen
dabei weit in die Urgeschichte zurück: Als die
Menschen einst damit begannen, einander über
weite Entfernungen zuzurufen und diese Rufe zu
stilisieren, entstanden archaische musikalische
Muster. Man muss nicht gleich die Herkunft der
gesamten Tonkunst in diese Verständigungsmittel
hineinprojizieren, wie es der Philosoph und Wegbereiter der modernen Musikpsychologie Carl
Stumpf versuchte, um sie als eine der wichtigsten
Wurzeln aller Musik zu begreifen.
UMFASSENDE VERRÄUMLICHUNG
DER RAUM ZWISCHEN DEN TÖNEN
Von den Wechselgesängen des gregorianischen
Chorals bis zu avantgardistischen Klängen der
Gegenwart gibt es kaum Musikwerke, denen
nicht – mehr oder weniger offensichtlich –
Dialoge einander antwortender Elemente eingeschrieben sind. In den Musikformen aller Zeiten
und Völker spielten solche Abfolgen von Zuruf
und Antwort eine wesentliche Rolle. Auch als
sich die afrikanischen Sklaven in den Vereinigten
Staaten mit den Spirituals ihre eigene Ausdruckswelt schufen, spiegelte sich im Call-ResponsePrinzip die Überwindung räumlicher Distanz
durch musikalische Kommunikation wider.
Die Beziehungen zwischen Raum und Musik
sind so komplex, wie es die vielfältige sprachliche
Verwendung des Begriffs «Raum» nahelegt. So
kann er nicht nur den physischen Ort bedeuten,
an dem Musik erklingt, sondern musikalische
Vorstellungen bis in innerste Strukturen begleiten: Nachdem die mittelalterliche Musiktheorie
damit begonnen hatte, die Intervalle als «Raum
zwischen den Tönen» zu begreifen, gelang Guido
von Arezzo im 11. Jahrhundert jene entscheidende Neuerung, auf die sich die Notenschrift bis
heute stützt.
Seit der Benediktinermönch und Erfinder der
Solmisation räumliche Vorstellungen zu Hilfe
nahm, um das Tonsystem in Form von Linien zu
repräsentieren, haben die Metaphern «hoch» und
«tief» das Sprechen über Musik begleitet. Dabei
entstand freilich eine begriffliche Unschärfe, die
sich bis in die Gegenwart auswirkt. Denn lange ging
es bei räumlichen Wortbildern über Musik weniger um die Bewegung der Töne durch einen realen
als um jene durch einen nur imaginierten Raum.
QUER DURCH DIE KATHEDRALEN
Dies sollte sich im 16. Jahrhundert entscheidend
ändern, als die venezianische Schule rund um
Andrea und Giovanni Gabrieli systematisch damit begann, mehrchörige Musik zu komponieren.
Nachdem schon die beiden Orgeln der Basilika
von San Marco auf einander gegenüberliegenden
Emporen zum Wechselspiel genutzt worden waren, lag es nahe, dieses Muster auf die Vokalmusik
zu übertragen. Die Mehrchörigkeit erlaubte es,
das neue Raumempfinden der Renaissance, das
mit der Erforschung der Planetenbewegung und
der Erkundung der perspektivischen Malerei einherging, auch musikalisch auszudrücken. Bis zu
vier Chöre konnten im Kirchenraum verteilt werden. Ihre unterschiedliche Besetzung und die
Kombination mit Instrumenten führten zu wirkungsvollen Wechseln in der Klangfarbe, zu dynamischen Abstufungen, Echoeffekten sowie, nicht
zuletzt, zur Entwicklung des barocken Prinzips
konzertierender Musik.
Dass dabei erstmals in der Geschichte nicht
nur für die spezifischen Möglichkeiten bestimmter Räume komponiert wurde, sondern der räumliche Aspekt auch einen konstitutiven Aspekt in
der Erfindung musikalischer Fakturen bildete,
blieb indes ein Sonderfall, an den erst wieder
Musiker des 20. Jahrhunderts anknüpfen sollten.
Denn die enge Verbindung zwischen Architektur
und Musik ging offenbar dadurch wieder verloren, dass sich die Komponisten darauf verlegten, die anhand konkreter Raumverhältnisse ersonnenen mehrchörigen und konzertierenden
Musizierweisen innerhalb musikalischer Verläufe
wie im Concerto grosso des Barock und im Solokonzert der Klassik auszutragen.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts scheint dann
allerdings ein geschärftes Bewusstsein für den
Raum und seine akustische Eignung entstanden
zu sein. Einen Kulminationspunkt stellt diesbezüglich das Festspielhaus von Bayreuth dar, das
als idealer Aufführungsort von Wagners Musikdramen konzipiert war – mit einer Akustik, die
sich für andere Musik weit weniger eignet, aber
Massstäbe für die Balance zwischen Klang und
Raum setzte.
Von da war es nur ein weiterer Schritt zu den
komponierten Raumklängen, etwa zu der gesteigerten Sensibilität für räumliche Momente im
Werk Mahlers mit seinen Fernorchestern und
minuziösen Spielanweisungen, die selbst die Richtung festlegten, in die etwa die Schalltrichter der
Bläser zeigen sollten. Erst nach 1950 gelang allerdings eine «Wiederentdeckung der Funktion des
Raumes», wie es Karlheinz Stockhausen in Anspielung an die Mehrchörigkeit der Renaissance
formulierte. In seinem «Gesang der Jünglinge»
für fünf rund um den Hörer im Raum verteilte
Lautsprechergruppen unternahm er es erstmals,
die Ausrichtung des Schalls und die Bewegung
des Klangs durch den Raum aktiv zu beeinflussen.
Dass die neuen Möglichkeiten der elektronischen Musik per se ein verändertes Raumverständnis mit sich bringen mussten, lag auf der
Hand, so dass Stockhausen vom Raum als einem
«fünften Parameter» in der Komposition sprach,
den er neben der Tonhöhe, der Dauer, der Klangfarbe und der Dynamik als eigenständige Ebene
der Erfindung behandeln wollte. Pierre Boulez
sah in der Elektronik zwar ebenfalls einen entscheidenden Schritt und hielt fest, dass es in der
Musikgeschichte nur selten eine radikalere Entwicklung gegeben habe; anders als Stockhausen
sprach er jedoch vom Raum als einer «fünften
Dimension», die weniger eine substanzielle als
vielmehr eine verdeutlichende Funktion für die
«Anordnung von Strukturen» habe.
Wenn sich wesentliche Exponenten der seriellen Musik in der Theorie nicht ganz einig waren,
liegt das an der Vielschichtigkeit des Phänomens.
Dezidiert «die Regeln des kollektiven Hörens erneuern und eine wechselseitige Beziehung zwischen Komponist, Hörer und dem neuen Musikstil herstellen» wollte auch Luciano Berio, als er
in seinem «Allelujah II» fünf Orchestergruppen
um das Publikum im Raum verteilte. Während
Iannis Xenakis in «Metastaseis» eine ähnlich
bahnbrechende neue Gruppierung der Orchesterinstrumente realisierte, schlug er zugleich den
Bogen zurück in die Geschichte, indem er Strukturen dieses Werks als mathematische Grundlage
für die Architektur des Philips-Pavillons bei der
Brüsseler Weltausstellung 1958 verwendete.
Ebenfalls auf die Musik des 16. Jahrhunderts
bezog sich der Venezianer Luigi Nono, auch wenn
er sich von ihr deutlich absetzen wollte: «Die
Pingpong-Auffassung, bei der die Musik von
rechts nach links und von links nach rechts wechselt, ist meiner Musik fremd. Ich setze den Klang
räumlich zusammen durch die Benutzung verschiedener, im Raum getrennter Ausgangspunkte.» Nono bewerkstelligte dies mit Hilfe des
«Halaphons» von Hans Peter Haller, das die Bewegung der Klangquellen im Raum ermöglichte
und die elektronische Musik in seinen späten
Kompositionen so berückend macht.
Seien es die visionären Werke der seriellen
Musik, theatralische Experimente, die Klangfarben und Obertonharmonien, die von den französischen Spektralisten auskomponiert und in den
Raum projiziert wurden, oder die unzähligen, bis
in die jüngste Gegenwart immer wieder neuen
Klanginstallationen, Klangskulpturen und Performances: Die umfassende Verräumlichung ist
vielleicht die wesentlichste Tendenz der jüngsten
Musikgeschichte quer durch ihre stilistische Vielfalt und lässt neue Musik – trotz ihrer angeblichen
Sperrigkeit – als überaus sinnlich erscheinen.
Der Musikwissenschafter und Musiker MMag. Daniel Ender lebt
als Publizist in Wien.
