Thomas Feist Einleitung „Geistreiche Klänge – Sinnliche Orte“ Den Untersuchungsfeldern der vorangegangenen interdisziplinären Foren zu Popularmusik und Kirche folgend – publiziert in den Bänden 2, 5, 7 und 9 dieser Schriftenreihe – richtete sich der Fokus der hier dokumentierten Tagung Geistreiche Klänge – Sinnliche Orte auf zentrale Elemente, die das Spannungsfeld Kirche und Popularmusik bestimmen. Denn Musik in der Kirche – ob nun traditionell oder eben Popularmusik – lebt immer auch von dem Anspruch, mehr als Musik zu sein. Sie ist als solche nicht nur Medium der Kommunikation des Einzelnen mit seiner Umwelt und somit in sozialräumlichem Sinne relevant, sie ist auch ein grundlegendes ästhetisches Raster, an dem sich Identität generiert, prüft und abbildet. Zudem ist Musik eine vom Menschen als Vermittlungsinstanz genutzte Möglichkeit, sich mit dem Transzendenten, ja dem Göttlichen in Beziehung zu setzen und selbst klingende Botschafterin dieser Beziehung zu sein. Dies gilt zunächst und unmittelbar für den Bereich religiös konnotierter Musik. Darüber hinaus ist diese Aussage jedoch auch auf Musik, die sich als autonom vom Religiösen, ja als von diesem emanzipierte freie Kunst versteht, anzuwenden. Musik bewegt sich immer im Spannungsfeld von individueller Sinngebung und schöpferischem Geist auf der einen sowie gesellschaftlicher Sinn-Überformung und Zeitgeist auf der anderen Seite. Daher mag sie als ein guter Indikator für das Sinnliche und das Geistreiche gelten. Aber sie ist darüber hinaus auch zur näheren Bestimmung von Räumen und Orten brauchbar. Sei es, um Aussagen über den Ort des Geistes oder den Raum des Sinnlichen zu treffen. Sei es, um Räume im Klingen mit Erfahrungen des Räumlichen in der Zeit auszufüllen oder Orte durch ihre Anwesenheit zu anderen zu machen, als sie vorher waren. Sei es, um Räume durch Verringerung von Distanzen zwischen Individuen, sozialen Gruppen oder auch zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen neu oder überhaupt erst zu definieren. Klänge sind dem menschlichen Dasein auch deswegen so ähnlich, weil sie wie wir hier keine bleibende Statt haben. Ihr Aufleuchten ist mit der erstaunlichen Komponente des Wunderbaren verbunden, ihre Erscheinung ist immer wieder neu, immer wieder ergreifend, immer wieder unfassbar. Der Wandel ist ihr Kontinuum bis zum endgültigen Verklingen. Räume dagegen sind fest und beständig. Sie erfüllen die an sie gestellten Erwartungen, sind berechenbar und verlässlich. Als solche sind sie nicht Menschen, sondern eher sozialen Institutionen ähnlich. Genau wie diese sind sie zunächst von Menschen erdacht und gemacht. Einmal realisiert, entfalten sie jedoch ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, die vom Menschen so einfach nicht mehr zu kontrollieren oder zu beeinflussen sind. Räume haben ihre eigenen 10 Thomas Feist Spielregeln. Sie sind Orte, von denen Rahmungen, Festlegungen und Eingrenzungen ausgehen. Gedankengebäude werden zu baulichen Manifestationen ihrer Ideen, zeigen Flagge und markieren Territorien. So ist die christliche Grundlegung unserer Kultur sichtbar vor allem in ihren spezifisch konzipierten und konstruierten Räumen, den Kirchen. Sie geben Auskunft über die ihnen zugrunde liegenden Ideen auch dann noch, wenn diese in unserer Zeit weitgehend als säkularisiert bezeichnet werden oder als gänzlich verschwunden gelten. Umbaute Räume bestimmen demnach in der Gegenwart das Erscheinungsbild von Kirche in der Welt. Sie interpretieren in ihrem Gemacht-Sein theologische Standpunkte und machen so das als wesentlich Erkannte erfahrbar. Auch wenn dies nicht immer ohne Weiteres zugänglich scheint