Seminartagsreader Philosophie 1. Historischer Materialismus 2. Dialektik 3. Marxismus als Philosophie der Praxis 11Philosophie Einleitung: Wer für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung kämpft, hat einen mächtigen Feind. Die kapitalistisch e Klasse stützt ihre Herrschaft nicht nur auf ihre wirtschaftliche Macht und die Waffen des Staates. Sie dominiert auch d ie Weise, wie wir die Welt verstehen. „Die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden", sagte Marx. Ihr wichti gstes Argument ist die Machtlosigkeit des Einzelnen. Uns wird gesagt: Egal, wie schlecht der Kapitalismus funktioniert, er ist immer noch die beste aller möglichen Welten. Eine wirkliche freie, sozialistische Gesellschaft ohne Klassenherrschaft i st nur ein Traum, der nicht verwirklicht werden kann. Das ist nicht wahr. Das ist nur das, was wir denken sollen. Das Netzwerk Marx21 hat sich zur Aufgabe gemacht, einen revolut ionären Pol in der Gesellschaft aufzubauen, der die Herrschenden mitsamt ihren Ideen bekämpft. Um Menschen dafür zu g ewinnen ist es notwendig, dass jeder Einzelne von uns am Arbeitsplatz, in der Schule, der Universität oder im Gespräc h mit Freunden in der Lage ist, den herrschenden Argumenten etwas entgegenzusetzen. Eine revolutionäre Praxis erforder t eine revolutionäre Theorie. Diese Theorie nennen wir Marxismus. Dieser Reader ist Teil einer Reihe von Schulungstexten, die helfen sollen, eine neue Generation von Sozialistinnen un d Sozialisten in die Grundlagen des Marxismus einzuführen. Sie dient auf dem jährlich stattfindenden Kongress „Marx is M uss" als Basis für eine gemeinsame Diskussion in den Seminaren. Darüber hinaus bieten sie in ihrer Gesamtheit die Möglichke it, sich einen umfassenden Überblick in den Themenbereichen Ökonomie, Philosophie, Klassenkampf, Staat, Frauenunterdrüc kung, Rassismus und Parteitheorie zu verschaffen. Weil es keine Sphäre gibt, in die die Ideenproduzenten der herrschend en Klasse nicht vordringen würden, müssen auch wir fähig sein, auf allen diesen Themenbereichen Antworten auf die Frag en und Widersprüche des Alltags zu liefern. Einleitung Philosophiereader: Die philosophische Methode ist zunächst nichts anderes, als der Versuch anhand von theoretisch-begrifflichen Analysen die Welt in der wir leben zu verstehen. Sie sucht nach Erklärungen für die Entwicklungen in der Welt, fragt nach Gesetzmäßig keiten im gesellschaftlichen Leben, will das Wesen des Menschen innerhalb dieser Welt begreifen, klären wie wir zu Erk enntnis gelangen und ab und an fragt sie auch nach der Veränderbarkeit der Welt. Auch Marx hat sich diese philosophischen Fragen gestellt. Seine Antworten wurden zum Ausgangspunkt der marxistisc hen Tradition. Obwohl Marx einst in seiner berühmten elften Feuerbachthese anderes zu sagen scheint: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern", erarbeitete er eine besondere Philosophie. Keineswegs ging es ihm nämlich in der elften Feuerbachthese darum, das philosophischen Denken allgemein f ür absurd zu erklären. Vielmehr erkannte er, dass es an der Zeit war, eine neue Philosophie zu erarbeiten, die dazu in der L age sein würde, die Welt zu hinterfragen um auf eine Welt jenseits der gegebenen hinzudeuten. So entwickelte Marx ein e Philosophie, die die bisherigen philosophischen Theorien (insbesondere den deutschen Idealismus und hier vor allem H egel) revolutionierte. In diesem Seminar wollen wir uns die Marxsche Philosophie genauer angucken und versuchen zu verstehen, was das Bes ondere dieser Philosophie ist. Dazu werden wir uns in zwei größeren Blöcken, die grundlegende Marxsche philosophische Methode aneignen: Im ersten Teil versuchen wir dementsprechend zu verstehen, was es bedeutet, wenn Marx einfordert, dass die Welt „historisch-materialistisch" zu begreifen ist!? Dazu lesen wir Auszüge aus der „Deutschen Ideologie", die Marx zusammen mit seinem Freund Friedrich Engels um 1845 verfasst hat. Im Unterschied zu den anderen Philosophen seiner Zeit - mit denen er in der deutschen Ideologie abrechnet - beginnt Marx bei den Menschen. Ausgehend von diesen tätige Indiv iduen entwickelt er schließlich seine Philosophie über die Welt. Begleitend zu den originalen Textausschnitten werden wir einen Einführungstext von Frank Renken hinzuziehen, der knapp die grundlegenden Thesen des „Historischen Materialism us" zusammenfasst. Im zweiten Teil wollen wir uns dann konkreter mit der dialektischen Methode auseinandersetzten. Dazu lesen wir ein en Abschnitt aus dem Buch „The point is to change it" von John Molyneux (sozialistischer Schriftsteller und Aktivist). Molyn eux gelingt es mit der großen Mystik über die Dialektik zu brechen und in sehr verständlicher Art und Weise nahezulegen, 21Philosophie dass die Dialektik eben kein Hexenwerk ist, sondern eine sehr zugängliche und zugleich revolutionierende Denkmethode. Zum Abschluss - wenn wir also die zwei großen Grundsteine der Marxschen Philosophie erfasst haben - wollen wir gem einsam resümieren, warum die Marxsche Philosophie nicht nur eine besondere Philosophie ist, sondern auch eine, die not wendig revolutionär ist - d.h. die Welt nicht nur interpretieren will, sondern vor allem sie verändern will. Dazu wollen wir ei nen Blick in die so genannten Feuerbachthesen wagen. Marx hat die Thesen 1845, wahrscheinlich in Vorarbeit zur Deutsc hen Ideologie verfasst. Sie sind zwar nur kurz, aber unglaublich tiefgehend. Engels hat einmal gesagt: „Es sind Notizen für spätere Ausarbeitung, rasch hingeschrieben, absolut nicht für den Druck bestimmt, aber unschätzbar als das erste D okument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt ist." Diesen „genialen Keim" beschreiben auch d ie kurzen Auszüge aus dem Text von Milan Kangrga ("Der Sinn der Marxschen Philosophie"). Kangrga zeigt beeindrucken d, wieso die Marxsche Philosophie eine Philosophie der Praxis ist, die in die Zukunft weist und uns zeigt, dass die Welt in d er wir leben veränderbar ist. Weiterlesen: • John Molyneux: The point is to change it - an introduction to marxist philosophy (Paperback, 2012) • Alex Callinicos: Die revolutionären Ideen von Karl Marx (VSA, 2011) • Karl Marx: - Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. MEW Bd. 40, • Karl Marx/Friedrich Engels - Deutsche Ideologie MEW Bd. 3 • Friedrich Engels: - Anti Dühring MEW 20 • Antonio Gramsci: Einführung in sein Werk durch Chris Harman, Broschüre von Marx21 • Zum ersten Nachschlagen: Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) (Argument Verlag) Philosophie13 Teil 1: Was ist der historische Materialismus? Karl Marx, „Die deutsche Ideologie" (Auszüge) 1. Die natürlich-materiellen Voraussetzungen der Geschichte und des Bewußtsein s Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzung en, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materielle n Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar. Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der e rste zu konstatierende Tat- bestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Ver hältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch a uf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, orohydrographischen, klimatischen und an dern Verhältnisse, eingehen. Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation i m Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen. Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren untersch eiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren , ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, pro duzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst. Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefunden en und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrac hten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die I ndividuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie pro duzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihre r Produktion. Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmte n gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusam menhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmt er Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, son dern wie sie wirklich sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von i hrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind. Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigke it und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie 41Philosophie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bed ingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu sein en weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der M enschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Cam era obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen eben sosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Er de zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstel len, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen M enschen anzukommen; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß a uch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Geh irn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzunge n geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden B ewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben kei ne Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mi t dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem l ebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individu en selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein. II. Die praktisch-aktive, geschichtliche Auffassung des Materialismus [...] sich in Wirklichkeit und für den praktischen Materialisten, d.h. Kommunisten, darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern. Wenn bei Feuerbach sich zuweilen de rartige Anschauungen finden, so gehen sie doch nie über vereinzelte Ahnungen hinaus und haben auf seine allgemeine Anschauu ngsweise viel zuwenig Einfluß, als daß sie hier anders denn als entwicklungsfähige Keime in Betracht kommen könnten. Fe uerbachs "Auffassung" der sinnlichen Welt beschränkt sich einerseits auf die bloße Anschauung derselben und andrerseit s auf die bloße Empfindung, er sagt "den Menschen" statt d[ie] "wirklichen historischen Menschen". "Der Mensch" ist realit er [in Wirklichkeit] "der Deutsche". Im ersten Falle, in der Anschauung der sinnlichen Welt, stößt er notwendig auf Dinge, die seinem Bewußtsein und seinem Gefühl widersprechen, die die von ihm vorausgesetzte Harmonie aller Teile der sinnlic hen. Welt und namentlich des Menschen mit der Natur stören. Um diese zu beseitigen, muß er dann zu einer doppelten A nschauung seine Zuflucht nehmen, zwischen einer profanen, die nur das "auf platter Hand Liegende", und einer höheren, philosophischen, die das "wahre Wesen" der Dinge erschaut. Er sieht nicht, wie die ihn umgehende sinnliche Welt nicht e in unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gese llschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte. Selbst die Gegenstände der einfachsten "sinnlichen Gewißheit" sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in uns re Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der "sinnlichen Gewißheit" Feuerbachs gegeben. Die Industrie und der Handel, die Produktion und der Austausch der Lebensbedürfnisse bedingen ihrerseits und wer den wiederum in der Art ihres Betriebes bedingt durch die Distribution, die Gliederung der verschiedenen gesellschaftliche n Klassen - und so kommt es denn, daß Feuerbach in Manchester z.B. nur Fabriken und Maschinen sieht, wo vor hundert Jahren nur Spinnräder und Webstühle zu sehen waren, oder in der Campagna di Roma nur Viehweiden und Sümpfe entde ckt, wo er zur Zeit des Augustus nichts als Weingärten und Villen römischer Kapitalisten gefunden hätte. Philosophie15 Feuerbach hat allerdings den großen Vorzug vor den "reinen" Materialisten, daß er einsieht, wie auch der Mensch "sinn licher Gegenstand" ist; aber abgesehen davon, daß er ihn nur als "sinnlichen Gegenstand", nicht als "sinnliche Tätigkeit" faßt, da er sich auch hierbei in der Theorie hält, die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange, ni cht unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen, die sie zu Dem gemacht haben, was sie sind, auffaßt, so kommt er nie z u den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum "der Mensch" stehen und bringt es n ur dahin, den "wirklichen, individuellen, leibhaftigen Menschen" in der Empfindung anzuerkennen, d.h., er kennt keine an dern "menschlichen Verhältnisse" "des Menschen zum Menschen", als Liebe und Freundschaft, und zwar idealisiert. Gibt keine Kritik der jetzigen Lebensverhältnisse. Er kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen, und ist daher gezwungen, wenn er z.B. statt gesunder Menschen einen Haufen skrofulöser, überarbeiteter und schwindsüchtiger Hungerleider sieht, da zu der "höheren Anschauung" und zur ideellen "Ausgleichung in der Gattung" seine Zuflucht zu nehmen, also gerade da in den Idealismus zurückzufallen, wo der kommunistische Materialist die Notwendigkeit und zugleich die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederung sieht. Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zie ht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander, was sich übrigens schon aus dem Gesagten erklärt. III. Herrschaft und Ideologie Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche d ie herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mitt el zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen s ind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die al s Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschen den machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter Anderm auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschi chtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Andern auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind. Zu einer Zeit z.B. und in einem Lande, wo königlich e Macht, Aristokratie und Bourgeoisie sich um die Herrschaft streiten, wo also die Herrschaft geteilt ist, zeigt sich als herr schender Gedanke die Doktrin von der Teilung der Gewalten, die nun als ein "ewiges Gesetz ausgesprochen wird. Die Teilung der Arbeit, die wir schon oben als eine der Hauptmächte der bisherigen Geschichte vorfanden, äußert sic h nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse d er eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt (die aktiven konzeptiven Ideologen derselben, welche die Ausbildung de r Illusion dieser Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweige machen), während die Andern sich zu diesen Ge danken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in der Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klass e sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen und Gedanken über sich selbst zu machen. Innerhalb dieser Klasse kann diese Spaltung derselben sich sogar zu einer gewissen Entgegensetzung und Feindschaft beider Teile entwickeln, d ie aber bei jeder praktischen Kollision, wo die Klasse selbst gefährdet ist, von selbst wegfällt, wo denn auch der Schein verschwindet, als wenn die herrschenden Gedanken nicht die Gedanken der herrschenden Klasse wären und eine von d er Macht dieser Klasse unterschiedene Macht hätten. Die Existenz revolutionärer Gedanken in einer bestimmten Epoche setzt bereits die Existenz einer revolutionären Klasse voraus, über deren Voraussetzungen bereits oben das Nötige gesa gt ist. Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrsc henden Klasse los, verselbständigt man sie, bleibt dabei stehen, daß in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die Produzenten dieser Gedanken zu bekümmern, läßt man also die den Gedanken zugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z.B. sagen, daß während der 61Philosophie Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Fr eiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnitt ein. Diese Geschichtsauf fassung, die allen Geschichtschreibern vorzugsweise seit dem achtzehnten Jahrhundert gemeinsam ist, wird notwendig au f das Phänomen stoßen, daß immer abstraktere Gedanken herrschen, d.h. Gedanken, die immer mehr die Form der Allge meinheit annehmen. Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon u m ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustel len, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgem ein gültigen darzustellen. Die revolutionierende Klasse tritt von vornherein, schon weil sie einer Klasse gegenübersteht, ni cht als Klasse, sondern als Vertreterin der ganzen Gesellschaft auf, sie erscheint als die ganze Masse der Gesellschaft geg enüber der einzigen, herrschenden Klasse. Sie kann dies, weil im Anfange ihr Interesse wirklich noch mehr mit dem geme inschaftlichen Interesse aller übrigen nichtherrschenden Klassen zusammenhängt, sich unter dem Druck der bisherigen Ve rhältnisse noch nicht als besonderes Interesse einer besonderen Klasse entwickeln konnte. Ihr Sieg nutzt daher auch viele n Individuen der übrigen, nicht zur Herrschaft kommenden Klassen, aber nur insofern, als er diese Individuen jetzt in d en Stand setzt, sich in die herrschende Klasse zu erheben. Als die französische Bourgeoisie die Herrschaft der Aristokratie stürzte, machte sie es dadurch vielen Proletariern möglich, sich über das Proletariat zu erheben, aber nur, insofern sie Bo urgeois wurden. Jede neue Klasse bringt daher nur auf einer breiteren Basis als die der bisher herrschenden ihre Herrscha ft zustande, wogegen sich dann später auch der Gegensatz der nichtherrschenden gegen die nun herrschende Klasse um so schärfer und tiefer entwickelt. Durch Beides ist bedingt, daß der gegen diese neue herrschende Klasse zu führende Ka mpf wiederum auf eine entschiedenere, radikalere Negation der bisherigen Gesellschaftszustände hinarbeitet, als alle bisheri gen die Herrschaft anstrebenden Klassen dies tun konnten. Dieser ganze Schein, als ob die Herrschaft einer bestimmten Klasse nur die Herrschaft gewisser Gedanken sei, hört nat ürlich von selbst auf, sobald die Herrschaft von Klassen überhaupt aufhört, die Form der gesellschaftlichen Ordnung zu s ein, sobald es also nicht mehr nötig ist, ein besonderes Interesse als allgemeines oder "das Allgemeine" als herrschend darzustellen. Philosophie17 Frank Renken, „Die Entmystifizierung der Philosophie: Die Kritik von Marx und Engels an den Junghegelianern" (Auszüge) Feuerbach: Halb Materialist, halb Idealist Marx fordert in der Heiligen Familie mit Feuerbach, daß „die Philosophie aus dem Himmel der Spekulation in die Tie fe des menschlichen Elendes herabzusteigen habe", um die Welt zu begreifen. Genau das wird in der Deutschen Ideologi e kritisiert: Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird h ier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorge stellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirkl ich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der id eologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.Marx und Engels gehen also vom Menschen als einem tätigen Individuum aus, dessen Leben in einem Prozeß begriffen ist. Der Mensch schwebt nicht im luftleeren Raum, sondern muß arbeiten, um zu existieren: Die Menschen müssen im stande sein, „zu leben, um 'Geschichte machen' zu können. Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erz eugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst. " Die menschliche Arbeit hat bei Marx und Engels zwei wichtige Dimensionen. Zum einen wohnt ihr eine spezifische Eige ndynamik inne. Sie besteht nicht aus einem fixierten Instrumentarium von Tätigkeiten, das eine fixierte Anzahl von Bedürfnis sen befriedigt. In dem Moment, in dem der Mensch anfängt, zu produzieren, entwickeln sich immer neue Bedürfnisse. Er is t, anders als andere Tiere, in der Lage, diese Bedürfnisse bewußt zu reflektieren und seine Tätigkeiten und Fähigkeiten entspr echend zu erweitern. Zum andern befindet sich der Mensch durch diese bewußte Tätigkeit, durch die Produktion seiner Lebensmittel in ein em aktiven Wechselverhältnis zur Natur, die sowohl den Menschen selbst als auch seine natürliche Umgebung stetig transfor miert: So sehr ist diese Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion d ie Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, wie sie jetzt existiert, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbr ochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, so ndern auch die ganze Menschenwelt und sein eigenes Anschauungsvermögen, ja seine Eigne Existe nz sehr bald vermissen würde." In Feuerbachs Konzept von der „Sinnlichkeit" befindet sich der Mensch in einem passiv-rezeptiven Verhältnis zur umgeben den Natur. Marx kritisiert dies in seinen Thesen über Feuerbach entsprechend: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialism us (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des O bjekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnliche menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zum Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkei t als solche nicht kennt - entwickelt."" Marx definiert deshalb Feuerbachs Materialismus als anschauenden Materialismus: Das Höchste, wozu dieser „anschau ende Materialismus kommt, d.h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Ans chauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft." Da Feuerbach den Menschen nicht in seiner Tätigk 81Philosophie eit versteht, sieht er ihn nicht in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang. Er anerkennt, daß die Menschen einander nöti g haben. Doch bleibt bei ihm die Gesellschaft eine Kollektion von Individuen, die folglich nur vom Verhalten, von der Einste llung des Individuums aus verändert werden kann. Deshalb fiel Feuerbach auch in „allgemeinen Versöhnungsdusel" zurüc k und formulierte als Ersatz für eine gesellschaftsverändernde Theorie eine eigene „Liebesreligion", so Engels später, d eren abstrakter, universaler Zuschnitt wie jede moralistische Konzeption unanwendbar und darum unwirksam bleiben mußt e. Im Unterschied zu Stirner und Bauer hat Feuerbach als Materialist das Ziel, die Illusion von der Herrschaft der Gedank en über die reale Welt zu bekämpfen. Allerdings geht es ihm dabei nur um den Austausch dieser Einbildungen mit Gedanke n, die dem Menschen entsprechen: „Er will, ... wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes F aktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, dies Bestehende umzustürzen." Dies ist der Grund, warum Engels ihn als Philosophen bezeichnete, der auf halben Wege stehen geblieben sei, der „unten Materia list, oben Idealist" war." Das heißt: Feuerbach hat den Menschen zur Voraussetzung der Religion erklärt, ihn aber im selbe n Moment in idealisierender Weise verselbständigt. Da der Mensch bei Feuerbach ohne wechselseitige, ohne aktive Beziehung zu seiner Umgebung steht, bleibt er ahistori sch. Der „Kultus des abstrakten Menschen", wie Engels es formulierte, tritt an die Stelle einer realen geschichtlichen Bewe gung. Feuerbach „sieht nicht, wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich st ets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist ... Selbst die Gegenstände der einfachsten 'sinnlichen Gewißheit' sind ihm nur durch die g esellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben. Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbä ume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der 'sinnlichen Gewißheit' Feuerbachs gegeb en." Marx und Engels fassen ihre Kritik an Feuerbachs nur anschauenden Materialismus in einem Satz zusammen: Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschic hte in Betracht zieht ist er kein Materialist. Im Gegensatz dazu wurde der neue Materialismus, wie er das erste Mal in der Deutschen Ideologie zum Ausdruck kam, p assend als historischer Materialismus bezeichnet. Dessen Ausgangspunkt ist nicht „der" Mensch an sich, sondern der pro duzierende Mensch. Die Geschichte findet ihre Voraussetzung in der Entwicklung der Produktivkräfte, mit der sich die Teilu ng der Arbeit entwickelt. Folglich ist der historische Materialismus eine Klassentheorie: „Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsa men Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Mensc hen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlic h die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufge drängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, we nn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will ... Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre B erechnungen zunichtemacht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung..." Die Teilung de r Arbeit bedingt die Existenz von „Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht. Hieraus folgt, daß alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokrat ie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen K ämpfe der verschiednen Klassen untereinander geführt werden."" Wir haben weiter oben gesehen, wie Marx anhand des Weberaufstandes rein empirisch das Proletariat „als das täti ge Element" der Befreiung der Gesellschaft entdeckte. In der materialistischen Konzeption der deutschen Ideologie ersch eint diese Auseinandersetzung nicht mehr als ein „irregulärer" Ausschlag im historischen Kontext. Er war nur die bis dat Philosophie19 o heftigste Erscheinungsform eines Klassenkonflikts, der permanent in Latenz schwelt und vorwiegend in Krisenzeiten gew alttätig zum Ausbruch kommt. Marx und Engels haben dem Kommunismus auf theoretischem Wege das erste Mal eine Klas senbasis verschafft. „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirk lichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand auf hebt." Der Kommunismus: das ist die Aktion des Proletariats. Erziehung oder Selbsterziehung Feuerbachs Materialismus fällt in einem weiteren Aspekt in den Idealismus zurück. Bei Feuerbach nämlich steht d er Philosoph genauso über der Gesellschaft wie beim Idealisten Bauer. Marx kommt auf diesen Punkt in seiner dritten Feuerbac hthese zu sprechen: Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Um stände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden."" Der anschauende Materialismus, der das menschliche Bewußtsein auf einen passiven Reflex der materiellen Umständ e reduziert, kann nicht erklären, wie sich die Menschen jemals aus ihrem Elend befreien können. Die menschliche Entfrem dung, die dem Kapitalismus zugrundeliegt, korrumpiert das Individuum, erniedrigt und stumpft es ab. Erst in einer freien, i n einer sozialistischen Gesellschaft kann die Entfremdung überwunden werden. Wie kann aber nach Feuerbach eine korr umpierte, erniedrigte, abgestumpfte Masse jemals ihre eigenen Interessen erkennen? Wie können die Kinder einer Klass engesellschaft jemals über den Rahmen dieser Gesellschaft hinausblicken? Nur dann, wenn eine aufgeklärte Minderheit di e Masse über ihren Interessen aufklärt, sie erzieht und stellvertretend für die Masse die Gesellschaft befreit. Die aufgeklä rte Minderheit, die Erzieher, schwebt unerklärlicherweise über der kapitalistischen Gesellschaft mit all ihren Gegensätzen und all ihrer abstumpfenden Wirkung, eine Position, die ganz der idealistischen Vorstellung Bauers entspricht." Doch, wer erzieht den Erzieher? Diese Frage zieht sich bei Marx wie ein roter Faden von den ersten Artikeln in der Rheinischen Zeitu ng bis in die Deutsche Ideologie durch. So heißt es in einem Artikel über die Preßfreiheit von 1842 bereits: „Was sich entwickelt, ist unvollkommen. Die Entwi cklung endet erst mit dem Tode. Also bestünde die wahre Konsequenz darin, den Menschen totzuschlagen, um ihn aus diesem Zustand der Unvollkommenheit zu erlösen. So schließt wenigstens der Redner, um die Preßfreiheit totzuschlagen. D ie wahre Erziehung besteht ihm darin, den Menschen sein ganzes Leben durch in der Wiege eingewickelt zu halten, denn sobald der Mensch gehen lernt, lernt er auch fallen, und nur durch das Fallen lernt er gehen. Aber wenn wir alle Wickelkin der bleiben, wer soll uns einwickeln? Wenn wir alle in der Wiege liegen, wer soll uns wiegen?... Das Unvollkommene bedarf der Erziehung. Ist die Erziehung nicht auch menschlich, daher unvollkommen? Bedarf die Erziehung nicht auch der Erziehung? " [...] Was Engels aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen in England begriffen hatte, wurde in der Deutschen Ideologi e theoretisch verallgemeinert. Der Sozialismus bleibt Utopie, wenn er nicht aus den Kämpfen der bestehenden Gesellschaf t hervorgeht. Das heißt, wenn sich seine Anhänger nicht aus der Klasse rekrutieren, „welche alle Lasten der Gesellschaft z u tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausdrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das B ewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürl ich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann...“ Wie kann jedoch die Arbeiterklasse zu diesem kommunistischen Bewußtsein kommen? Marx war weit davon entfernt, n un anstelle der Philosophen das Proletariat heilig zu sprechen, das in keiner Weise aufgrund seiner bloßen Stellung in 101Philosophie der Gesellschaft revolutionär wird. Sondern, es ändert das Bewußtsein, wenn es sich innerhalb dieser Stellung zu beweg en anfängt. Durch die Praxis, in die es durch seine soziale Stellung hineingezwungen wird, völlig unabhängig von dem m omentanen Stand seines Bewußtseins. Vorweggenommen ist diese Idee in der Heiligen Familie: „Es handelt sich nicht d arum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, w as es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.' Zuerst ist die Tat, das Bewußtsein folgt. Es ist nicht die Aufgabe der Sozialisten, den Erzieher der Klasse zu spielen, son dern innerhalb der bestehenden Kämpfe der Klasse auf deren erfolgreichen Ausgang hinzuwirken. Die Klasse erzieht sich in ihren Kämpfen selbst, so wie sie in Abwesenheit eigener Aktivität durch ihr Elend korrumpiert wird.t Die Revolution als Motor der Geschichte erhält so eine weitere Dimension, die der Selbstbefreiung. Die von Marx und Engels entwickelte Geschichtsauffassung laufe schließlich darauf hinaus, daß sowohl zur massenh aften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränder ung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffe n und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden. Kurzum: „In der revolutionären Tätigkeit fällt das S ich-Verändern mit dem Verändern der Umstände zusammen." Philosophie111 Teil 2: Die dialektische Methode Aus: John Molyneux, The point is to change it. An introduction to Marxist philosoph y (2012) Dialektik Wie wir bereits bemerkt haben, war Marx keineswegs der erste Materialist, aber der erste dialektische Materialist. W eil die historische Entwicklung für ihn von materiellen Kräften und Interessen angetrieben wurde statt bloß von Ideen, hiel t er den Prozess des Wandels auch nicht für fließend, langsam, mechanisch oder automatisch. Der Begriff »Dialektik« hat seinen Ursprung in der alten griechischen Philosophie, wo er die Vorstellung bezeichnete, d urch Debatten oder Dialog zur Wahrheit zu gelangen. Marx hingegen übernahm die Dialektik vom großen deutschen Philos ophen Hegel, der unter dem Eindruck der Französischen Revolution ein umfangreiches philosophisches System entwickelt hatte, in dem die gesamte Weltgeschichte als ansteigende Reihe widerstreitender Ideen betrachtet wurde. Die Dialektik hat einen Furcht einflößenden Ruf. Von allen Kernideen Marx' wird meist die Dialektik für unverständlich, s chwierig oder gar rätselhaft gehalten. Dafür gibt es mehrere Gründe: Schon das Wort findet sich nicht im allgemeinen Spr achgebrauch; sie wird weder in der Schule noch an der Universität gelehrt; sie wird mit Hegel in Verbindung gebracht, der schwer verständlich ist; und vor allem widerspricht sie den Vorstellungen des gemeinen Menschenverstandes und den Erk lärungsmustern, die man für offensichtlich hält. Trotzdem beharre ich auf dem Standpunkt, dass die grundlegenden Idee n der Dialektik gar nicht so schwer verständlich sind. Jeder denkende Arbeiter oder Aktivist kann sie leicht begreifen. … Ich habe bereits gesagt, dass der Prozess der Veränderung für die Dialektik Widersprüche und den Konflikt gegensätzli cher Kräfte beinhaltet. Um ein tieferes Verständnis für die Dialektik zu erlangen, müssen wir diese Behauptung auspacken . Beginnen wir mit der Frage des Wandels. Im Zentrum der Dialektik steht die Grundannahme, dass sich alles veränder t. »Alles« bezieht sich hier auf alles im Universum, von seiner Ganzheit bis zu seinem kleinsten Teilchen. Zunächst befindet sich alles in Bewegung, der grundlegendsten Form der Veränderung, aber alles entwickelt sich auch, wandelt sich, entfalte t sich, altert oder hört zu existieren auf. In diesem Sinn sang Bob Dylan einmal: »Who isn't busy born, is busy dying.