Warme Klänge aus dem hohen Norden
Die finnische Komponistin Kaija Saariaho
Von Theo Hirsbrunner
Unter den zahlreichen musikalisch Hochbegabten, die in den letzten Jahren aus Finnland gekommen sind, ragt die Komponistin Kaija Saariaho
besonders hervor. Unvergesslich bleibt ihre Oper
mit dem Titel «L'amour de loin», die an den Salzburger Festspielen 2000 uraufgeführt wurde. Die
Geschichte um den Troubadour Jaufré Rudel, der
die Gräfin Clémence von Tripoli allmählich zu
lieben beginnt, ohne sie gesehen zu haben, der
über das Meer zu ihr fährt und schliesslich in
ihren Armen das Leben aushaucht, hatte etwas
menschlich tief Berührendes, nicht nur wegen des
zauberhaften Soprans von Dawn Upshaw, sondern auch wegen einer zart einschmeichelnden,
träumerischen Musik, die erstmals in der Musikgeschichte die spektrale Kompositionstechnik in
der Oper anwandte.
OBERTONWELTEN
Um diesen frühen Erfolg zu erklären, lohnt es
sich, einen Blick auf Saariahos Studien und ihre
mannigfachen Begabungen zu werfen. 1952 in
Helsinki geboren, zeigte sie schon bald neben
dem Komponieren Neigungen zum Malen und
Zeichnen. Sie studierte Wassily Kandinskys theoretische Schriften und versuchte, deren Prinzipien
auf die Musik anzuwenden. Noch heute beginnt
der Entwurf eines neuen Werks oft mit einer
Zeichnung. Die optische und die akustische
Sphäre gehen zwanglos ineinander über.
In Freiburg i. Br. wurde Saariaho Schülerin
von Brian Ferneyhough und Klaus Huber, ohne
sich je stark von ihnen beeinflussen zu lassen oder
das Bedürfnis zu empfinden, sich von ihnen scharf
abzugrenzen. Ein Konflikt zwischen der jüngeren
und der älteren Generation fand nicht statt. Kaija
Saariaho ging ihren Weg und fand erst in Paris bei
Gérard Grisey und Tristan Murail Vorbilder,
denen sie bis zu einem gewissen Grad folgte.
Sie studierte die spektrale Technik, die darin
besteht, nicht mit Tönen, sondern ganz einfach
die Töne selbst zu komponieren: aus nur leise gehörten Obertonschwingungen, die eine Aura um
den in sich ruhenden Klang bilden. Dazu gehörte
eine genaue Analyse mit der Hilfe von Computern, wie sie im Institut de recherche et de coordi-
nation acoustique/musique, in dem von Pierre
Boulez gegründeten Ircam in Paris, zur Verfügung stehen.
Wissenschaftliche und künstlerische Arbeit
durchdringen sich auf eine zuvor kaum geahnte
Weise. Der Tatsache bewusst, dass ein durch den
Computer generierter Ton nie dieselbe Lebendigkeit ausstrahlen kann wie der Ton eines von
menschlicher Hand gespielten Instruments oder
die menschliche Stimme selbst, schafft Saariaho
doch eine Verbindung von traditionellen Klangquellen mit der Maschine. Die Komponistin musiziert mit dem Computer und gewinnt der atonalen Musik ein von Werk zu Werk unterschiedliches, sehr prägnantes Profil ab – nicht zuletzt
aus dem einfachen Grund, weil ihre Stücke auch
literarisch tief inspiriert sind, durch Saint-John
Perse zum Beispiel oder durch den Klang der
alten provenzalischen Sprache.
Lucerne Festival, wo sie diesen Sommer als
Komponistin in Residenz eingeladen ist, präsentiert eine ganze Reihe jener gemischten Stücke.
Entstanden aus genuin musikalischer Intuition
und technischem Know-how, sind sie der Beweis
für die Lebensfähigkeit der Musik auch im Zeitalter des Internets. Weit davon entfernt, die
moderne Technologie zu verschmähen, schafft
Kaija Saariaho eine Klangwelt aus Charme und
Mysterium, die man lange nicht für möglich hielt,
die unter den Händen dieser Komponistin jedoch
wie von selbst gelingt.
sich bringt, seinen Vater, den Vergewaltiger, zu
töten. Alt und schwach und blind geworden, erweckt der ehemalige Wüstling nur Mitleid. Der
Rache von Generation zu Generation, die in der
Sage von den Atriden unerbittlich ihr Werk tut,
wird Einhalt geboten im Namen einer milden,
verzeihenden Humanität. Obwohl «Adriana Mater» nicht ein so durchschlagender Erfolg wurde
wie «L'amour de loin», strahlt sie doch ein überlegenes Ethos aus, das über Saariahos Arbeit zu
Simone Weil weiterleuchtet.
Als Composer in Residence bei Lucerne Festival ist die immer noch in Paris lebende Kaija
Saariaho längst keine Anfängerin mehr. Sie hat
vielmehr schon wichtige Etappen des Erfolgs hinter sich und wird ihrem Publikum eine Reihe von
kostbaren musikalischen Erfahrungen vermitteln
können.
Der Musiktheoretiker und Musikwissenschafter Dr. h. c. Theo
Hirsbrunner lebt in Bern.
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ETHISCHE MUSIK
Während ihre Oper «L'amour de loin» in der Inszenierung von Peter Sellars nach der Uraufführung in der Salzburger Felsenreitschule in Paris,
in Bern, Santa Fe und Helsinki nachgespielt
wurde, dachte sie, ermutigt durch den Intendanten Gerard Mortier, schon an ein weiteres Werk,
das an der Opéra Bastille in Paris im Jahr 2006
gegeben werden sollte. «Adriana Mater» erzählt
von einer Frau, die während eines Bürgerkriegs
vergewaltigt wird, sich aber entschliesst, das dabei
empfangene Kind auszutragen; sie entdeckt mit
Freude, dass ihr Sohn, zum Mann herangewachsen, nicht als Totschläger taugt, da er es nicht über
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SB 6
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
Neuö Zürcör Zäitung
LUCERNE FESTIVAL
Eine Idee, ihre Genese und ihre Geschichte
Musik im Raum – das Konzept der Salle modulable im Schaffen des Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez
Von Luisa Bassetto
Im Grundsatz geht die Idee der Salle
modulable auf Pierre Boulez zurück. Sie
ist in der Musikgeschichte des späteren
20. Jahrhunderts, aber auch ganz direkt
im Schaffen des Komponisten verankert.
Die Anfänge des ambitionierten und innovativen
Projekts reichen bis in die siebziger Jahre zurück
– und nun scheint tatsächlich die Zeit gekommen,
da es verwirklicht wird. Dank der Initiative von
Michael Haefliger, dem Intendanten von Lucerne Festival, und dank der Unterstützung
durch eine Reihe von Mäzenen wird in Luzern
eine Salle modulable entstehen – ein Raum,
dessen Konfiguration, wie die Bezeichnung andeutet, in ganz unterschiedlicher Weise gestaltet
werden kann. Ein Ort mit einer solchen Technologie wird den verschiedensten Anforderungen
von Komponisten und Regisseuren genügen können, und zugleich wird er zu einer Schmiede werden können, in der neue Ideen zur Verteilung des
Klangs und der szenischen Aktion im Raum entwickelt werden.
Ziel des Projekts von 1968 war eine tiefgreifende Reform der beiden nationalen Opernbühnen, des Théâtre de l'Opéra im Palais Garnier und der Opéra-Comique, denen damals
Georges Auric als Direktor vorstand. Allein,
nach der berühmten Fernsehansprache von General de Gaulle, dem Aufflammen der Studentendemonstrationen und der mit ihnen verbundenen
Streikwelle gab Jean Vilar am 30. Mai 1968 dem
damaligen Kulturminister André Malraux seine
Demission als Direktor des TNP bekannt; die
übrigen Mitglieder der Projektgruppe unterstützten Vilars Vorgehen, und das Projekt kam zum
Stillstand. Boulez nahm die dort diskutierten
Ideen später in reduzierter Form wieder auf, als
er im Espace de projection des Institut de recherche et de coordination acoustique/musique
(Ircam) mit einer Art Salle modulable experimentieren konnte.
