Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Psychologische und soziologische Grundlagen der Medizin MSE_P_201 Medizinische Psychologie (Leitung PD Dr. Karin Lange) Medizinische Soziologie (Leitung Prof. Dr. Siegfried Geyer) Der Mensch in der Medizin: Was ist normal, was gesund? HIER: SEMINAR 3. WOCHE Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Jasper (7) Bei der Erstvorstellung in einer Kinderarztpraxis ist Jasper 7 Jahre alt. Seine besorgte und sichtlich erschöpfte Mutter stellt ihn wegen Zappeligkeit, motorischer Unruhe und Koordinationsschwäche vor. Jasper ist das älteste von drei Kindern der Familie (zwei Schwestern 4 und 1 Jahr alt). Nach unkomplizierter Schwangerschaft muss die Geburt mit Kaiserschnitt beendet werden. In der Neugeborenenzeit zeigt Jasper keine Auffälligkeiten. Er schläft als Säugling gut, ist aber immer sehr lebhaft und oft unruhig. Im Vorschulalter zeigen sich motorische Koordinationsprobleme (so kann er z. B. erst mit 6 Jahren Rad fahren), therapeutische Maßnahmen werden nicht für erforderlich gehalten. Ansonsten fallen bei den Vorsorgeuntersuchungen keine Besonderheiten auf. In der Vorschulzeit gilt Jasper ebenso wie seine jüngere Schwester als sehr temperamentvolles Kind, was aber in der Familie und in der sehr turbulenten Kindergartengruppe nicht als störend empfunden wird. Zunehmende Unruhe zeigt Jasper mit Beginn des Schulbesuchs. Er kippelt auf dem Stuhl, läuft in der Klasse herum und stört andere Kinder. Jasper kann sich über eine kurze Zeitspanne auf den Unterricht konzentrieren und zeigt dann durchaus eine gute Auffassungsgabe. Schreiben ist schwierig, erlernte Buchstaben werden wieder vergessen. Das Schriftbild ist so schlecht, dass die eigene Schrift oft kaum gelesen werden kann. Die Hausaufgaben, an denen Jasper lange sitzt, werden zunehmend zur Qual – für Mutter und Sohn. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie ….Jasper (7) Zu Hause wird die bekannte Lebhaftigkeit zunehmend als störende Unruhe erlebt, auch bei den Mahlzeiten fällt Jasper das Stillsitzen extrem schwer. Er ist leicht ablenkbar, verbale Aufforderungen erreichen ihn oft nicht. Die gesamte Familie leidet zunehmend unter täglichen Auseinandersetzungen um Alltagsprobleme. Jasper geht teilweise unbeherrscht und rüde mit der jüngsten Schwester um, so dass Jasper ständig überwacht werden muss. Auch Jasper wirkt unglücklich, zeigt oft Stimmungsschwankungen. Er hat nur wenige Freunde. Aus Jaspers Sicht liegt das aber vor allem daran, dass seine Mutter und alle anderen ständig mit ihm meckern. Bei den Untersuchungen zeigen sich bei Jasper bei durchschnittlicher Intelligenz keine Teilleistungsproblematik, jedoch eine leichte Dyskoordination. Modellstudiengang ….Jasper (7) Medizin /Soziologie Psychologie Gruppenarbeit: Ist Jasper ein „ganz normaler Junge“ mit „üblichen“ Problemen, oder benötigt Jasper medizinische oder psychotherapeutische Behandlung? a) Wann würden Sie als Mutter/Vater eine Behandlung Ihres Sohnes (ohne/mit Medikamenten) erwägen. Welche Kriterien würden Sie dafür wählen? b) Welche Kriterien würden Sie als Ärztin/Arzt wählen? Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Psychisch auffällig, gestört ???? Eine psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen liegt vor, wenn das Verhalten und/oder das Erleben bei Berücksichtigung des Entwicklungsalters abnorm ist und / oder zu einer Beeinträchtigung führt. Ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte medizinische Modelle sind nicht geeignet, um psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen zu erklären oder vom “Normalzustand“ abzugrenzen. (Steinhausen, 2002) Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Psychisch auffällig, gestört ???? Eine psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen liegt vor, wenn das Verhalten und/oder das Erleben bei Berücksichtigung des Entwicklungsalters abnorm ist und / oder zu einer Beeinträchtigung führt. (Steinhausen, 2002) Abnormität: ¾ Unangemessenheit hinsichtlich Alter und Geschlecht ¾ Persistenz ¾ Lebensumstände ¾ Soziokulturelle Gegebenheiten ¾ Ausmaß der Störung ¾ Art des Symptoms ¾ Schweregrad und Häufigkeit der Symptome ¾ Verhaltensänderung ¾ Situationsspezifität Beeinträchtigung: ¾ Leiden ¾ Soziale Einengung ¾ Interferenz mit der Entwicklung ¾ Auswirkungen auf andere 0 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung KRANKHEITSBEZEICHNUNGEN Nach ICD-10: Hyperkinetische Störungen (HKS) (F90) Subtypen: Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit (F90.0) Hyperkinetische Störung mit Störung des Sozialverhaltens (F90.1) andere hyperkinetische Störungen (F90.8) Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung nach DSM-IV (amerikanisch) Subtypen: vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ vorwiegend unaufmerksamer Typ kombinierter Typ ADHS, nicht näher bezeichnet Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie WHO-Definition „Gesundheit“ „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Verdienst der WHO-Definition „Gesundheit“ Auch die Fachwelt ist näher an die Gesundheitskonzepte herangerückt, die in der Bevölkerung vorherrschen: (a) Abwesenheit von Krankheit (b) körperliche Stärke und Energie (c) psychisches Wohlbefinden (d) funktionale Leistungsfähigkeit (Faltermaier & Kühnlein, 2000) Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modelle der Gesundheit Dichotomes Modell gesund krank Modellstudiengang körperlich Medizin iologie ologie/Soz Psych negative Gesundheit Ein 2DimensionenModell der Gesundheit (aus: Werner & Lengerke, 2003) (engl.: ill-health) z.B.: - Krankheit - Verletzung psychisch - Behinderung - Invalidität 1 hoch sozial 2 körperlich niedrig hoch positive Gesundheit - Wohlbefinden, oder besser: Wohl-Sein (engl.: well-being) psychisch - Fitness sozial - Lebensqualität 4 niedrig 3 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Definition ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt sind, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entsprechen und zu Störungen in den sozialen Bezugssystemen, der Wahrnehmung und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führen. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Erklärungsmodelle Gruppenaufgabe: Versuchen Sie ADHS aus der Perspektive eines biopsychologischen Krankheitsmodells, eines Verhaltensmodells und eines soziologisch-sozialpsychologisch Modells zu erklären. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Biopsychologisches Modell: Beispiel Aktivation und Leistung Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Verhaltensmodell: Beispiel Angst Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Verhaltensmodell: SORCK Modellstudiengang Medizin iologie ologie/Soz Psych Soziologisches Modell: Bsp. Soziale Ungleichheit Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Soziologisch-sozialpsychologisches Modell: Beispiel Social Support Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Erklärungsmodelle Gruppenaufgabe: Versuchen Sie ADHS aus der Perspektive eines biopsychologischen Krankheitsmodells, eines Verhaltensmodells und eines soziologisch-sozialpsychologischen Modells zu erklären. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Biopsychosoziales Modell Lippke & Renneberg, 2006 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Erklärungsmodelle hyperkinetische Störungen Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Pathogenese ADHS aus: Steinhausen 2002 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Pathogenese aktueller Stand Hypothese: fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen Frontalhirn und Basalganglien infolge von Störungen im Neurotransmitterstoffwechsel (vor allem Dopamin) Genetisch vererbte Symptomatik. molekulargenetische Methoden haben über 40 Gene gefunden, die an der Entstehung der ADHS beteiligt sein sollen, familiäre Häufung Toxine: Alkohol, Nikotin, Bleiexposition in der Schwangerschaft, Psychosoziale Faktoren: untere soziale Schicht, familiäre Risiken, psychische Störungen der Eltern, Störungen der Eltern-Kind-Bindung, Erziehungsdefizite,…. Aber: ADHS ist nicht das Ergebnis von Erziehungsfehlern (Schutz der Eltern)! Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Epidemiologie Prävalenz (international an der allgemeinen Bevölkerung erhobenen Daten) ca. 9,2% (5,8-13,6%) für Jungen und 2,9% (1,9-4,5%) für Mädchen im Schulalter. Neuere deutsche Erhebungen [Brühl et al., 2000] fanden bei 6-10 Jahre alten Kindern in 6% ein ADHS (nach DSM-IV). Frühere deutsche Studien [Baumgaertl et al., 1995] zeigten eine Jungen/Mädchen-Relation zwischen 2:1 beim vorherrschend unaufmerksamen Subtyp und 5:1 beim hyperaktiv-impulsiven Subtyp. Das Störungsbild ist lange bekannt, hat durch die Anforderungen der heutigen Gesellschaft mehr Relevanz gefunden. Die Kombination mit Störung des Sozialverhaltens hat jedoch deutlich zugenommen. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Symptomatik über die Lebensspanne Säuglinge: unerklärliche langdauernde Schreiphasen, motorische Unruhe, Ess- und Schlafprobleme, Ablehnung von Körperkontakt, Misslaunigkeit; anstrengend für die Eltern. Kleinkindalter: plan- und rastlose Aktivität, schnelle, häufige und unvorhersagbare Handlungswechsel, geringe Ausdauer, Trotzreaktionen, unberechenbares Sozialverhalten, Teilleistungsschwächen bezüglich auditiver und visueller Wahrnehmung, Fein- und Grobmotorik; vermehrte Unfallgefährdung; auffallend früher Spracherwerb oder auch verzögerte Sprachentwicklung; keine beständigen Freundschaften, Kind und Eltern isoliert. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Symptomatik über die Lebensspanne Grundschulalter: mangelnde Regelakzeptanz, Stören im Unterricht, wenig Ausdauer, starke Ablenkbarkeit, emotionale Instabilität, geringe Frustrationstoleranz, Wutanfälle, aggressives Verhalten, schlechte Schrift, chaotisches Ordnungsverhalten; andauerndes Reden, Geräuscheproduktion, überhastetes Sprechen (Poltern); unpassende Mimik, Gestik und Körpersprache; Ungeschicklichkeit, häufige Unfälle; Lese-RechtschreibSchwäche, Rechenschwäche, Lern-Leistungsprobleme keine dauerhaften sozialen Bindungen, Außenseitertum; niedriges Selbstbewusstsein. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Symptomatik über die Lebensspanne Adoleszenz: Unaufmerksamkeit, Null-Bock-Mentalität, Leistungsverweigerung, oppositionell-aggressives Verhalten, stark vermindertes Selbstwertgefühl, Ängste, Depressionen; Kontakte zu sozialen Randgruppen, häufiger Verkehrsunfälle, Neigung zu Delinquenz, Alkohol, Drogen. Erwachsenenalter: Schusseligkeit, Vergesslichkeit; Mühe, Aufgaben zu planen und zu Ende zu bringen; Unbeständigkeit von beruflichen und sozialen Bindungen; Ängste, Depression, Jähzorn, Neigung zu Delinquenz, Alkohol, Drogen. Häufig zu beobachtende positive Eigenschaften: Ideenreichtum, künstlerische Kreativität, Begeisterungs-fähigkeit, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeitssinn. (Man vermutet, dass Mozart, Einstein, Churchill und andere betroffen waren. Modellstudiengang Diagnostik