oder sichtbar ist, es wird deutlich vor allem dann, wenn es um den Stellenwert von Kirchen als Gebäuden und besonderen Räumen des Sozialen geht. Nicht ohne Grund macht Neubert in seinem Beitrag, „Sich auf den Weg machen – Zur Bedeutung von Kirche und Kultur morgen“,1 unmissverständlich klar, dass „jede Kirche eine Kulturkirche ist“ und als „Raum der Begegnung“ zentralen Stellenwert in der gegenwärtigen Wahrnehmung von Kirche in der Gesellschaft besitzt. Kommen wir noch einmal zurück auf den Titel des vierten Forums „Popularmusik und Kirche“. Es gilt der Deutlichkeit des Anliegens wegen, die vier Worte der Überschrift noch einmal einzeln auf ihren Gehalt hin zu untersuchen, bevor uns ein abschließendes Bild vom Untersuchungsfeld gelingt. Das Wort „geistreich“ bezeichnet eher eine zu füllende Leerstelle als dass es eine konnotative Zuschreibung im ontologischen Sinne ist. Denn ein vorhandenes Potenzial ist nicht auf Anforderung hin verfügbar. „Geistreich“ bezieht sich folglich auf eine sich situativ verwirklichende Charakteristik, eine in der Möglichkeit begründete Qualität. Auffallend ist dabei, dass der Begriff, der das Gegenteil von „geistreich“ bezeichnet, nicht „geistarm“, sondern „geistlos“ ist. Hier wird beileibe keine quantitative Unterscheidung betrieben, die sich im Einzelfall gewichten, gar messen ließe, sondern ein Urteil gefällt, das zunächst keine Zwischentöne zulässt. Darum wohl auch unsere Schwierigkeit, wenn wir versuchen, die Zuschreibung des Geistvollen auf Musik zu übertragen. Entweder alles oder nichts. „Klänge“ sind, wenn wir den Gebrauch des Begriffes untersuchen, mittlerweile rar geworden. Und damit auch spezifischer in der Zuschreibung der damit verbundenen Eigenschaften. Das unveränderliche, spezifische Moment im Erklingenden wird in der Regel damit bezeichnet. Es geht um das Festgelegte oder Festzulegende, das eindeutig bestimm- und wiedererkennbar ist. Anders als der Sound, der immer auch von zeit- oder ortsgebundenen Kontexten ausgeht und damit eher ein historisch fassbarer Begriff ist, sagt das Wort „Klang“ ebenso wie der Begriff „geistreich“ etwas über latent vorhandene Merkmale aus. Sei es der Klang eines bestimmten Instruments, der „magische Klang“ oder der „Klang der Stille“ – immer wird etwas über charakteristische Zuschreibungen mitgeteilt, die scheinbar 1 Olaf Zimmermann und Theo Geißler (Hrsg.): Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht. Bonn: Deutscher Kulturrat 2007. Einleitung „Geistreiche Klänge – Sinnliche Orte“ 11 überzeitliche Gültigkeit aufweisen. Etwas, worauf man sich verlassen kann. Dabei ist mit „Klang“ noch nichts über die konkrete musikalische Ausformung gesagt. Diese Leerstelle ist kein Mangel, sondern ihr Vorteil. Denn damit wird nichts weniger als die Emanzipation des Erklingenden ausgewiesen. Ein programmatischer Akt, der die Musik zu dem werden lässt, was sie ist: Medium der Kommunikation und Medium, über das kommuniziert wird; in ihrem Inhalt bestimmt und gefasst, in ihrer Form frei und ungebunden. „Geistreiche Klänge“ – dieses Begriffspaar ergibt so gesehen nicht nur Sinn, sondern ist eine folgerichtige Konstruktion. Es geht damit um das Wesentliche. Oder, um es in die heutige Zeit hinein verständlicher auszudrücken: das hier dokumentierte Forum konzentriert sich auf die Hardware, nicht auf die Software. „Geistreiche Klänge“ sagen damit etwas aus sowohl über die musikalische Orientierung der Tagung als auch über deren theologische Ausrichtung. Denn „geistreich“ heißt nicht, den Geist zur eigenen Verfügung zu haben. Dieser weht – wie wir wissen – wo er will. Es bedeutet in seiner Konsequenz aber auch, dass wir nicht