Es war dieser Denkansatz, den Mitterrand ein
gutes Jahrzehnt später für die Opéra-Bastille in
Paris wiederaufnahm. Im Frühjahr 1982 setzte
Jack Lang, Kulturminister der Regierung Mauroy,
eine Kommission ein, die unter dem Vorsitz von
Maurice Fleuret, dem Directeur de la Musique et
de la Danse im Kulturministerium, zu definieren
hatte, was das sei: «un théâtre d'opéra moderne et
populaire». Die Mitglieder der Kommission wa-
WURZELN IN PARIS
Die Idee eines neuen Theaterraums für Luzern
beschäftigte Michael Haefliger schon seit einiger
Zeit, den definitiven Anstoss erhielt sie jedoch
durch ein Zusammentreffen mit Pierre Boulez,
der Haefliger von seinen und Patrice Chéreaus
Vorschlägen für eine Salle modulable erzählte,
die ins Gebäude der Opéra-Bastille in Paris hätte
aufgenommen werden sollen. Diese Vorschläge,
die damals Papier blieben, bilden ein zentrales
Element des Luzerner Projekts.
Doch wie hat sich die Idee einer Salle modulable in der Opéra-Bastille entwickelt, und
warum ist sie nicht zur Verwirklichung gelangt?
Während seines ersten Septennats, 1981–1988,
nahm der französische Präsident François Mitterrand ein altes Projekt von Pierre Boulez und Jean
Vilar auf; es stammte aus dem Jahre 1968 und
skizzierte den Bau eines neuen Theaters in Paris.
An dem Projekt von 1968 beteiligt waren neben
Boulez und Vilar – der damals das Théâtre National Populaire (TNP), das ehemalige Théâtre du
Palais de Chaillot, und das Festival von Avignon
leitete – auch der Choreograf Maurice Béjart und
Ernest Fleischmann, Direktor des London Symphony Orchestra, der ab 1969 in gleicher Position
beim Los Angeles Philharmonic tätig war.
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KONGRESSE, FAMILIENFEIERN, KULINARISCHE HÖHEPUNKTE ODER EINFACH
FÜR EINZIGARTIGE MOMENTE VOR, WÄHREND UND NACH DEN KONZERTEN.
ren sich einig in der Notwendigkeit, den grossen
Saal der Opéra-Bastille mit einer Reihe ergänzender Spielstätten zu umgeben, insbesondere
einem kleinen Saal à l'italienne und einem experimentell ausgerichteten Raum für zeitgenössische Stücke. Im Reglement für den Wettbewerb,
der 1983/84 für die Errichtung des Baus durchgeführt wurde, erschien bereits der Ausdruck
«Salle modulable» für jenen Ort, der eine veränderbare Raumkonfiguration ermöglichen sollte.
Wenige Monate nach der Einweihung der
Opéra-Bastille am 13. Juli 1989 sprach Mitterrand den Wunsch aus, dass auch ihre Salle modulable, von der bloss eine äussere Hülle stand, weil
die Entscheidungen über ihre technische Einrichtung noch nicht gefällt worden waren, vollendet
werden möge. Die Eröffnung dieser Salle modulable war für die Saison 1991/92 vorgesehen, doch
wurde das Projekt, das damals Pierre Bergé als
dem Präsidenten der Opéra-Bastille anvertraut
war, aus finanziellen Gründen nie realisiert. Die
Ernennung von Bergé an die Spitze der Pariser
Oper erzeugte enorme Spannungen; sie führte zur
Entfernung von Daniel Barenboim und zu den
Rücktritten von Boulez und Patrice Chéreau,
welche die Eröffnungsproduktion hätten leiten
sollen. Heute wird das, was die Salle modulable
hätte werden sollen, als «Salle Rolf Liebermann»
für Orchesterproben verwendet.
Die von November 1989 stammende Projektbeschreibung für eine Salle modulable an der
Opéra-Bastille stellt im Detail die verschiedenen
Aspekte dieses Saals vor und ist damit fundamental für das Verständnis dessen, was in Luzern geplant ist. Im Wesentlichen sieht sie einen architektonisch neutralen Saal vor, der sowohl räumlich als auch, und durchaus davon unabhängig,
akustisch modifiziert werden kann. Die Akustik,
das heisst die Nachhallzeit, wird entweder durch
die Veränderung des Raumvolumens oder aber
durch Modifikationen an den schallschluckenden
Materialien auf den Wänden beeinflusst. Die
Wände sind mit Paneelen bedeckt, die eine absorbierende und eine reflektierende Seite aufweisen.
Der Saal selbst bietet eine Vielfalt räumlicher
Dispositionen – je nach der Art der Produktion
oder nach der Zahl der Besucher, die zwischen
400 und 1200 variieren kann. Eingerichtet werden
kann zum Beispiel eine frontale Disposition mit
einer Bühne und einem Orchestergraben für traditionelle Operninszenierungen, aber auch ein
Amphitheater mit Spielfläche in der Mitte. Selbst
in zwei autonome, akustisch voneinander abgeschirmte Teile kann der Saal getrennt werden.
Der Boden besteht aus 55 Elementen, die mit
Hilfe von Motoren auf die verschiedensten Höhen ausgefahren werden können. Die Decke enthält eine Vielzahl technischer wie akustischer
Elemente; zudem ist sie mit einer tragenden Konstruktion versehen, die über die ganze Fläche
reicht und zum Beispiel Züge und Beleuchtungskörper aufnimmt. So hätte die Salle modulable,
integriert in den Komplex der Opéra-Bastille, zur
Entwicklung von Synergien zwischen dem traditionellen Opernbetrieb und eher experimentell
ausgerichteten Produktionen beitragen können.
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Der Wunsch von Komponisten und Theaterleuten nach einem flexiblen Raum ergibt sich aus
den ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Ende der 1950er Jahre hatte Pierre Boulez
die Gelegenheit, Werke zu dirigieren, die in besonderer Weise mit der Verräumlichung des
Klangs arbeiten – unter ihnen die «Gruppen» von
Karlheinz Stockhausen (Köln 1958), die «Rimes
pour différentes sources sonores» von Henri
Pousseur und «Allelujah II» von Luciano Berio
(beide Donaueschingen 1959). Die Erfahrung als
Dirigent schlug sich bei Boulez wiederum in zahlreichen Werken mit räumlicher Komponente nieder, zum Beispiel in «Poésie pour pouvoir»
(1958), «Pli selon pli» für grosses Orchester
(1957–62), Domaines für Klarinette und sechs
Instrumentengruppen (1961–68), später dann in
«Répons» (1981), «Dialogue de l'ombre double»
(1985) oder «Anthèmes II» (1997). Schliesslich
wurde die Frage der Verräumlichung von Boulez
im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse für
neue Musik 1960 einer detaillierten Analyse
unterzogen, die drei Jahre später unter dem Titel
«Penser la musique aujourd'hui» erschien.
Entscheidend war für Boulez aber auch die
Erfahrung im Theater. Zehn Spielzeiten lang,
zwischen 1946 und 1955, hat Boulez als Musikdirektor in der Truppe von Jean-Louis Barrault
mitgewirkt. Unter den Autoren, denen Boulez in
der Folge besondere Aufmerksamkeit schenkte,
fanden sich Antonin Artaud und Paul Claudel,
die beide dem «Vergnügungstheater» westlicher
Provenienz das rituelle Theater östlicher Herkunft entgegensetzten; wie im japanischen NoTheater sollte da eine Dichtung im Zentrum stehen, die nicht nur aus Worten, sondern ebenso aus
Raum und Bewegung gebildet sein sollte, auf dass
alle Ausdrucksmittel auf das einzige Ziel eines
Ritus hinsteuerten, in dem die Essenz des Lebens
selbst abgebildet wäre. Auch Jean Genet bewunderte Boulez, insbesondere die bildnerischen Elemente in seinem Theater; Genet hatte er auch als
Librettisten für seine bis heute nicht geschriebene
Oper auserwählt. Und nicht zuletzt ist an das berühmte «Spiegel»-Interview von 1967 zu erinnern,
in dem Boulez empfahl, die traditionellen Opernhäuser, in denen moderne Opern nicht in geeigneter Form zur Aufführung gebracht werden könnten, in die Luft zu sprengen.
EINE KOMPOSITION ALS QUELLE
Eine besonders interessante Quelle für die Entwicklung der theatralischen Vorstellungen von
Boulez in jenen Jahren, aber auch für seine Ideen
zur Aufstellung der Musiker im Raum stellt das
unvollendete Stück «Marges» dar, eine Komposition für Schlagzeugensemble, an der Boulez von
1961 bis 1968 arbeitete. Die Skizzen zu dem Werk,
die in der Paul-Sacher-Stiftung Basel aufbewahrt
werden, lassen das Bemühen erkennen, das Ensemble in verschiedenen Arten zu positionieren
und mit der Verteilung der Klangerzeuger im
Raum zu arbeiten, um so zu einer allerdings abstrakten musikalischen Inszenierung zu kommen.