Medizin /Soziologie Psychologie Primäre Ziele: • • • • Sichern der Diagnose Differentialdiagnostische Abgrenzung Erfassen der qualitativen und quantitativen Ausprägung der individuellen Symptomatik Erkennen individueller Umgebungsbedingungen (Aggravationsumstände und Ressourcen) Modellstudiengang Diagnostik Medizin /Soziologie Psychologie Elemente: Anamnese: Fremdanamnese (Eltern, Erzieher, Lehrer) Eigenanamnese erst bei älteren Kinder / Jugendlichen; Klinische Untersuchung: Neurologie, Motorik, Hören und Sehen; Verhaltensbeobachtung: während der Untersuchungen und der Exploration; Videoaufzeichnungen; ADHS-spezifische Fragebögen: (Fremdbeurteilungs-bogen Hyperkinetische Störung) (jeweils für Eltern und Erzieher), u.a. ggf. Testpsychologische Untersuchungen: Entwicklungs-, Intelligenztests, Aufmerksamkeitstests, u.a Apparative Diagnostik: in der Regel obsolet Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Multimodale Therapie bei ADHS Therapieziele eine kausale Therapie der Ursachen von ADHS (wahrscheinlich Veränderung der die Transmitteraktivität regulierenden Genen) ist nicht möglich. Soziale Integration; Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, Genügend stabiles Selbstwertgefühl; Gewährleistung einer begabungsentsprechenden Schulund Berufsausbildung Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Multimodale Therapie bei ADHS Steinhausen 2002 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Multimodale Therapie bei ADHS Steinhausen 2002 Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Elemente der Therapie Pharmakotherapie mit Stimulanzien (Methylphenidat) Verhaltenstherapeutische Methoden Kontingenzprogramme Selbstinstruktionsprogramme Elterntraining Funktionelle Therapien (sensorisch-integrativ oder psychomotorisch) Psychoedukation und Beratung der Eltern Ggf. Sonderpädagogische Maßnahmen Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Pharmakologische Therapie Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Pharmakologische Therapie Produkte: z. B. Ritalin®, Medikinet® Wirkung: Psychostimulanz, amphetaminartig, Erhöhung der Dopaminkonzentration im Gehirn (Vorderhirn, möglich auch Regulation Noradrenalin und Serotonin) bei gesunden Erwachsenen: Steigerung von Antrieb und Wachheitsgefühl, bei Pat. mit ADHS: paradoxe Wirkung. Wirkdauer: 2-4 Std., bei Retardformen auch bis 8 Std. Nebenwirkungen: Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Einschlafprobleme, selten Depressionen) Langzeitfolgen: unbefriedigend untersucht, Mißbrauchspotential (int. Suchtstoffübereinkommen unterstellt jedoch als gering eingeschätzt) medikamentöse Alternativen: derzeit keine Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie Pharmakologische Therapie Indikationen: deutliche Beeinträchtigung im Leistungs- und psychosozialen Bereich, Leidensdruck bei Kindern/ Jugendlichen und Eltern Bei Gefahr für die weitere Entwicklung des Kindes ist die medikamentöse Therapie zwingend indiziert. _________________________________________________ Spontanremissionen gibt es praktisch nie; ohne medikamentöse Behandlung verschlechtert sich die Situation meist zunehmend. Oft sind Übungsbehandlungen (z.B. Logopädie, Ergotherapie) erst bei medikamentöser Therapie der Kinder erfolgreich. Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. Modellstudiengang Medizin /Soziologie Psychologie ….und Jasper (7)? Welche Therapie würden Sie als Eltern – als Arzt/Ärztin bevorzugen? (Befürchtungen – Hoffnungen) Was würde es ggf. für Jasper bedeuten, die Diagnose ADHS zu tragen? Ist er krank oder normal? Stigmatisierung? Was kann Jasper und seinen Eltern helfen, besser mit dem Störungsbild und ggf. der Therapie umzugehen?