« Dieses grundsätzliche Prinzip der Dialektik steht voll und ganz im Einklang mit den Erkenntnissen der modernen Wissensc haft von Kopernikus über Kepler, Newton, Darwin und Einstein bis zur Quantenmechanik und der Urknalltheorie und wir d von ihnen bestätigt. Mit anderen Worten, sie stellt eine längst anerkannte Tatsache dar. Dennoch beinhaltet diese Tatsache äußerst revolutionäre politische Konsequenzen. Sie bedeutet, dass jede existierend e Regierung, jede vorhandene Sozialordnung trotz ihrer scheinbaren Macht und Festigkeit zum Verschwinden verdammt ist . Nun ist die Vorstellung, alle politischen Regierungen seien früher oder später zum Untergang verurteilt, nach dem Sturz d er Bourbonen in der Französischen und dem der Romanows in der Russischen Revolution eine Plattitüde. Aber die Ewigk eit bürgerlicher Sozialverhältnisse, d.h. die des Kapitalismus, bleibt ein zentrales Thema für die bürgerlichen Ideologen - d er Kapitalismus werde überleben, eine Alternative sei undenkbar. Daher rührt auch die befreiende Eigenschaft der Parole » Eine andere Welt ist möglich«. Als Universitätsdozent war ich immer bemüht, die freie Diskussion in meinen Seminaren zu fördern, aber es galt die nicht ganz ernst gemeinte Regel, dass es Studenten verboten war, zu sagen, irgendetwas werde i 121Philosophie mmer so sein. Die Beachtung dieser Regel fanden sie interessanterweise äußerst schwierig. Nach wie vor wollten sie Beha uptungen aufstellen, wie: »Es wird immer ein gewisses Maß an Rassismus geben« oder: »Frauen werden nie die völlige Gl eichstellung erlangen« oder: »Es wird immer Reiche und Arme geben«, aus dem ganz einfachen Grund, dass sie diese Bot schaften ausdrücklich oder stillschweigend seit ihrer Geburt eingeimpft bekommen. Die Dialektik hingegen stellt heraus, dass nichts für immer währt und alles sich in einem täglichen und sekündlichen Prozess andauernder Veränderung befin det. Aber natürlich bildet die fortwährende Veränderung nur einen Aspekt der Frage. Neben der Veränderung herrscht au ch Kontinuität. Die Sonne ging gestern auf und wird auch morgen wieder aufgehen, wie sie es seit Milliarden Jahren getan hat. Frauen waren nicht »immer« schon unterdrückt, sondern bloß für eine beträchtlich lange Zeitspanne und sind es auc h heute noch. Wir wissen, dass sich Berge erheben und wieder senken und Kontinente ihre Gestalt ändern, aber aus der Perspektive einer menschlichen Generation oder selbst dem Großteil der menschlichen Geschichte bleiben sie im We sentlichen, wie sie sind. Der Kapitalismus verändert sich auf vielfältige Weise, aber sein zentraler Trieb, die Kapitalakkumulati on unter Konkurrenz, bleibt über Jahrhunderte bestehen. Für die Bewältigung des Alltagslebens ist das Element der Ko ntinuität häufig von größerer Bedeutung als das des Wandels und die Geschichte des menschlichen Denkens spiegelt das a uch wider. Zwar hat die moderne Wissenschaft gezeigt, dass sich alles wandelt, aber seit Jahrtausenden ging man an die Verände rung in Bezug auf einen festen Hintergrund heran, der sich nicht verändert. Die Sonne und die Sterne bewegten sich am Himmel, aber auf festen Bahnen um eine unbewegliche Erde, die immer noch als Zentrum des Kosmos galt. Tiere und Mensch en lebten und starben, aber die von Gott geschaffenen Arten blieben ohne Veränderung. Über allem hielt man an einer stets unveränderlichen menschlichen Natur fest. Das menschliche Wissen, und das trifft auf die Menschheit insgesamt wie auf die Individuen zu, fängt für gewöhnlich mit der Unterscheidung zwischen »Dingen« und der Feststellung ihrer Eigenschaften an - das ist Sommer, das Winter; di ese Beere ist genießbar, diese giftig; dieses Tier ist ein Hund, dieses eine Katze; dieses Tier ist wild und gefährlich, dieses z ähmbar; das ist meine Mutter, das mein Vater, das ist mein Bruder, das mein Freund. Neben diesen Unterscheidungen wer den Regelmäßigkeiten gesucht, wieder auftretende Muster, die man für »Naturgesetze« hält, wie etwa Newtons erstes Be wegungsgesetzt (dem zufolge die Geschwindigkeit eines Körpers konstant bleibt, bis eine äußere Kraft auf ihn einwirkt) od er das Boyle'sche Gesetz (Druck und Volumen einer festen Menge eines idealen Gases verhalten sich bei gleich bleibend er Temperatur umgekehrt proportional - verdoppelt sich das eine, halbiert sich das andere). Parallel zu dieser Entwicklung praktischer menschlicher Erkenntnisse und Wissenschaften entstand (durch Aristoteles und seine Nachfolger) ein System der Logik, d.h. der Regeln vernünftigen Denkens. Die Logik sollte einem zeigen, ob d as eigene Gesagte, Geschriebene oder Gedachte einen Sinn ergibt. Eine für logisch befundene Annahme musste nicht n otwendig (faktisch) stimmen, konnte aber stimmen. Eine Annahme, die nicht logisch war, d.h. die Regeln der Logik brach, ko nnte nicht stimmen. Die Grundprinzipien der Aristotelischen oder formalen Logik bestehen aus dem »Satz der Identität« u nd dem »Satz vom (unmöglichen) Widerspruch«. Der »Satz der Identität« besagt in symbolischen Begriffen, dass A gleich A ist, eine Unze Gold gleich einer Unze Gold oder - um einen eigentümlichen Gegenstand zu nehmen, Leonardo da Vincis Mona Lisa gleich Leonardo da Vincis Mona Lisa. Der »Satz vom (unmöglichen) Widerspruch« besagt, dass A nicht gleich Nicht-A ist, d.h. die Behauptung, eine Unze Gold sei nicht einer Unze Gold gleich oder die Mona Lisa nicht der Mona Lisa, ergäbe keinen Sinn. Auf Grundlage dieser augenscheinlich »offensichtlichen« Annahmen wurde ein System der Logik oder des vernünftigen Denkens errichtet, das sich durch Syllogismen veranschaulicht. Ein Syllogismus ist eine Reihe von Anna hmen, in denen der Schluss notwendig aus den Voraussetzungen folgt. Zum Beispiel: Alle Menschen sind sterblich. Kim ist ein Mensch. Deshalb ist Kim sterblich. Alle Vögel haben Federn. Pterodaktylen haben keine Federn. Deshalb sind Pterodaktylen keine Vögel. Philosophie113 Die Entwicklung der formalen Logik stellt eine bedeutende geistige Leistung dar und einen beträchtlichen Fortschritt. Sie leistete der Menschheit 2.000 Jahre lang gute Dienste. Trotzdem beruhte sie auf der Abstraktion der »Dinge« aus den Proz essen, von denen sie einen Bestandteil bilden, sie erforderte die Konzeptualisierung des unaufhörlichen Flusses des Leben s in einer Reihe fotografischer Stillleben. In dem Moment, in dem Bewegung und Veränderung in die Gleichung eingehen u nd wir uns daran erinnern, dass Dinge nicht einfach »existieren«, sondern entstehen und vergehen, werden die Sätze der Identität und des (unmöglichen) Widerspruchs verletzt. Engels drückte diese Gegebenheit folgendermaßen aus: Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich, neben- und nacheinander, betrachten, stoßen wi r allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. [...] Soweit dies Gebiet der Betrachtung ausreicht, soweit kommen wir auch mit der gewöhnlichen [...] Denkweise aus. Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten wir s ofort in Widersprüche. Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; sogar schon die einfache mechanische Ortsbe wegung kann sich nur dadurch vollziehen, dass ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Or t und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. [...] Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich enthält, so noch m ehr die höheren Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und sein e Entwicklung. Wir sahen oben, dass das Leben gerade vor allem darin besteht, dass ein Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein anderes ist. (Engels, Anti-Dühring) Erweckt irgendetwas (ein Sandkorn, ein Berg, ein Baum, ein Fisch, ein Mensch, eine Gesellschaft) den Eindruck von Sta bilität und Beständigkeit, dann deshalb, weil es einen bestimmten Moment in einem Prozess des Wandels darstellt. Diese r Moment bildet eine Art Gleichgewicht zwischen den Kräften, die in ihm nach Veränderung streben und denen, die sich ih r widersetzen - eine Einheit der Gegensätze; ebenso bildet die Umlaufbahn der Erde oder jedes anderen Planeten um die Sonne ein Gleichgewicht zwischen der Schwerkraft, die ihn in die Sonne zieht, und der Fliehkraft, die ihn ins All schießen l ässt. Trotzki stellt dasselbe Verhältnis aus einem anderen Blickwinkel dar: Die Aristotelische Logik des einfachen Syllogismus geht von der Behauptung A=A aus. [...] Aber in Wirklichkeit ist »A« nicht gleich »A«. Das lässt sich leicht beweisen, wenn wir diese beiden Buchstaben unter einer Lupe b etrachten, sie unterscheiden sich beträchtlich. Aber, kann man einwenden, es handelt sich nicht um die Größe und Form der Buchstaben, da sie ja nur Symbole für gleiche Quantitäten sind, z.B. für ein Pfund Zucker. Dieser Einwand ist abwegig. In Wirklichkeit ist ein Pfund Z ucker niemals gleich einem Pfund Zucker [...] alle Körper ändern sich unablässig in ihrer Größe, ihr em Gewicht, ihrer Farbe usw. [...] Daher bedeutet das Axiom A=A, dass ein Ding sich selbst gleich ist, wenn es sich nicht verändert, d.h. wenn es nicht existiert. Damit ist die Dialektik eine Logik, eine Wissenschaft der Denkformen, die dazu dient, die Beschränktheit der formale n Logik zu überwinden. Sie bildet die Logik des Wandels, der Entwicklung und der Evolution und deshalb auch der Revoluti on. Die Dialektik entwickelt und nutzt eine Reihe von »Gesetzen« oder »Prinzipien«, die die innere Logik der Veränderung ausdrücken und deshalb äußerst hilfreich bei der Analyse des Wandels aller Art ist, besonders bei der des sozialen Wandel s. Diese Prinzipien beinhalten: den Standpunkt der Totalität, den Standpunkt des Konkreten, die Einheit der Gegensätze, das Umschlagen von Quantität in Qualität, die Negation der Negation. Ich werde auf jeden dieser Grundsätze eingehen. Der Standpunkt der Totalität Isoliert lässt sich keine Erscheinung und kein Vorfall, vor allem kein politisches Phänomen, richtig verstehen oder unter suchen. Man muss es immer in seinem Kontext und seinen Wechselbeziehungen betrachten und zwar nicht nur mit de n direkt angrenzenden Ereignissen und Umständen, sondern in Bezug auf das Gesamtbild des Weltkapitalismus, den inter nationalen Klassenkampf, seine geschichtliche Entwicklung und seinen gegenwärtigen Zustand. Kein Krieg, kein Streik, kei ne Demonstration, kein Kampf, keine Frage usw. kann in Abstraktion vom gesellschaftlichen Leben insgesamt behandelt w erden. 141Philosophie … Der Standpunkt der Totalität bildet gleichzeitig einen philosophischen Grundsatz der Dialektik und ein politisches P rinzip der Arbeiterbewegung. Das ist kein Zufall, denn die Arbeiterklasse ist genau die universelle Klasse, deren Befreiun g die Menschheit insgesamt befreien wird und die Umgestaltung der Gesellschaft erfordert. Außerdem bilden die Interesse n der Gesamtarbeiterklasse den Maßstab, an dem jede Frage beurteilt werden muss. Der Standpunkt des Konkreten »Die Wahrheit ist immer konkret«, pflegte Lenin (in Anlehnung an Hegel) zu sagen. Auf den ersten Blick mutet dieser S atz wie ein Widerspruch zum Prinzip der Totalität an. In Wirklichkeit ergänzt er es. Natürlich muss jedes individuelle Ereig nis zum Ganzen in Bezug gesetzt werden, aber damit verliert es nicht seine Eigentümlichkeit. Das Verhältnis vom Teil zum Ganzen bildet ein eigentümliches Verhältnis eines eigentümlichen Teils zu einem eigentümlichen Ganzen, die sich gegense itig bedingen. … Das Umschlagen von Quantität in Qualität Dieser Punkt bezieht sich auf das zuvor diskutierte Verhältnis zwischen Kontinuität und Wandel. Wie wird eine Sache zu einer anderen? Wie wird Wasser zu Dampf, ein Säugling zu einem Kind und dann zu einem Erwachsenen, ein wirtschaft licher Aufschwung zu einer Krise, ein Gesellschaftssystem (der Feudalismus) zu einem anderen (zum Kapitalismus)? In jed em dieser Beispiele setzt ein Prozess ein, in dem es zu einer allmählichen Häufung quantitativer Veränderungen innerhalb der bestehenden Totalität kommt - bis hin zu einem Punkt, an dem es zur plötzlichen oder relativ plötzlichen Verwandlung im Kern der Totalität insgesamt kommt. Unter der Zugabe von Wärme werden die Moleküle in einem Liter Wasser zunehme nd ausgedehnt, die Temperatur des Wassers steigt, aber es bleibt Wasser, bis bei 100°C ein Extrempunkt erreicht ist und das Wasser zu kochen beginnt, d.h. sich in Dampf verwandelt. Der kapitalistische Wirtschaftsaufschwung läuft auf Hochtouren - die Profite steigen, die Investitionen steigen, die Prod uktion steigt, die Beschäftigung und die Löhne nehmen zu, dann beginnen im Rahmen des Aufschwungs - zunächst unmerkli ch - gegenläufige Entwicklungen aufzutreten: Investitionen in fixes Kapital nehmen im Verhältnis zu Investitionen in Löhn e zu und verlangsamen die allgemeine Profitrate; die Produktion steigt bis zu einem Punkt, an dem sie die Menge übersc hreitet, die der Markt verkraften kann; die Lohnerhöhungen drohen die Profite zu beschneiden. Unversehens (manchmal buchstäblich über Nacht) brechen die Märkte zusammen und der Boom verwandelt sich in eine Krise, in der die Investiti onen fallen, die Produktion abnimmt und Beschäftigung wie Löhne sinken. … Das bereits beschriebene Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative setzt voraus, dass das Objekt ode r die jeweils gegebene Totalität, die sich verändert, eine Einheit von Gegensätzen bildet - ein (vorübergehendes) Gleichge wicht widerstreitender Kräfte. Diese Aussage trifft auf alle Erscheinungen zu - vom einzelnen Atom (das aus einem dichte n zentralen Kern besteht, das von einer Wolke negativ geladener Elektronen umgeben ist, wobei der Kern ein Gemisch po sitiv geladener Protonen und elektrisch neutraler Neutronen bildet) bis hin zur US-amerikanischen »Neuen Weltordnung« (eine m »Gleichgewicht« zwischen der Macht der USA und anti-imperialistischem Widerstand sowie anderer gegensätzlicher Kr äfte). Selbst ein scheinbar lebloses Objekt wie ein Holzstuhl bildet bloß ein relativ stabiles Moment zwischen den Kräften, d ie ihn erschaffen haben, und seinem schließlichen Zerfall, zwischen einem lebendigen Baum und einem Haufen Staub. In se inen kurzen Notizen Zur Frage der Dialektik aus dem Jahr 1915 legt Lenin meines Erachtens zu Recht besonderen Nachdruck a uf diesen Aspekt der Dialektik: Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile [...] ist das Wesen (eine der »Wesenheiten«, eine der grundlegenden, wenn nicht die grundlegende Besonderheit oder Seite) der Dialektik. [...] [Die Einheit der Gegensätze] bedeutet Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander auss chließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft). Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer Philosophie115 »Selbstbewegung«, in ihrer spontanen Entwicklung, in ihrem lebendigen Leben ist die Erkenntnis derse lben als Einheit von Gegensätzen. Entwicklung ist »Kampf« der Gegensätze. Innerhalb des Konzepts der Einheit der Gegensätze beharrt Lenin auch auf der Nachrangigkeit des Elements des »Gleic hgewichts« oder der Stabilität und auf dem Vorrang des Elements des Konflikts, das »zu den »Sprüngen«, zum »Abbrechen d er Allmählichkeit«, zum »Umschlagen in das Gegenteil«, zum Vergehen des Alten und Entstehen des Neuen« führt. Die Ein heit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist. So bildet der Mount Ever est eine Einheit von Gegensätzen - der Kollision tektonischer Platten, die ihn auftürmen, und der Erosionskräfte, die ihn ze rmürben. Wo das Konzept allerdings wirklich zu Buche schlägt, ist die Analyse konkreter politischer Situationen, Regimes u nd Phasen im Klassenkampf. Die Negation der Negation Hier haben wir es mit einem weiteren Begriff von Hegel zu tun, den Marx und Engels gelegentlich aufgriffen, um den dialek tischen Prozess in Worte zu fassen. Er drückt die Tatsache aus, dass bei der Veränderung eines bestehenden Zustands