Das Räumliche bildet einen ganz wesentlichen
Teil in der Konzeption von «Marges». Der Komponist verwendet viel Mühe darauf, eine optimale
Lösung für die Verteilung der Klangquellen im
Raum zu entwickeln. Unter den Lösungsansätzen
findet sich auch einer, der die Instrumentalisten
durchgehend den Wänden entlang aufstellt, um
dem Klang die Möglichkeit zu geben, sich in einer
besonderen Weise im Raum zu entfalten. Was
sich hier, in «Marges», nur im Ansatz findet, werden andere Kompositionen von Boulez später
aufnehmen und weiterentwickeln.
Zum Bau der Salle modulable in der Opéra-Bastille ist es nicht gekommen. Das Projekt stand
aber am Puls der Zeit. In jenen Jahren wurden
nämlich andernorts ähnliche Denkansätze verfolgt – und sogar verwirklicht. Die Berliner Philharmonie, zwischen 1960 und 1963 nach einem
Entwurf von Hans Scharoun erbaut, wäre hier
etwa zu nennen. Tatsächlich nimmt in diesem
fünfeckigen Saal das Orchesterpodium einen
Platz in der Mitte ein, während sich das Publikum
darum herum verteilt. Zu erwähnen wäre auch
der Pavillon der Bundesrepublik Deutschland an
der Weltausstellung von Osaka (1970), der auf
Anregungen von Karlheinz Stockhausen basierte
und der mit fünfzig Lautsprechern versehen war,
die den Klang von überallher aufs Publikum projizieren konnten. In Paris gab es immerhin den
bereits erwähnten Espace de projection im Ircam,
der 1974 bis 1977 nach Entwürfen von Renzo
Piano und Richard Rogers konstruiert und 1978
eröffnet wurde. Die Beweglichkeit der Seitenwände, des Bodens und der Decke ermöglicht die
unterschiedlichsten räumlichen Dispositionen.
Ebenfalls in Paris steht die Salle de la Villette in
der Cité de la Musique, eine Art Salle modulable,
die von Christian de Portzamparc entworfen und
1995 eröffnet worden ist. Nicht zu vergessen ist
endlich der eben erst eingeweihte neue Saal der
Musikuniversität Graz, der alle Merkmale einer
Salle modulable aufweist.
Übersetzung aus dem Italienischen: hmn.
Die Musikologin Luisa Bassetto lebt und wirkt in Treviso.
Neuö Zürcör Zäitung
LUCERNE FESTIVAL
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
SB 7
Der lange Weg vom ersten Traum zur gebauten Wirklichkeit
Kommt sie, die Salle modulable in Luzern? Keine Frage, sagt einer, der es wissen muss
Von Peter Hagmann
Ende August werden zwei Jahre vergangen sein
seit jener überraschenden Medienkonferenz, an
der Michael Haefliger, der Intendant von Lucerne
Festival, zur allgemeinen Verblüffung bekanntgab, dass in Luzern eine Salle modulable gebaut
werden soll und dass dem Vorhaben von privater
Seite der Betrag von 100 Millionen Franken zugesprochen worden sei. Der Bau solle eine Idee aufnehmen, die auf den (an der Medienkonferenz
anwesenden, sichtlich zufriedenen) Komponisten
und Dirigenten Pierre Boulez zurückgeht. Das
Projekt strebe keine Konkurrenz zum Kulturund Kongresszentrum Luzern (KKL) an, es ziele
vielmehr auf die Erschliessung neuer künstlerischer Dimensionen für Lucerne Festival wie die
Stadt Luzern und ihre Kulturinstitutionen.
AUFWENDIGE PROJEKTORGANISATION
Seither herrscht nicht Schweigen im Walde, aber
auch nicht gerade ein üppiger Informationsfluss –
während die öffentliche Diskussion über den Sinn
des Projekts, über seine Möglichkeiten und Grenzen sowie die Chancen seiner Verwirklichung voll
im Gang ist. Michael Haefliger, der Initiant des
Unternehmens, bestätigt im Gespräch, dass er
sich dessen bewusst sei. Das Projekt der Umsetzung zuzuführen, sei nun einmal enorm aufwendig und erfordere letzte Sorgfalt – aber jetzt sei
Land in Sicht. Bis Ende 2009 oder Anfang 2010
sollten das Betriebskonzept mit dem Finanzierungsmodell, das Leitbild zur Identität und zur
Programmstruktur sowie die Frage des Standorts
geklärt sein. Inzwischen hat der Stadtrat von
Luzern für Herbst 2009 auch einen Planungsbericht zuhanden des Stadtparlaments in Aussicht gestellt.
Vorangetrieben werden die Arbeiten und Abklärungen durch die Stiftung Salle modulable, die
den Zweck hat, das neue Gebäude zu errichten
und zu betreiben. An diesen Arbeiten beteiligen
sich neben der Stiftung auch Stadt und Kanton
Luzern sowie alle grossen Kulturinstitutionen auf
dem Platz. Unter der Leitung von Michael Haefliger als Delegiertem der Stiftung und mit dem
40-jährigen Luzerner Juristen Jost Huwyler als
Projektleiter werden unter Beizug auswärtiger
Experten die Evaluationen und Machbarkeitsstudien durchgeführt. Sind diese Vorarbeiten abgeschlossen, wird die Stiftung gemeinsam mit
Stadt und Kanton Luzern im Geist der Public-Private Partnership eine Projektierungsgesellschaft
gründen, die dann die eigentliche Errichtung des
Baus an die Hand nimmt. Auch in der Projektierungsgesellschaft wird Jost Huwyler, der in
Luzern bestens vernetzt ist und eben jetzt bei der
Erweiterung des Verkehrshauses, früher aber im
Team um Thomas Held beim Bau des KKL Erfahrungen gesammelt hat, die führende Position
einnehmen. Unter den beratenden Unternehmen
ist vorab die Firma Actori aus München zu nennen, die für eine Studie zum dortigen Opernhaus
auch für Zürich tätig war.
Im Vordergrund der öffentlichen Diskussionen steht aus verständlichen Gründen nicht die
Idee an sich, sondern die Frage des Standorts.
Drei Grundstücke, so erklärt Haefliger, hätten
sich als geeignet herauskristallisiert. In den kommenden Monaten würden nun für alle drei Standorte Machbarkeitsstudien durchgeführt, damit
dann die Wahl getroffen werden kann.
hen. Die Aufgabe des alten, vielen Besuchern lieben Theaters ist natürlich keine einfache Angelegenheit. Auf der anderen Seite zeigt das Beispiel des Luzerner Sinfonieorchesters, das, seit es
im KKL auftritt, einen beispiellosen Höhenflug
vorweist, dass ein neues Haus durchaus zu einem
künstlerischen Aufbruch führen kann.
DER CAMPUS-GEDANKE
Eine ganz wesentliche Erweiterung, so Haefliger,
hat das Projekt dadurch erfahren, dass die Musikhochschule Luzern ihr lebhaftes Interesse an dem
neuen Haus geäussert hat. Ihren ohnehin geplanten Neubau wird die Hochschule in unmittelbarer
Nachbarschaft zur Salle modulable erstellen, um
von deren Infrastruktur profitieren zu können.
Umgekehrt sieht der Neubau der Musikhochschule einen Kammermusiksaal für fünf- bis
sechshundert Personen vor, den Lucerne Festival
für seine Programme allenfalls nutzen könnte –
da wäre denn ein altes, dringendes, auch im KKL
nicht wirklich eingelöstes Desiderat erfüllt.
Damit wird die Salle modulable nun allerdings
zum Teil eines Campus, auf dem möglicherweise
eine einheitliche architektonische Handschrift
herrscht, vor allem aber die gegenseitige Durchlässigkeit. Studierende könnten da – und wo gibt
es das sonst? – den besten Vertretern ihrer Berufe
begegnen, mit ihnen, zum Beispiel im Rahmen
von Produktionen für Lucerne Festival, zusammenarbeiten und so am Ende gar selber zu Festspielkünstlern werden. Damit verbunden ist aber
auch der Gedanke, dass an diesem Ort, wo eine
Ausbildungsstätte und eine prononciert auf die
Zukunft ausgerichtete Produktionsstätte aufeinandertreffen, alle Berufe unterrichtet werden
sollten, die im Bereich von Musiktheater und
Konzert anfallen – dass es also auch Regie, Bühnenbild, Bühnentechnik zu vermitteln gälte. Und
hier könnte, so sieht es Haefliger, auch auf die
Kompetenzen anderer Hochschulen im Raum
Luzern zurückgegriffen werden.
ERÖFFNUNG 2014?