diejenigen musikalischen Gattungen, Genres und Formen festlegen können, derer sich der Geist bedient, um in Menschen zu wirken. Wenn wir alles, was erklingt, auf klangliche Qualitäten oder Wesensmerkmale hin beschreiben können, so ist es folgerichtig möglich, in dieser Klanggestalt auch Orte des Geistes zu verorten. Aus genau demselben Grund, aus dem jeder Mensch Gottes Ebenbild ist – die geistreichen wie die geistarmen. So könnte man über den Umweg der Theologie zur vorurteilsfreien Betrachtung von Musik kommen, zu den im Titel genannten geistreichen Klängen. Auch das zweite Begriffspaar erscheint auf den ersten Blick schwierig. Vor allem wohl deshalb, weil es ungewohnt klingt. Da scheint – uns unbewusst, aber dennoch deutlich – ein Fehler in der Konstruktion zu stecken, den wir uns weigern zu akzeptieren. Wir kennen sinnliche Momente, sinnliche Lippen, sinnliche Düfte. Aber „sinnliche Orte“? Die wenigen Assoziationen, die uns dazu einfallen, scheinen nicht das zu beschreiben, was gemeint ist. Aber was ist es dann? „Sinnlich“ ist – ganz im Gegensatz zu „geistreich“ – die Beschreibung von etwas Flüchtigem. Die Offenbarung der physischen Qualität im ästhetischen Prozess ist damit gemeint, nichts Abschließendes, nichts Wesenhaftes, sondern ein temporäres, nicht planbares Aufleuchten bestimmter Qualitäten, die wir in Ermangelung eines emotionalen Kriterienkataloges als „sinnlich“ bezeichnen. Hierin ist etwas gesagt über die Verwandtschaft des Sinnlichen im allgemeinen Verständnis zum spezifischen Erlebnis im Moment des Erklingens von Musik. Berührt mich diese nicht nur rational, sondern vor allem auch emotional, dann kann dieses Erlebnis im Ergebnis ein im wahrsten Sinne des Wortes sinnliches sein. Das heißt, im Moment der Musikrezeption generiere ich aus dem Erklingenden sinnlich fassbare Orientierungen, die es vermögen, physische und psychische Prozesse in emotionaler Form zu kanalisieren, ohne das Rationale auszublenden.2 2 Vgl. Thomas Feist: Musik als Kulturfaktor. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2005. 12 Thomas Feist Der einzige Begriff im Tagungsmotto, der scheinbar keiner Erklärung bedarf, ist der des Ortes. Allerdings täuscht dieser erste Eindruck. Der Begriff des Ortes ist durch seine Verwendung in den unterschiedlichsten Kontexten und auf den verschiedensten Ebenen zumindest eines mit Sicherheit: ein unsicherer Kantonist, ein Begriffs-Chamäleon, ein Kreuzungspunkt vieler Perspektiven. Ob in Realtime virtuell oder ganz bodenständig und beständig, der Begriff „Ort“ öffnet Raum für alle Arten von Orten und Verortungen: Er schafft die Matrix für die Betrachtung der Gleichzeitigkeit von Raum und Zeit, er ist der Platz, in dem Kommunikation ermöglicht wird. Kommunikation beginnt und endet gleichermaßen an einem räumlich und zeitlich fixierbaren Ort. Dabei birgt der Ort sowohl unveränderliche, wesensgleiche Ausprägungen als auch das Moment des Momentanen in sich. Unveränderlich deshalb, weil sich Kommunikation immer nur am zeitlichen und räumlichen Ort in Kommunikationsakten manifestiert und dadurch in ihrem Gesamtprozess ablesen lässt. Flüchtigkeit deswegen, weil der Ort immer durch Festlegung einer Perspektive entsteht. Er wird nur durch die Art der Anschauung zu dem, was er ist. Man muss ihn immer neu „ver-orten“. Dies geschieht am besten und am nachhaltigsten mit der gleichzeitigen Bewusstmachung des eigenen Beobachtungsortes. Der Ort ist sozusagen eine kommunikativ festgelegte Beschreibung von Beobachtungsmodalitäten, die durch ihre Verortung räumlich und zeitlich bestimmbar sind. So gesehen sind „sinnliche Orte“ kommunikativ bestimmte Austragungsplätze