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Suhrkamp Verlag
Leseprobe
Latour, Bruno
Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft
Aus dem Englischen von Gustav Roßler Mit zahlreichen Abbildungen
© Suhrkamp Verlag
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1967
978-3-518-29567-0
suhrkamp taschenbuch
wissenschaft 1967
»Man muß die Gesellschaft verändern!« – Diese Parole aus alter Zeit ist nach
wie vor aktuell, denn die heutige Gesellschaft ist voller Härte und Zumutungen.
Um diese Veränderung zu ermöglichen, sollte man aber vielleicht erst einmal
versuchen, den Begriff »Gesellschaft« zu verändern und den Riß zwischen der
Praxis der Soziologie, der Theorie der Politik und des Glaubens an die Idee der
Gesellschaft zu schließen. Um einen Ausweg aus dieser Krise zu finden, sollte
– so die provokative These dieses Buchs – diese Spannung bis zum äußersten
ausgereizt werden.
Bruno Latour, der die etablierten Grenzen zwischen Wissenschaft, Kultur,
Technik und Natur eingerissen hat, unterscheidet zwei unterschiedliche
Konzepte von Gesellschaft. Das eine betrachtet »Gesellschaft« als eine
unveränderliche abstrakte Entität, die ihren Schatten auf andere Bereiche
wirft: auf die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft etc. Für das andere ist
»Gesellschaft« notwendig instabil: eine unerwartete Verbindung von ganz
unterschiedlichen Akteuren, die die Gewißheit, einer gemeinsamen Welt
anzugehören, in Frage stellen. Die Analyse dieser Verbindung ist nach Bruno
Latour Aufgabe der Soziologie.
Bruno Latour ist Professor an den Sciences Po und am Centre de Sociologie
des Organisations in Paris. Im Suhrkamp Verlag sind von ihm erschienen: Die
Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft
(stw 1595), Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen
Anthropologie (stw 1861) und Das Parlament der Dinge (stw 1954).
Bruno Latour
Eine neue Soziologie für
eine neue Gesellschaft
Einführung in
die Akteur-Netzwerk-Theorie
Aus dem Englischen
von Gustav Roßler
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1967
Erste Auflage 2010
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen
von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-29567-0
1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10
Inhalt
Einleitung:
Wie kann man die Aufgabe wiederaufnehmen,
den Spuren der Assoziationen zu folgen? . . . . . . . . . .
9
Teil I
Die Entfaltung von Kontroversen
über die soziale Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Einführung in Teil I:
Was sich aus Kontroversen lernen läßt . . . . . . . . . . . . 41
Erste Quelle der Unbestimmtheit:
Keine Gruppen, nur Gruppenbildungen
. . . . . . . . . . 50
Zweite Quelle der Unbestimmtheit:
Handeln wird aufgehoben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Dritte Quelle der Unbestimmtheit:
Welche Aktion für welche Objekte? . . . . . . . . . . . . . 109
Vierte Quelle der Unbestimmtheit:
Unbestreitbare Tatsachen versus
umstrittene Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Fünfte Quelle der Unbestimmtheit:
Das Verfassen riskanter Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Was tun mit der Akteur-Netzwerk-Theorie?
Zwischenspiel in Form eines Dialogs . . . . . . . . . . . . . 244
Teil II
Wie kann man Assoziationen
wieder nachzeichenbar machen?
. . . . . . . . . . . . . 273
Einführung in Teil II:
Warum das Soziale so schwer
nachzuzeichnen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Wie kann man das Soziale flach halten? . . . . . . . . . . . 286
Erster Schritt: das Globale lokalisieren . . . . . . . . . . . . 299
Zweiter Schritt: das Lokale neu verteilen . . . . . . . . . . 329
Dritter Schritt: Orte verknüpfen . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Schluß:
Von der Gesellschaft zum Kollektiv –
Kann das Soziale neu versammelt werden? . . . . . . . . . 424
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482
Den Doktoranden,
die ich bei manchen ihrer Arbeitsmühen begleiten durfte
9
Einleitung:
Wie kann man die Aufgabe
wiederaufnehmen, den Spuren der
Assoziationen zu folgen?