Vor allem aber ist damit gesagt, dass die Salle modulable eine produzierende Institution werden
soll. Die Verbindung mit der Stadt und dem regionalen Umfeld soll in keiner Weise tangiert werden. Durch die neuen Möglichkeiten sollen Bereiche innovativer künstlerischer Äusserung erAnzeige
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STAGIONE UND REPERTOIRE
Was aber soll die Salle modulable genau? Zum
einen soll sie Lucerne Festival als weiterer Spielort dienen, der sich für Musiktheater und inszenierte Konzerte eignet. Er plane nicht, darauf legt
Haefliger besonderen Wert, die Salzburger Festspiele durch luxuriöse Aufführungen von Werken
des gängigen Repertoires zu konkurrenzieren. In
der Salle modulable sollen vielmehr neue Horizonte erkundet werden; sollen Werke gespielt
werden, die spezielle Anforderungen an den
Raum stellen, oder solche, die verschiedene Disziplinen wie Musik, Live-Elektronik und Video
miteinander verbinden. Natürlich gibt es längst
Vorstellungen zu Stücken und Interpreten, aber
hierzu ist Haefliger nichts zu entlocken. Er werde,
das immerhin bestätigt er, mit Interpreten zusammenarbeiten, die sich vom Ort und von der Vision
anstecken liessen. Und natürlich wäre es sein
Wunschtraum, auch da Claudio Abbado und
Pierre Boulez im Boot zu haben.
Doch nicht nur die Stagione des Festivals,
auch Repertoire und Ensemble sollen in der Salle
modulable ihren Platz haben. Angesprochen ist
damit das Luzerner Theater, das, so Haefliger, in
der Salle modulable mit ihren Nebenräumlichkeiten und Werkstätten wesentlich bessere Arbeitsbedingungen vorfände; es soll daher sein Stammhaus in der Innenstadt aufgeben, nicht aber seinen Auftrag der kulturellen Grundversorgung
übers Jahr hinweg und nicht seine Struktur. Darum sei in der Salle modulable auch die ganz konventionelle Raumdisposition mit einer Guckkastenbühne und einem Orchestergraben vorgese-
schlossen werden, die der Salle modulable, den in
ihr vertretenen Institutionen und der Stadt Luzern eine Ausstrahlung weit über die Region hinaus sichern könnte. Nicht als Konkurrenz etwa
zum Opernhaus Zürich, sondern als willkommene
Ergänzung zu seinem Angebot.
Gegenüber früheren Ankündigungen hat sich
der weitere Zeitplan etwas verschoben. Wenn die
Projektierungsgesellschaft Anfang 2010 offiziell
ihre Arbeit aufnimmt, geht es rasch auf den
Architekturwettbewerb zu. Haefligers Vorstellung gemäss soll hier sowohl ein geladener als
auch ein offener Wettbewerb durchgeführt werden; selbstverständlich müssten Spitzenarchitekten dabei sein, es müsse aber auch geprüft werden
können, ob nicht in jüngeren Büros noch ganz
andere Ideen vorhanden seien. Auf den Architekturwettbewerb 2010 folge im Jahr darauf der politische Prozess mit den notwendigen Abstimmungen – und wenn alles gut verlaufe, könne 2012 mit
dem Bau begonnen werden. Die Bauzeit werde
wohl gegen zwei Jahre umfassen, danach müsse
das Haus überhaupt erst in Betrieb genommen
werden. Mit der Eröffnung, so sagt Michael Haefliger heute, sei also frühestens 2014 zu rechnen.
Location © KKL Luzern www.kkl-luzern.ch
Tatsächlich sichtbar ist noch nichts, doch
auf konzeptioneller Ebene nimmt die
Salle modulable in Luzern zusehends
Konturen an. Eine Begegnung mit dem
Initianten Michael Haefliger.
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SB 8
Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
LUCERNE FESTIVAL
Nicht mehr als «tönend bewegte Form»?
Musik ohne Inhalt – oder: Die Idee der absoluten Musik in Werden und Vergehen
Von Wolfgang Fuhrmann
Die Idee der absoluten Musik besagt, dass es zum
Wesen der Musik gehöre, «losgelöst» von allem
Weltbezug zu existieren. Von «Musik» im eigentlichen Sinne lasse sich folglich nur bei der reinen
Instrumentalmusik sprechen. Ein musikalisches
Kunstwerk an und für sich komme ohne einen
vertonten Text, einen dramatischen Kontext oder
ein zugrundeliegendes Programm aus, all das gehöre zum Bereich des «Aussermusikalischen».
Dementsprechend gebe es – so die strikteste Version dieser reinen Lehre – auch keinen musikalischen Ausdruck; keine Stimmung oder Emotion
sei in Musik kommunizierbar. Wo sich dennoch
der Eindruck einstelle, die Musik sei «heiter»
oder «traurig», da handle es sich um ein rein
metaphorisches Sprechen, um blosse Etiketten,
die der Musik aufgeklebt würden.
Das musikalische Kunstwerk, so die Vertreter
der Idee der absoluten Musik, bilde einen sinnvollen Zusammenhang ganz und gar in und durch
sich selbst und sei daher auch nur aus sich selbst
zu begreifen: Eine Klaviersonate von Beethoven
oder eine Sinfonie von Brahms sind nur und restlos als formale Zusammenhänge deutbar. Im
eigentlichen Sinne über Musik sprechen lasse sich
nur anhand des Notentexts und mit den Fachausdrücken der musikalischen Theorie und Analyse:
Wer nicht von Tonika und Dominante zu künden
weiss, die Sonatenhauptsatzform oder den doppelten Kontrapunkt nicht erkennen kann, der gehört nicht zum inneren Kreis der wahrhaft musikalisch Sachverständigen und kann sich Musik
nur mit laienhafter Sinnlichkeit nähern, ohne tiefere ästhetische Einsicht allein auf «Reiz und
Rührung» bedacht, wie Kant gesagt hätte.
DEUTSCH-ÖSTERREICHISCH
Freiheit und Scheitern
Jörg Widmann: Komponist, Klarinettist
Von Marco Frei
Wenn man Jörg Widmann mit Kategorien konfrontiert, um sein kompositorisches Schaffen einzuordnen – oder um ihn einfach zu provozieren –,
wird er etwas nervös. «Einmal wurde Hans Werner Henze gefragt, wo man denn heute stehe.
‹Jeder woanders›, antwortete er. Das finde ich
sehr schön. Der Freiheitsbegriff ist für mich
äusserst wichtig, weil er Unabhängigkeit meint.
Deswegen heisst auch ein Werk von mir ‹Freie
Stücke›. Es ist 2002 entstanden – zu einer Zeit,
als ich mich freigeschwommen hatte.»
Kann, soll Musik mit Natur etwas zu tun
haben? Eine Sinfonie zum Beispiel, sie
habe weder Inhalt noch Bedeutung, stehe
vielmehr ganz für sich selbst – das meint
der Begriff der «absoluten Musik».
Unverkennbar handelt es sich hier um eine von
Experten formulierte Theorie, mit der ein grosser
Teil unter den Musikfreunden in den Status des
harmlosen Banausen versetzt wird. Und es handelt sich – auch das nicht unwichtig – um eine
Theorie, die vor allem der Tradition der deutschösterreichischen Sinfonik und Kammermusik zugutekommt. In Italien, dem Land der Oper, hätte
sie wohl kaum formuliert werden können, und
auch in Frankreich hatte man noch bis ins
20. Jahrhundert hinein ein viel unverkrampfteres
Verhältnis zu «aussermusikalischen» Bezügen.
Aber auch in Deutschland war die Idee der
absoluten Musik nicht unumstritten: Gerade aus
einer Polemik darüber, was Musik eigentlich sei
oder sein solle, ist diese Idee formuliert worden,
und Polemik begleitet sie bis heute.
Die Idee der absoluten Musik kann man als
die Rechtfertigung des bürgerlichen Konzertlebens begreifen; ihre architektonischen Denkmäler sind die Konzerthäuser, die einzig zu dem
Zwecke gebaut wurden und werden, Musik hören
zu lassen. Es war zwar kein Bürger, sondern ein
Adliger, nämlich der französische Aufklärer Michel-Paul Guy de Chabanon, der in seinen 1779 in
Paris erschienenen «Observations sur la musique
et principalement sur la métaphysique de l'art»
gegen die herrschenden Vorstellungen seiner Zeit
die These vertrat, die Musik sei «die Kunst, einen
Ton auf den anderen folgen zu lassen, gemäss geregelten Bewegungen, und den annehmlichen
Tonstufen gemäss, die die Folge der Töne dem
Ohr angenehm machen». Chabanon wendet sich
gegen die herrschende Nachahmungsästhetik:
Die Nachahmung von «aussermusikalischen»
Klängen (etwa einem Gewitter oder Vogelgezwitscher) sei nicht Sache der Musik. Und Musik sei
auch nicht, wie es Rousseau, Herder und andere
behauptet hatten, der Sprache verwandt, sie sei
nicht aus dem «Schrei der Leidenschaft» hervorgegangen; auch wenn sie Gefühle darstelle, müsse
sie notwendigerweise – und eben aus musikalischen Ursachen – Kontraste liefern und damit das
Bild der Leidenschaft verzeichnen.