auf grund dessen innerer Widersprüche auch die Kraft des Wandels, die Antithese oder Negation selbst verändert (negiert) wir d und das Ergebnis sowohl Elemente der Vergangenheit enthält als auch einen neuen Zustand (oder eine Synthese) bildet, die weit mehr darstellt als eine bloße Summe ihrer vorherigen Teile. Das mag kompliziert klingen, aber ich hoffe, das oft benutzte Beispiel zu seiner Illustration, das des Übergangs vom Kapit alismus zum Sozialismus, wird Licht ins Dunkel bringen. Der Kapitalismus entwickelt sich nicht allmählich zum Sozialismus , sondern über einen Kampf zwischen gegensätzlichen Kräften, der Bourgeoisie und dem Proletariat. Das Proletariat bilde t die Antithese oder Negation des Kapitalismus und der Bourgeoisie, aber es zerstört den Kapitalismus nicht bloß oder lös t ihn einfach auf; es muss einen großen Teil des wissenschaftlichen, industriellen und kulturellen Erbes der Vergangenheit e rhalten und übernehmen. Gleichzeitig wird das Proletariat mit dem Sturz des Kapitalismus zur neuen herrschenden Klasse und leitet den Prozess zur Errichtung einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft ein, in der das Proletariat aufhört, eine eig ene gesonderte Klasse zu sein - es wird negiert. Engels nutzt Beispiele wie den Lebenszyklus der Gerste vom Korn zur Pflanze und der Wiederherstellung ihrer Samen, d er Schmetterlinge vom Ei über die Raupe und die Puppe zum Vollkerf, wobei jedes Stadium das Prinzip des Wandels durc h seine aufeinander folgenden Negationen illustriert. Es sollte noch erwähnt werden, dass einige Marxisten die Negation d er Negation wegen des deterministischen Gebrauchs des Stalinismus von ihm abgelehnt haben, wo die Ersetzung des Feu dalismus durch den Kapitalismus und die des Kapitalismus durch den Sozialismus (die Negation der Negation) als Naturge setz und damit unvermeidlich dargestellt wurde. Ein derartiger Determinismus wurde wiederum genutzt, um die Autorität d er Parteiführung zu stärken, indem man sie als Verkörperung des vorherbestimmten historischen Schicksals porträtierte. Wenn wir aber alle Konzepte ablehnen, die einmal vom Stalinismus entstellt worden sind, werden wir eines Tages den gan zen Marxismus ausrangiert haben. Tatsächlich gibt es keine Notwendigkeit, die Negation der Negation auf eine derart dete rministische Weise zu interpretieren oder zu gebrauchen. Wenn ich demonstriere, dass ein Kleinkind, um ein hohes Alter z u erreichen, bestimmte Entwicklungsstadien durchlaufen muss - die Säuglingsphase, die Kindheit, die Adoleszenz, die Erwa chsenenphase, das mittlere Lebensalter - beweise und behaupte ich damit nicht, dass diese Stadien zwangsläufig eintreten müssen (da der Prozess etwa von einem frühzeitigen Tod unterbrochen werden kann) oder der Verlauf des Prozesses in je dem einzelnen Fall gleich aussieht oder man nicht aktiv in den Prozess eingreifen müsste, um ihn zu unterstützen. Im Übrigen trifft dieses Argument auf alle deterministischen Interpretationen der Dialektik insgesamt zu. Die Dialektik ver steht und reflektiert die Logik natürlichen und gesellschaftlichen Wandels, aber an sich beweist sie nicht (und sollte es a uch nicht behaupten), dass jede einzelne Veränderung auch zwangsläufig eintreten muss. In der Geschichte des Marxismus kam es zu einer gewichtigen Debatte der Frage, ob die Dialektik auch auf die Natur anw 161Philosophie endbar ist, wie Engels behauptet, oder auf den Bereich der menschlichen Geschichte beschränkt werden muss. Die Kontrover se begann mit einer Fußnote, die Engels in vom ungarischen Marxisten Georg Lukacs verfassten Geschichte und Klasse nbewusstsein kritisiert: Die Missverständnisse, die aus der Engels'schen Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wes entlich darauf, dass Engels - dem falschen Beispiel Hegels folgend - die dialektische Methode auc h auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung d es Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken etc. in der Naturerkenntnis nic ht vorhanden sind. Dieses Argument wurde dann von einer Vielfalt marxistischer Philosophen (und Marx-Kommentatoren) einschließlich K arl Korsch, Herbert Marcuse, Louis Althusser, Jean-Paul Sartre, Lucio Colletti, Alfred Schmidt und Terrell Carver aufgegriffen , während die Dialektik der Natur von Lenin, Trotzki, Luxemburg, Gramsci und Wissenschaftlern wie John B.S. Haldane und Richard C. Lewontin verteidigt wurde. Wo Marx selbst in dieser Frage stand, ist Teil der Debatte. Gegner einer Dialektik der Natur schreiben die Idee genere ll Engels zu, der sie im Anti-Dühring und Die Dialektik der Natur entwickelt hat, während sie behaupten, sie tauche bei Marx gar nicht auf. Verteidiger einer Dialektik der Natur kontern, dass Marx Engels überzeugt hat, den Anti-Dühring zu s chreiben, und man weiß, dass er das Manuskript vor der Veröffentlichung gelesen hat und die Unkenntnis einer fundamen talen philosophischen Meinungsverschiedenheit auf der Grundlage einer 30 Jahre währenden engsten geistigen Zusamm enarbeit völlig unwahrscheinlich ist, besonders weil beide sich brennend für die Naturwissenschaften interessierten. (Ich s ollte noch hinzufügen, dass ich diese Entgegnung persönlich sehr überzeugend finde.) Mehr noch, im ersten Band des K apital, wo Marx das »Minimum der Wertsumme« behandelt, »worüber der einzelne Geld- oder Warenbesitzer verfügen muss, u m sich in einen Kapitalisten zu [verwandeln]«, erklärt er ausdrücklich: »Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Rich tigkeit des von Hegel in seiner Logik entdeckten Gesetzes, dass bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen Punkt i n qualitative Unterschiede umschlagen.« Zur Frage selbst machen die unterschiedlichen Kritiker Engels die folgenden Einwände geltend: a) Die Vorstellung ein er Dialektik der Natur sei unkritisch von Hegel übernommen worden. b) Sie entspreche dem Einfluss des Positivismus des 19. Jahrhunderts und seiner unkritischen Begeisterung für die Wissenschaft. c) Der Marxismus solle als Kapitalismuskritik verstanden werden und nicht als umfassende Weltsicht. d) So etwas wie Widersprüche gebe es in der Natur nicht. Die v on Lukacs so genannte »Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt« als wesentlicher Bestimmungsfaktor der Dialekti k komme in der Natur nicht vor. Hier lässt sich die Debatte nicht umfassend darstellen, aber meine Sicht der Frage stellt sich wie folgt dar: Menschliche Wesen entstammen der Natur und bleiben Teil von ihr, weshalb Gramscis Erwiderung a uf Lukäcs» - Wenn seine Aussage einen Dualismus zwischen Natur und Mensch voraussetzt, hat er unrecht« - auch gültig ist. Der Marxismus ist nicht bloß eine Kritik des Kapitalismus, sondern »[enthält] in sich alle grundlegenden Elemente [.. .], [...] um eine totale und integrale Weltauffassung zu konstruieren, eine totale Philosophie und Theorie der Naturwissenschafte n«. Wie in den zuvor behandelten Beispielen zu sehen war, gibt es in der Natur Widersprüche zwischen den Kräften, die ei nen bestimmten Naturzustand oder ein Objekt erzeugen, und den Kräften, die ihn oder es vergehen lassen. Grundsätzlich ist die Dialektik die Logik des Wandels und der Entwicklung, weshalb sie auch für die Wissenschaft und die Natur gilt, weil Wandel und Entwicklung alles in der Natur durchdringen. Das Fehlen des subjektiven Faktors schließt die Anwendbarkeit der Dialektik auf die Natur nicht aus. Das bedeutet nicht, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte seien das Gleiche - die Rolle des Bewusstseins (des subjektiven Faktors) macht den Unterschied, was sowohl Engels als a uch Trotzki ausdrücklich anerkennen. Philosophie117 Aus diesen Gründen denke ich, dass die Dialektik auf die Natur anwendbar ist und einen äußerst nützlichen Leitfade n für wissenschaftliche Untersuchungen darstellt. Trotzdem muss man verstehen, dass die von Hegel und Engels erkannten »Gesetze der Dialektik« (das »Umschlagen von Quantität in Qualität«, die »Einheit [oder Durchdringung] der Gegensätze« und die »Negation der Negation«) keine »Naturgesetze« wie das Gravitationsgesetz oder das Bewegungsgesetz sind. Sie bringen keine mehr oder weniger mathematisch genauen und korrekten Voraussagen hervor; sie bilden vielmehr Leitlinien und Ge setze der Logik, die auf die Naturwissenschaft zutreffen und deren Entwicklung fördern, weil sie den wirklichen Prozess d es Wandel, der Veränderung und der Evolution in der Natur besser abbilden und ausdrücken als die formale Logik. 