Der Grundgedanke dieses Buches läßt sich sehr einfach zusammenfassen: Wenn Sozialwissenschaftler das Adjektiv
»sozial« zu einem Phänomen hinzufügen, bezeichnen sie damit einen stabilisierten Sachverhalt, ein Bündel von Bindungen, die später wieder herangezogen werden können, um ein
anderes Phänomen zu erklären.1 An dieser Verwendungs1 In den Anmerkungen wird eine abgekürzte Zitierweise verwendet; die
vollständige Bibliographie findet sich am Ende des Buches. Dieses irgendwie strenge Buch läßt sich parallel lesen mit dem sehr viel heitereren Bruno
Latour und Emilie Hermant (1998), Paris ville invisible, das in etwa dasselbe Terrain mittels einer Reihe photographischer Essays zu behandeln
versucht. Es ist online sowohl auf englisch (Paris the Invisible City) als auch
auf französisch verfügbar unter ⟨http://www.bruno-latour.fr⟩.
[Die Übersetzung folgt dem englischen Original Reassembling the Social.
An Introduction to Actor-Network-Theory, das 2005 bei Oxford University
Press erschienen ist. Inzwischen liegt eine vom Autor durchgesehene und
revidierte französische Übersetzung vor: Changer de société – Refaire de la
sociologie, Paris: La Découverte, 2006. In Absprache mit Bruno Latour
wurde in Zweifelsfällen die französische Übersetzung herangezogen und
ihre Variante übernommen, wenn Verständlichkeit und Klarheit dadurch
gewannen; das gilt auch für (relativ wenige) kleinere Umstellungen von
Passagen. Der französischen Übersetzung gefolgt wurde (ebenfalls in Absprache mit Bruno Latour) in folgenden Punkten:
a) bei der aktualisierten (und auf Veröffentlichungen in französischer Sprache umgestellten) Bibliographie;
b) bei zwei zusätzlichen Exkursen (zu Callons Arbeit über die Muscheln,
zu Tardes Kritik am sozialen Milieu);
c) bei der Numerierung der verschiedenen Bedeutungen des Sozialen als
Soziales Nr. 1, 2, 3 und 4, was die Verständlichkeit erleichtert;
d) bei den Anmerkungen wurde den französischen Varianten gefolgt, ohne
die dortigen Streichungen ganzer Anmerkungen zu übernehmen; die aus
der französischen Ausgabe übernommenen Anmerkungen wurden mit *
markiert.
Bei der Terminologie der »unübersetzbaren« Begriffe agency und matters
of fact/ matters of concern habe ich mich ebenfalls an den französischen Va-
10
Einleitung
weise des Wortes ist nichts auszusetzen, solange man damit
das bereits Versammelte bezeichnet, ohne eine überflüssige
Hypothese über die Natur des Versammelten aufzustellen.
Probleme entstehen jedoch, sobald »sozial« eine Art von
Material bezeichnet, als wäre das Adjektiv mehr oder weniger vergleichbar mit anderen Ausdrücken wie »hölzern«,
»stählern«, »biologisch«, »ökonomisch«, »mental«, »organisatorisch« oder »sprachlich«. An diesem Punkt löst sich die
Bedeutung des Wortes auf, denn nun bezeichnet es zwei vollkommen verschiedene Dinge: erstens eine Bewegung während eines Prozesses des Versammelns und zweitens eine
spezifische Art von Ingredienz, von der man annimmt, daß
sie sich von anderen Materialien unterscheidet.