Chabanon wurde zu seiner Zeit zwar beachtet,
durchschlagende Wirkung hatte er aber nicht. Vor
allem die Idee von Musik als «Sprache der Empfindungen» blieb bis ins 19. Jahrhundert vorherrschend, und die Gewohnheit, sich bei Instrumentalmusik passende Geschichten auszudenken, war
weit verbreitet. Das gilt gerade für die Musik
Joseph Haydns, den wir (wie auch schon seine
Zeitgenossen) als den Begründer der (klassischen) Instrumentalmusik ansehen. Es ist kein
Zufall, dass zu den beliebtesten Werken Haydns
Stücke gehören, die Titel tragen und dadurch mit
sprachlichen Vorstellungen verbunden sind: Weder die Bezeichnung «Militärsinfonie» noch «Die
Uhr» für Haydns Sinfonien in G-Dur Hob. I:100
und D-Dur Hob. I:101 stammen vom Komponisten, aber sie benennen hörbare Eigenheiten der
Musik, den Einsatz von Schlagzeug und marschhaften Themen im ersten Werk, das Ticken der
Begleitung im langsamen Satz des zweiten.
Und auch wenn die Bezeichnung «Jupiter-Sinfonie» für Mozarts letztes Werk dieser Gattung
eine verlegerische Erfindung ist, so findet sie doch
für dessen prachtvolle Klangentfaltung mit dem
Neuö Zürcör Zäitung
DISPARITÄT ALS PRINZIP
«herrscherlichen» Instrumentarium von Pauken
und Trompeten und die kontrapunktische Tour
de Force des Finales eine so bündige Chiffre, wie
es der nüchternen Benennung Sinfonie in C-Dur,
KV 551, nicht gelingen könnte. Assoziationen wie
diese haften ebenso wie Anekdoten oder biografische Details den Werken an. Keine dieser Bezeichnungen umschreibt ein konkretes Programm, so wie etwa Berlioz' «Symphonie fantastique» oder «Eine Alpensinfonie» von Richard
Strauss als Programmmusik verstanden werden
können. Dennoch verändern solche Assoziationen die Wahrnehmung der Stücke: Welcher Programmheftautor dürfte es je unterschlagen, dass
Richard Wagner Beethovens Siebte Sinfonie die
«Apotheose des Tanzes» genannt hat?
Es war ein junger k. u. k. Ministerialbeamter
namens Eduard Hanslick, der 1854 mit seiner Abhandlung «Vom Musikalisch-Schönen» am entschiedensten gegen die Ansicht Stellung bezog,
dass Musik in dieser Weise auf Aussermusikalisches bezogen sein solle, wobei Hanslick zu diesem «Aussermusikalischen» auch und insbesondere die Gefühle rechnete. Man muss allerdings
genau hinsehen, um Hanslick nicht misszuverstehen: Die Schrift entstand, lange bevor er als
Musikkritiker zum prominentesten aller WagnerGegner wurde. Sie versteht sich, wie ihr Untertitel
sagt, als «Beitrag zur Revision der Ästhetik der
Tonkunst». In einem Satz gesagt: Hanslick will die
Musikästhetik wegführen von der stereotyp wiederholten Behauptung, die Musik habe Gefühle
darzustellen bzw. zu erregen, hin zu einer Untersuchung der «specifisch musikalischen» Formbildungen, in denen allein das Musikalisch-Schöne
zu finden sei. Dabei redete Hanslick keineswegs
einer «Gefühllosigkeit» der Musik das Wort. So
präzisierte er es zumindest 1873. Da aber hatte
sich schon eine Flut von Polemiken über seine
Schrift ergossen, die den musikalischen Gefühlsausdruck verteidigten.
HEILIGER BEZIRK
Hanslicks Thesen haben im 19. Jahrhundert niemals Deutungshoheit errungen. Zu einer breitenwirksamen Ideologie wurde die Idee der absoluten Musik erst im 20. Jahrhundert. Schon die
Neue Sachlichkeit der Zwischenkriegszeit hatte
sich von der Gefühlsästhetik abgewandt, und Igor
Strawinsky verkündete, Musik sei «ihrem Wesen
nach unfähig, irgend etwas ‹auszudrücken›».
Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs,
und nicht zufälligerweise in Deutschland, wandten sich junge Komponisten und Musikwissenschafter, die von der ideologisch aufgeladenen
«Weltanschauungsmusik» des Nationalsozialismus genug hatten, ganz im Sinne Hanslicks den
«specifisch musikalischen» Formbildungen zu.
Die Komponisten – vor allem die Vertreter
serieller Musik wie Pierre Boulez oder Karlheinz
Stockhausen – erreichten dies durch eine entschiedene Abkehr von allen musikalischen Prinzipien, die Körperhaftigkeit, Gestalt- oder Gestenbildung und Spannung oder Lösung impliziert
hätten, aber auch durch eine Kompositionstechnik, die alle herkömmlich «sprachlichen» Mittel
auflöste. Die Musikwissenschafter blendeten entschieden all das aus, was nunmehr als «aussermusikalisch» empfunden wurde, und erhoben den
Notentext zur einzig relevanten Bezugsgrösse.
Nun erst entstand jene Ideologie des autonomen
Kunstwerks und der absoluten Musik, die dann
auf die Musik der klassisch-romantischen Ära zurückprojiziert werden konnte. Einer ihrer rigidesten, aber auch scharfsinnigsten Vertreter, Carl
Dahlhaus, hat mit seinem Buch «Die Idee der
absoluten Musik» gleichsam deren Genealogie,
Begründung und Rechtfertigung zugleich verfasst. Die absolute Musik schien der heilige Bezirk und Rückzugsort, in dem man sich unbefleckt
von kulturellen, nationalen oder politischen Fragen einzig dem Spiel der Töne hingeben konnte.
ABSCHIED VOM REINHEITSGEBOT
Heute ist die Idee oder Ideologie der absoluten
Musik von neuen Generationen von jüngeren
Komponisten (wie Kaija Saariaho oder Jörg Widmann, die ihren Stücken gerne bildhafte Titel
geben und auch in der Farbigkeit und dem Gestenreichtum ihrer Musik vielfältige Assoziationen
zulassen) wie auch von Musikwissenschaftern
wieder unter heftigen Beschuss genommen worden. Deutlicher wird heute aber auch, was die
Rede von der absoluten Musik neben ihren unleugbaren Verbohrtheiten an Positivem zu bieten
hatte. Sie zwang dazu, Werke in ihren formalen
Eigentümlichkeiten zu betrachten, ihre Konstruktion zu analysieren, statt sie vorschnell mit
Interpretationen zu befrachten.
Zu erkennen ist aber auch der eigenartige Bezug, den die Idee der absoluten Musik zu den politischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts
unterhielt – sei es in der radikalen Abwendung
von allem Weltbezug wie in der (westlichen) Nachkriegsmusik, sei es in ihrer Funktion eines Schutzes vor politischer Vereinnahmung. In Thomas
Manns Roman «Der Zauberberg» ist es der Aufklärer und Humanist Settembrini, der die reine,
textlose Musik als «politisch verdächtig» charakterisiert: als «das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente».
In der politischen Realität sind es oft genug die
autoritären oder totalitären Machthaber gewesen,
denen die reine Musik als verdächtig erschien, die
von den Komponisten politische Kantaten, Massenchöre, «Volkslieder» forderten. Die Komponisten wiederum nutzten, wenn sie denn instrumental komponieren durften, den Freiraum der
wortlosen Unbestimmtheit, um sich den Vereinnahmungen zu entziehen – der Fall Schostakowitsch bietet hinreichend Beispiele dafür.
War die Wortlosigkeit der Instrumentalmusik
in der Frühromantik ein Zeichen des Unendlichen über aller Sprache gewesen, so wurde sie im
20. Jahrhundert zum Rückzugsort dort, wo zu
sprechen tödlich gewesen wäre. Heute, in einer
entideologisierten und umso unübersichtlicher
und unfassbarer gewordenen Zeit, sind die Reinheitsgebote der absoluten Musik scheinbar nicht
mehr aufrechtzuerhalten. Umso notwendiger
wäre es, sie als Herausforderung und Denkansporn in Erinnerung zu behalten. Denn die
Trennung zwischen Musikalischem und Aussermusikalischem ist, ob man es wahrhaben will oder
nicht, noch immer der Angelpunkt des Musiklebens, wie wir es kennen.