ästhetischer Beobachtung. Es geht heute, im Zeitalter der milieuorientierten Kirchenmitgliederuntersuchungen im Hinblick auf die Zukunft der Kirche vor allem um die Notwendigkeit der Transformierung theologischer Erkenntnisse und Prämissen in ästhetisch beobachtbare – oder um es kulturkritisch zu formulieren, in konsumierbare –Einheiten mit Erlebnischarakter. So sind wir mit unserem Forum nicht nur mitten im Thema „Popularmusik und Kirche“, sondern auch mittendrin im Trialog zwischen Kirche, Kultur und Gesellschaft. Die hier publizierten Texte basieren auf Referaten, die im Rahmen des vierten interdisziplinären Wissenschaftsforums vorgetragen und diskutiert wurden. Zusätzlich wurden zwei Beiträge aufgenommen, die das Untersuchungsfeld aus ergänzenden Perspektiven beleuchten. Das Forum wurde von einem Fachausschuss des Bundesverbandes Kulturarbeit in der evangelischen Jugend (bka) in Kooperation mit dem Evangelischen Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik am Michaeliskloster Hildesheim konzipiert, vorbereitet und durchgeführt. Diesem Fachausschuss gehörten an: – – – – Dr. Jochen Arnold, Theologe und Kirchenmusiker, Direktor des Michaelisklosters Hildesheim, Markus Baum, Journalist und Ausbildungsleiter beim ERF, Wetzlar, Eckart Bücken, Kulturpädagoge und Autor, Faßberg, Erhard Dan, Theologe und Popularmusiker, Saarbrücken, Einleitung „Geistreiche Klänge – Sinnliche Orte“ – – 13 Dr. Thomas Feist, Musikwissenschaftler und Leiter des Referats Jugendkultur beim Landesjugendpfarramt Sachsen, Vorsitzender des bka, Leipzig, Wolfgang Teichmann, Musikpädagoge und Kirchenmusiker, Dozent und Kirchenmusikdirektor in der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik, Hildesheim. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Frau Gisela Klapproth von der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik Hildesheim wäre die Tagung so nicht durchführbar gewesen. Ein besonderer Dank geht an Frau Heidi Traub aus Wildbach, die nicht nur als Schatzmeisterin des bka für das Forum tätig war, sondern sich wie selbstverständlich überall dort einbrachte, wo Hilfe nötig wurde. Nicht in Textform aufgenommen werden konnte der Workshop zum liturgischen Tanz, den Prof. Dr. Siegfried Macht aus Bayreuth durchführte, sowie das von Martin Pepper gestaltete Abendkonzert. Wir danken an dieser Stelle allen Referenten, die uns freundlicherweise ihre Manuskripte zur Bearbeitung und zum Druck überließen. Ein herzlicher Dank geht an unsere Lektorin, die Kulturwissenschaftlerin Andrea Cramer, für ihre kritische wie anregende Tätigkeit in der Überarbeitung und inhaltlichen Ausrichtung der zum Teil sehr unterschiedlichen Beiträge, die sie überaus professionell und zeitnah durchführte und so wesentlich zum Gelingen der Druckfassung beitrug. Ein freundschaftlicher Gruß geht an den „Erfinder“ der interdisziplinären Tagungen „Popularmusik und Kirche“, den Kirchenmusiker und Hymnologen Prof. Wolfgang Kabus, Augsburg. Ohne seine gründliche Vorarbeit, die Leitlinien auch für dieses nunmehr vierte Forum aufzeigte, seine Beharrlichkeit „in den Dingen“ und seine konstruktiv-anregende Begleitung, die ihn als „Verfechter der Sache“, kritischen Freund und weitsichtigen Kirchenmann kennzeichnen, wären weder das Forum noch diese Veröffentlichung denkbar. Leipzig, im Herbst 2007 Thomas Feist Last but not least: Dr. Thomas Feist hat durch seine überaus aktive Mitarbeit und fachliche Kompetenz wesentlich zur Profilierung des nun vorliegenden Bandes der Friedensauer Schriftenreihe beigetragen. Die Theologische Hochschule Friedensau dankt für seinen großartigen Einsatz. Wolfgang Kabus, Herausgeber 14 Thomas Feist