Im vorliegenden Werk will ich aufzeigen, wieso das Soziale
nicht als eine Art von Material oder Sphäre aufgefaßt werden
kann, und bestreiten, daß sich eine »soziale Erklärung« irgendeines anderen Sachverhalts liefern läßt. Auch wenn das
Projekt einer solchen Erklärung in der Vergangenheit produktiv und wahrscheinlich notwendig war, ist es dies kaum
noch, teilweise sogar aufgrund des Erfolgs der Sozialwissenschaften. Auf deren gegenwärtigem Entwicklungsstand ist es
nicht länger möglich, die genauen Zutaten zu prüfen, die in
die Zusammensetzung des sozialen Bereichs eingehen. Daher will ich den Begriff des Sozialen neu definieren, indem
ich auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückgreife und ihn
wieder befähige, Verbindungen nachzuzeichnen (to trace,
tracer). Damit wird es möglich sein, das traditionelle Ziel
der Sozialwissenschaften wiederaufzugreifen, allerdings mit
Werkzeugen, die der Aufgabe besser entsprechen. Nachdem
ich umfassend über die »Versammlungen« der Natur gearbeitet habe, halte ich es für notwendig, eingehender zu prüfen, was unter dem Dach der Gesellschaft »versammelt«
rianten orientiert, da die Übersetzung dieser Ausdrücke ins Deutsche analoge Schwierigkeiten aufweist. Diese werde ich beim erstmaligen Vorkommen in einer Anmerkung jeweils genauer erläutern. A. d. Ü.]
Einleitung
11
wird. Das scheint mir der einzige Weg zu sein, den alten
Pflichten der Soziologie, der »Wissenschaft vom Zusammenleben«,2 treu zu bleiben.
Zu einem solchen Projekt gehört jedoch eine Neudefinition
dessen, was gemeinhin unter dieser Disziplin verstanden
wird. Aus dem Lateinischen und Griechischen übersetzt, bedeutet »Sozio-logie« soviel wie die »Wissenschaft vom Sozialen«. Der Ausdruck wäre ausgezeichnet, hätte er nicht zwei
Nachteile: das Wort »sozial« und das Wort »Wissenschaft«.
Die Tugenden, die wir heute wissenschaftlichen und technischen Unternehmungen bereit sind zuzugestehen, haben nur
noch wenig mit dem gemein, was die Gründer der Sozialwissenschaften im Sinn hatten, als sie ihre Disziplinen erfanden.
Damals, als die Modernisierung in vollem Gange war, bildete
die »Wissenschaft« einen ziemlich mächtigen Antrieb, der
sich unbegrenzt in die Zukunft hinein verlängern ließ, und
zwar ohne irgendwelche Befürchtungen, daß ihr Fortschritt
eines Tages vielleicht gebremst werden könnte. Man hatte
keine Vorstellung davon, daß die Ausbreitung der Wissenschaft diese eines Tages nahezu koextensiv mit dem Rest des
gesellschaftlichen Verkehrs machen könnte. Und was die
Gründer der Sozialwissenschaften unter »Gesellschaft« verstanden, hat einen mindestens ebenso radikalen Wandel erfahren, der vor allem auf die Verbreitung der Produkte von Wissenschaft und Technik zurückgeht. Es ist nicht länger klar, ob
es Beziehungen gibt, die spezifisch genug sind, um sie als »soziale« zu bezeichnen, und die sich zusammen gruppieren las2 Dieser Ausdruck stammt von Laurent Thévenot (2004), »Une science de
la vie ensemble dans le monde« (Eine Wissenschaft vom Zusammenleben in
der Welt). Diese logische Ordnung – zuerst die Versammlungen der Natur,
dann die der Gesellschaft – kehrt die Reihenfolge um, wie ich dazu kam,
darüber nachzudenken. Die beiden Zwillingsbücher Die Hoffnung der
Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft (2000) und
Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie (2001a) wurden von
mir geschrieben, lange nachdem meine Kollegen und ich eine alternative
Sozialtheorie entwickelt hatten, um mit unseren Ergebnissen aus den ersten
Feldstudien in der Wissenschafts- und Technikforschung umzugehen.