Der Musikwissenschafter Dr. Wolfgang Fuhrmann lebt in Dübendorf bei Zürich.
Dieses Ensemblewerk zählt zu den Kompositionen Widmanns, die bei Lucerne Festival erklingen. In diesem Jahr ist der deutsche Komponist,
Klarinettist und Hochschulprofessor Composer in
Residence. Und vielleicht muss man nachvollziehen, dass Widmann ein Kind der Freiheit ist, um
sein Denken und seine Arbeitsweise zu verstehen.
1973 in München geboren, wuchs er in einer
Zeit auf, in der Richtungsstreitereien und Dogmendenken in der westlichen neuen Musik der
Vergangenheit angehörten. Mit dem Ende des
Kalten Krieges erlosch auch der ästhetisch-stilistische Disput zwischen Ost und West. «Es ist ein
positives Phänomen, dass es heute nicht mehr
Gruppen, Cliquen und Ideologien gibt wie früher», sagt Widmann; deswegen bedeutet für ihn
Komponieren, Disparates zusammenzusetzen.
«Dinge zusammensetzen, die womöglich gar
nicht zusammengehören: Das trifft auf meine
Musik im Besonderen zu.» Schon seine Ausbildung verrät diese Haltung: Bei so unterschiedlichen Komponisten wie Henze, Wolfgang Rihm,
Wilfried Hiller und Heiner Goebbels hat er studiert, und so treffen sich in seinen Werken Avanciertes und Tradiertes, Geräuschhaftes und Melodiöses, Expressives und Verschwiegenes. Die
Selbstverständlichkeit, mit der Widmann unterschiedliche Stile zusammenfügt, irritiert zuweilen.
«Es kommt aber nie postmodernistisches Allerlei
heraus», beschwört er, und auch das Zitathafte
weist er von sich. Das ist durchaus glaubwürdig;
in einer Zeit, in der Vielfalt herrscht, ist Widmanns Haltung konsequent.
Für sich ausgeschlossen hat er bis heute die
Arbeit mit rein elektronischen Mitteln. «Bisher
habe ich auch elektronisch Klingendes immer mit
Menschen erzeugt – so in allen Werken, die bei
Lucerne Festival zu hören sind. Es sind ‹Naturstücke›, was auch auf das diesjährige FestivalMotto ‹Natur› verweist.» Denn für Widmann ist
die Erweiterung von Spieltechniken von zentraler Bedeutung, was auf seine Tätigkeit als Klarinettist verweist.
DEMONTAGEN DES SOLISTEN
In diesem Sinn betrachtet sich Widmann durchaus als Virtuose, und deshalb sieht er für sich die
Integration von Live-Elektronik künftig als verstärktes Experimentierfeld. «Mir ist es wichtig,
einen Menschen auf der Bühne zu sehen, der
einen Ton hervorbringt. Es langweilt mich, wenn
ich von etwas beschallt werde; jemand soll zu mir
sprechen, und nicht es.» So verwundert nicht, dass
Widmann – im Gegensatz zu manch anderen
Komponisten der Gegenwart – die Gattung des
Solokonzerts keineswegs meidet.
Bei Lucerne Festival steht die Uraufführung
eines Oboenkonzerts an, mit dem Widmann den
70. Geburtstag des Schweizer Oboisten und Komponisten Heinz Holliger würdigt. «Das Werk ist
eher suitenartig, ich möchte erstmals in der Konzertform die Mehrsätzigkeit probieren.» Sonst
aber spielt das Scheitern in Widmanns Solokonzerten eine wesentliche Rolle: Vielfach wandelt
sich der Solist zum gescheiterten Helden, so etwa
im Trompetenkonzert «ad absurdum» von 2006.
Immer mehr verliert sich der Solist hier in aberwitzigem Tempo, und wenn er nicht mehr spielen
kann, löst ihn eine Drehorgel ab. «Das Scheitern
des Solisten – darüber mache ich mich lustig, aber
liebevoll. Wenn ich ein Konzert schreibe, geht es
um Leben oder Tod, Gelingen oder Scheitern. Es
geht um alles. Beim Konzert für Holliger geschieht das aber spielerischer.»
Das Scheitern ist überhaupt ein wesentliches
Merkmal in Widmanns Schaffen. Schon in seinem
Musiktheater «Das Gesicht im Spiegel» (2003)
wird das Scheitern von zwischenmenschlicher
Kommunikation entlarvt, womit Widmann eine
Brücke zum absurden Theater von Eugène Ionesco schlägt. Und vielleicht interessiert er sich deshalb für das Scheitern, weil es so eng mit der Freiheit verbunden ist: «Freiheit ist nur im Reich der
Träume», das wusste schon Friedrich Schiller.
Dr. Marco Frei, Musikwissenschafter und Publizist, München.
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Samstag/Sonntag, 8./9. August 2009 Nr. 181
SB 9
Zwischen Vogelgezwitscher und Weltliteratur
Musik mit Inhalt – oder: Vom Nachahmen mit Klängen zur Programmmusik
Von Ellen Taller
In früheren Zeiten hat selbst die reine
Instrumentalmusik gerne nachgeahmt,
Natur oder Krieg zum Beispiel. Im
19. Jahrhundert ist das weiterentwickelt
worden: zur Programmmusik.
Unerhört waren seinerzeit die Klänge, mit denen
die 1737 entstandene Ballettsuite «Les Elements»
von Jean Fery Rebel begann: «Alle Noten der
Oktave zu einem einzigen Klang vereint» sollten
das Chaos der Schöpfung darstellen. Aussermusikalisches mit musikalischen Mitteln wiederzugeben und solche Tonmalerei für programmatische Inhalte einzusetzen, war im Barock weit verbreitet, später aber, in der Klassik, weit weniger
von Bedeutung. Wenn einige Sinfonien von Joseph
Haydn Titel tragen, stammen sie von Zeitgenossen, denen spezielle Charakteristika eines Themas
oder eines Satzes auffielen. Ganz anders sah es
Ludwig van Beethoven mit seiner sechsten Sinfonie. «Kein Mensch kann das Land so lieben wie
ich», meinte er euphorisch, und zweifellos beruht
die «Pastorale» auf seiner tiefen Verbundenheit
mit der Natur. Tonmalerische Einzelheiten trug er
während der Arbeit am zweiten Satz bereits in frühen Skizzen ein; vom «Murmeln der Bäche»
schrieb er und, um die richtige Klangfarbe zu finden: «je grösser der Bach je tiefer der Ton». Ausser den Satzüberschriften hielt er detaillierte programmatische Hinweise für das Publikum jedoch
nicht für notwendig. Und wie ein Motto heisst es
in den Stimmabschriften: «Mehr Ausdruck der
Empfindung als Malerei», eine Formulierung, auf
der Beethoven bei der Drucklegung bestand.
INSTRUMENTALES DRAMA
Eine Sinfonie mit konkretem Inhalt zu verknüpfen, das gelang 1830 Hector Berlioz exemplarisch
mit seiner «Symphonie fantastique». Die «Episode de la vie d'un artiste», so der Untertitel, ist
stark durch biografische Hintergründe geprägt.
Berlioz verehrte die irische Schauspielerin Harriet Smithson, die als Shakespeare-Interpretin in
Paris Triumphe feierte und den jungen Komponisten nicht beachtete. Das Programm seiner Sinfonie stellt denn auch einen Künstler vor, der sich
hoffnungslos in eine Frau verliebt. Die Angebetete wird durch ein musikalisches Thema verkörpert, das als «idée fixe» im ganzen Werk gegenwärtig ist, denn wie die Geliebte dem Künstler
nicht aus dem Sinn geht, so bleibt «ihr» Thema in
allen fünf Sätzen präsent.
Die Bedeutung der «Symphonie fantastique»
beschränkt sich nicht nur darauf, dass Berlioz in
einem rein instrumentalen Stück eine Geschichte
erzählte; auch in der Instrumentierung eröffnete
er neue Wege. Er stellte ein riesiges Orchester zusammen und verwendete eine ungewöhnlich breite Palette von Klangfarben. So sollen im zweiten
Satz, dem Ball, die erste und die zweite Harfe
mindestens verdoppelt werden; ein «al meno 2»
zeigt die schier unersättliche Lust auf den Klangrausch. Die Instrumente werden in neuen Spielmöglichkeiten eingesetzt, die Dynamik wird ins
Extrem getrieben. Die «Symphonie fantastique»
war revolutionär und polarisierte die Zeitgenossen. Franz Liszt gehörte zu den begeisterten Anhängern, Felix Mendelssohn Bartholdy dagegen
urteilte vernichtend und fand, dass sein Kollege
einfach «unbegreiflich schlecht komponiert». Die
emotionale Sprengkraft der Sinfonie war epochal,
und noch 1912 wirkte sie auf Debussy als «fiebrig
erregte[s] Meisterwerk romantischen Feuers».