181Philosophie Teil 3: Marxismus als Philosophie der Praxis Karl Marx: Thesen über Feuerbach (Auszüge) These 2 Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern ei ne praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Den kens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage. These 3 Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Men schen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen d er eine über ihr erhaben ist - sondieren. These 9 Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, d.h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als prakt ische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft. These 11 Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern. Philosophie119 Milan Kangrga / Der Sinn der Marxschen Philosophie (Auszüge) [...] Man muß nämlich wagen, sein eigenes, authentisches Leben zu leben, damit dieses Schicksal wirklich das unsere s ei, d.h. daß es sich in unseren Händen befinde und nicht in fremden, und damit es aufhöre ein bloßes Fatum zu sein, das uns unter den verschiedensten Formen und mit allen möglichen Mitteln nachträglich von außen her bezwingt, schlägt, vers tümmelt, vereitelt und tagtäglich vernichtet. Dazu reicht das wissenschaftliche (eigentlich sehr bequeme) Wissen nicht a us, das nur sagen kann, ob und wie etwas einfach als bloße Tatsache ist, sondern es erfordert Mut, die Frage nach dem S inn einer bestehenden Tatsache zu stellen. Das ist aber die Frage nach dem Ursprung, der Quelle, dem Grund oder der Mö glichkeit des Faktischen und Tatsächlichen. Auf diese Frage eine Antwort zu suchen, heißt diese Tatsache in Frage stellen z u wollen, heißt sich nicht mit ihr als nur einer gegebenen zufriedenzugeben, heißt ihr bloßes Dasein negieren, also bereit s in einem kritisch-negativen und nicht nur positiven Verhältnis zu ihr stehen, und das heißt letztlich schon auf dem Stan dpunkt des wirklichen Bedürfnisses und der Unumgänglichkeit ihrer Veränderung zu stehen. Und erst dann erscheint sie al s ein bestimmtes Etwas, für uns erst jetzt Relevantes, als ein Mögliches oder Unmögliches, Sinnvolles oder Sinnentleerte s, Wahres oder Unwahres. Da wir hier über den Sinn der Marxschen Philosophie sprechen, woraus sich, wie wir gesehen haben, zugleich die Fr age nach dem Sinn der faktischen Wirklichkeit und des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes ergibt, was eigentlich n ur zwei Aspekte ein und derselben Frage sind, die bei Marx als kritische Frage nach dem Verhältnis zwischen der Philosoph ie und der Wirklichkeit (der menschlichen Welt) gestellt wird, muß betont werden, daß wir es hier mit dem zu tun haben, was auf eine andere Weise in dem Begriff »der Sinn des Lebens« 11 zum Ausdruck kommt. Aus dem bisher Gesagten geht deutlich hervor, daß diese Frage nach dem Sinn des Lebens, was soviel heißt wie nac h dem wahren Sinn des menschlichen Daseins, nicht vom Standpunkt des wesentlichen Verharrens im Rahmen des Bestehen den (Zustands) gestellt wird oder gestellt werden kann, da sonst dieses Bestehende in der Beleuchtung desselben Sinnes n och nicht in Frage gestellt wäre, so daß das Bestehende als etwas an sich Verständliches und ein- zig Mögliches gedacht, g efühlt, erlebt und gelebt würde, was zur Folge hatte, daß es schon als solches als ein sinnvolles aufgefaßt werden müßte. Unter dem ethischen Aspekt müßte also in dem Falle und unter solch einer Qualifikation das Bestehende schon an sich a ls ein Gutes aufgefaßt werden (was aber selbst die Möglichkeit der ethischen Sphäre, also des Moralischen als des Postuli erens von dem, das - im Gegensatz zur nicht-moralischen Welt - sein sollte) abschaffen würde. In der metaphysichen Dim ension (in Anlehnung an den sog. Leibnizschen »metaphysischen Optimismus«) würde dann die bestehende als »die beste aller Welten« erscheinen (Schopenhauer hat dem ironisch hinzugefügt, daß das stimmen könnte, daß aber trotzdem die Fr age offen bleibe, ob sie auch gut genug sei!). Unter dem Aspekt des Sozialen betrachtet wird aufgrund der historischen E rfahrung, die so klar in Marx' Werk zusammengefaßt ist, ersichtlich, daß immer nur die konservativen und reaktionären (r echtsstehenden) Kräfte in einer Gesellschaft oder Bewegung hartnäckig und unnachgiebig den bestehenden Zustand als ei nen guten oder sogar den besten, als etwas Vernünftiges, »Natürliches«, einzig Mögliches und Ewiges proklamiert und da rgestellt haben, selbstverständlich mit dem Ziel, diesen Zustand, bzw. ihre Interessen, Privilegien, Stellungen, … [...] Wenn also von dem Sinn der Marxschen Philosophie die Rede ist, dann muß gesagt werden, daß er - am knappste n formuliert - in dem Bestreben, der Forderung und der Bemühung enthalten ist, den bestehenden, faktischen Unsinn tä tig, real und revolutionär abzuschaffen, das heißt im Kampf gegen das theoretische oder praktische Anerkennen dieses Un sinns, gegen das Verschleiern und Mystifizieren desselben, also gegen seine Erhaltung und Konservierung, in dem, was is t. Die Revolution hat sich geschichtlich bestätigt und bestätigt sich immer wieder als der einzige wirkliche Modus der gesc hichtlichen Existenz des Menschen. Und zwar gerade dadurch, weil sie die Möglichkeit der vielseitigen Entfaltung und Affir mation des Menschen mit sich bringt, wodurch er auf die unmittelbarste Weise die Verwirklichung seiner Bedürfnisse, Int eressen, Anerkennung, Selbstanerkennung, der wachsenden Fähigkeiten, Begabungen, Würde, mit einem Wort, sich sel bst als Persönlichkeit und eigenständige Individualität auf die Probe stellt. Erst auf diese Weise ereignet sich die Verwirklic hung der eigenen schöpferischen Natur des Menschen und dadurch auch seiner eigenen Geschichte. [...] ...weil ohne ein Revolutionieren, d. h. ohne eine wesentliche Veränderung des Bestehenden die Geschichte ein En de haben würde. In dem Falle würde es wirklich nur noch eine Vergangenheit als das sich ewig wiederholende Dauern Desselb en geben, eine Vergangenheit, die zu niemandem gehören würde, den sie besteht nur für denjenigen, der selbst am Werk der Zukunft als des erkämpften eigenen Standpunktes und jenen realen menschlichen Punkt es in der Zeit ist, von dem a us sichtbar wird, was für den Einzelmenschen und für ein Volk und vor allem für die geschichtliche Position der Arbeiterk lasse in der Vergangenheit wertvoll, bedeutungsvoll, schicksalhaft, fortschrittlich, sinnhaltig und würdig war (und es noch i mmer ist), als das eigene und autochthone Fundament des Lebens in die Zukunft mitgenommen zu werden. So gibt es al so ohne Zukunft auch keine wirkliche Vergangenheit, genauso wenig wie es eine sinnvolle Gegenwart gibt, weil sich dann weder etwas menschlich Relevantes ereignet noch ist der Vergangenheit nachzuweinen oder sich an ihr zu berauschen, s ondern sie muß (genauso wie wir als ihre Fortsetzer) vorher durch unsere Tat erneuert und als die unsrige bestätigt werde n. Es kann gesagt werden, daß sie bestätigt und immer wieder erneuert wird, was soviel bedeutet wie gewertet wird, einzi g durch das revolutionäre Ereignen als die Schöpfung einer neuen Welt, auf deren Grundlagen sich erst ein Blick auf ihr e Verwirklichung in der Vergangenheit eröffnet, eine Verwirklichung, die als solche, als unser eigener Ursprung und Funda ment erscheint, das heißt als das Fortsetzen aller materiellen und geistigen Reichtümer der bisherigen geschichtlichen Entwi cklung. Auf diese Weise stellen sowohl die geschichtliche Tradition als auch das Kulturerbe das Werk und das Produkt der revolutionären Veränderung des jetzigen und die geistige Sinnhaltigmachung des Zukünftigen dar, und nur das heißt auf d em wirklichen ideenhaften Niveau unserer sozialistischen Zeitmäßigkeit sein, wirken und existieren. Philosophie121