Der Klaviervirtuose Franz Liszt hegte grosse
Ambitionen, nachdem er sich als junger Mann aus
dem Konzertleben zurückgezogen hatte. Er wollte Werke komponieren, «welche die Tätigkeit des
Fühlens und Denkens gleichzeitig in sich tragen».
Die Musik sollte sich mit der Weltliteratur verbinden und dadurch mit den grössten Texten auf gleicher Ebene stehen. Sinfonische Dichtung nannte
er denn auch die neue Gattung; die Komponisten
bezeichnete er als Dichter, Tondichter oder als
«Dichter unter den Komponisten». Dieser wurde
zum Intellektuellen, und seine gesellschaftliche
Stellung, seine Funktion wie die Rolle der Musik
überhaupt gewannen durch den literarischen Anspruch an Bedeutung.
«MUSIK DER ZUKUNFT»
Liszt hatte kein geringeres Ziel als «die Erneuerung der Musik durch ihre innigere Verbindung
mit der Dichtkunst». Wie Richard Wagner verstanden die Komponisten im Umkreis von Liszt
ihre Werke als «Musik der Zukunft». Um sie von
ihrem traditionellen Umfeld abzugrenzen, gab der
Musikwissenschafter Franz Brendel der Bewegung den Namen «Neudeutsche Schule». Mit den
Traditionalisten, die wie Johannes Brahms Verfechter der absoluten Musik waren und den Musikkritiker Eduard Hanslick auf ihrer Seite hatten,
kam es zum erbitterten «Musikstreit», der in den
damaligen Musikzeitschriften ausgetragen wurde.
Helden stehen im Mittelpunkt der sinfonischen Dichtungen, das Individuum in seiner Not
wie in seinem Glanz, ergreifende Vorfälle, Geschichten und Gemälde. Als sich in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Komponisten
auf die Charakteristika ihres Landes fokussierten,
eine eigene Tonsprache fanden und die sogenannten nationalen Schulen entstanden, wurde
die sinfonische Dichtung zu einer zentralen Gattung, da sie insbesondere durch den literarischen
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Bezug dem Nationalen besonders nahe steht.
«Mein Vaterland» von Smetana, «Eine Nacht auf
dem Kahlen Berge» von Mussorgsky oder «Pohjolas Tochter» und die «Karelia-Suite» von Sibelius gehören zu diesen Werken.
Liszt selbst hatte betont, dass das Programm
dem Publikum einen Wegweiser für das Verständnis der Kompositionen abgebe. Wie stark gegen
Ende des 19. Jahrhunderts die Programmmusik
im Konzertleben positioniert war, wie sehr das
Publikum solche wegweisenden Erklärungen erwartete, zeigen unter anderem Gustav Mahlers
Erfahrungen mit inhaltsbezogenen Angaben. Seine erste Sinfonie nannte er bei der Uraufführung
eine «Symphonische Dichtung in zwei Teilen»,
ohne hier weitere Details bekanntzugeben. Verschiedene Äusserungen in Briefen und der biografische Hintergrund mit zwei unglücklich verlaufenen Liebesgeschichten lassen in der Tat eine
programmatische Absicht vermuten. Nachdem
die Uraufführung nur mässig erfolgreich gewesen
war, entschloss sich Mahler, ein Programm anzugeben, «um das Verständnis der D-Dur zu erleichtern». Auch für die zweite und die dritte Sinfonie
hatte er detaillierte Programmentwürfe. Doch bemerkte er nach einer Aufführung der vierten Sinfonie, die Hörer seien durch die Programme
schon so «korrumpiert [. . .], dass sie kein Werk
mehr einfach und rein musikalisch aufnehmen
können». Schliesslich gab er für seine weiteren
Sinfonien keine Titel mehr bekannt.
PROGRAMM CONTRA MUSIK?
Richard Strauss, Mahlers Zeitgenosse, ging ganz
andere Wege. Nach einem ersten Schritt in Richtung Programmmusik mit «Aus Italien», seiner in
vier Sätzen angelegten «Symphonischen Phantasie», in der er persönliche Reiseeindrücke klangmalerisch festhielt, wandte er sich konsequent der
sinfonischen Dichtung zu. Wenn in der Romantik
vorab das Heldenhafte im Zentrum stand, decken
die Tondichtungen von Strauss eine breite Ausdruckspalette ab. Nach dem überschwänglichen,
von Temperament und Lebensfreude überbordenden «Don Juan» zeichnet er mit «Tod und
Verklärung» das Sterben und die Erlösung eines
Todkranken nach. Sprühenden Witz bringen «Till
Eulenspiegels lustige Streiche» mit einem riesigen
und hochvirtuos eingesetzten Orchesterapparat.
Während Tills Streiche sehr plastisch mitgeteilt werden, hat das Programmatische im «Zarathustra» hauptsächlich eine inspirierende Funktion. «Frei nach Nietzsche» fügte Strauss dem
Titel ausdrücklich hinzu. In den Skizzen hatte er
wohl zahlreiche Bemerkungen zur kompositorischen Arbeit eingetragen. Die Kapitelüberschriften von Nietzsches «Zarathustra» notierte er in
der Partitur erst nachträglich über den einzelnen
Abschnitten. Den Impuls erhielt Richard Strauss
von Nietzsches Werk, er komponierte aber nicht
entlang einer Textvorlage. Die brillante Orchestrierung der «Alpensinfonie» schliesslich – eine
Bergbesteigung, vom Sonnenaufgang über das
Gewitter bis zur Heimkehr – wirkt gerade als
Gegenbeispiel zu Beethovens Anspruch, «mehr
Ausdruck der Empfindung als Malerei» zu sein.
Nachdem die Auseinandersetzungen zwischen
Anhängern der absoluten Musik und der Programmmusik während Jahrzehnten für heisse
Köpfe gesorgt hatten, wurde mit dem beginnenden 20. Jahrhundert die Abgrenzung generell
weniger relevant, da beide Kategorien als selbstverständlich galten. Auch das «Prélude à l'aprèsmidi d'un faune», das Claude Debussy nach Ver-
sen von Stéphane Mallarmé komponiert hat,
seine «Images pour orchestre», in denen eine englische Herbstlandschaft, das spanische Ambiente
und der Ausbruch des Frühlings nachgezeichnet
werden, dann auch «La Valse» von Maurice Ravel
– eine «Apotheose auf den Wiener Walzer» – gehören zu den programmatischen Orchesterwerken. Wie ein roter Faden zieht sich die Bedeutung
der Natur durch die Jahrhunderte, als Vorbild und
Inspirationsquelle: «Nichts ist musikalischer als
ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungslehre» (Debussy).
«EIN REST MYSTERIUM BLEIBT IMMER»
Von entscheidender Bedeutung ist, ob der Komponist ein Programm bekanntgibt. Für Schumann
ging bereits Beethoven mit den Erläuterungen zu
seiner sechsten Sinfonie zu weit: «Schon bei der
Pastoralsinfonie beleidigte es ihn, dass ihm Beethoven nicht zutraute, ihren Charakter ohne sein
Zutun zu erraten.» Zum mitgelieferten Programm
von Berlioz' «Symphonie fantastique» meinte er
gar: «Solche Wegweiser haben immer etwas Unwürdiges und Charlatanmässiges. Jedenfalls hätten die fünf Hauptüberschriften genügt.» Bezeichnenderweise distanzierten sich die Komponisten
oft von dem anfangs gegebenen Programm, als
würde die Musik durch Erklärungen schliesslich
doch an Ausdruckskraft und Bedeutung verlieren.
Hier war sogar für Strauss das Programm zwar
ein Garant dafür, «dass die Musik nicht in reine
Willkür sich verliere und ins Uferlose verschwimme», schliesslich wollte aber auch er seine Werke
primär als Musik verstanden wissen, denn «mehr
als ein gewisser Anhalt soll auch für den Hörer
ein solches analytisches Programm nicht sein.
Wen es interessiert, der benütze es. Wer wirklich
Musik zu hören versteht, braucht es wahrscheinlich gar nicht.» Gustav Mahler wandte sich explizit dagegen, dass jedes Kunstwerk erklärbar und
somit fassbar sei: «Es gibt, von Beethoven angefangen, keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat. – Aber keine Musik ist etwas
wert, von der man dem Hörer zuerst berichten
muss, was darin erlebt ist. [. . .] Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer!»
Dr. Ellen Taller lebt als Musikwissenschafterin und Musikerin in
Küsnacht bei Zürich.
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