12
Einleitung
sen, um eine besondere Sphäre namens »Gesellschaft« zu bilden. Das Soziale scheint sich überallhin verflüchtigt zu haben
und doch nirgendwohin im besonderen. Weder Wissenschaft
noch Gesellschaft sind stabil genug geblieben, um die Versprechen einer strengen »Sozio-logie« einlösen zu können.
Aus dieser doppelten Metamorphose haben nur wenige Sozialwissenschaftler den extremen Schluß gezogen, daß sowohl Gegenstand als auch Methode der Sozialwissenschaften verändert werden sollten. Trotz vieler Enttäuschungen
hoffen sie immer noch, eines Tages in das gelobte Land einer
wahren Wissenschaft der wirklichen sozialen Welt zu gelangen. Niemand ist sich dieses quälenden Zögerns bewußter als
jene Forscher, die, wie ich, viele Jahre damit verbracht haben,
»Wissenschaftssoziologie« zu betreiben – wahrhaftig ein
Oxymoron. Aufgrund der vielen Paradoxien, zu denen dieses lebendige und perverse Fachgebiet geführt hat, sowie der
zahlreichen Veränderungen in der Bedeutung von »Wissenschaft« denke ich, daß der Zeitpunkt gekommen ist zu modifizieren, was unter »sozial« zu verstehen ist. Daher möchte
ich eine alternative Definition für »Soziologie« entwickeln,
dabei dieses nützliche Etikett gleichwohl beibehalten und,
wie ich hoffe, der traditionellen Berufung dieser Disziplin
treu bleiben.
Was ist eine Gesellschaft? Was bedeutet das Wort »sozial«?
Wieso spricht man manchen Aktivitäten eine »soziale Dimension« zu? Wie kann man nachweisen, daß »soziale Faktoren«
am Werk sind? Wann ist eine Untersuchung der Gesellschaft
oder anderer sozialer Aggregate eine gute Untersuchung?
Wie läßt sich der Entwicklungsgang einer Gesellschaft verändern? Um diese Fragen zu beantworten, wurden zwei sehr
unterschiedliche Herangehensweisen gewählt. Die eine von
ihnen ist zum Common sense geworden – die andere ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Die erste Lösung bestand darin, die Existenz eines spezifischen Typs von Phänomenen zu postulieren, die abwechselnd
Einleitung
13
als »Gesellschaft«, »Gesellschaftsordnung«, »gesellschaftliche Praxis«, »gesellschaftliche Dimension« oder »gesellschaftliche Struktur« bezeichnet wurden. Im Laufe des letzten Jahrhunderts, als diese Theorien entwickelt wurden,
erschien es wichtig, diesen Realitätsbereich von anderen Bereichen wie etwa Ökonomie, Geographie, Biologie, Psychologie, Recht, Wissenschaft und Politik zu unterscheiden. Ein
bestimmtes Phänomen wurde als »sozial« oder zur »Gesellschaft« gehörig bezeichnet, wenn es spezifische Eigenschaften aufwies, manche davon negativ – es durfte nicht »rein«
biologisch, sprachlich, ökonomisch, natürlich sein – und
manche positiv – es mußte die Gesellschaftsordnung hervorbringen, verstärken, ausdrücken, aufrechterhalten, reproduzieren oder umstürzen. Sobald diese soziale Sphäre einmal,
wie vage auch immer, definiert war, ließ sich mit ihrer Hilfe
Licht auf spezifisch soziale Phänomene werfen – das Soziale
konnte das Soziale erklären – und konnte ein bestimmter Typ
von Erklärung für etwas bereitgestellt werden, das die anderen Bereiche nicht erklären konnten – mit der Berufung auf
»soziale Faktoren« ließen sich die »sozialen Aspekte« nichtsozialer Phänomene erklären.
So wird zwar anerkannt, daß das Recht seine eigene Strenge
besitzt, doch einige seiner Aspekte ließen sich besser verstehen, wenn man ihm eine »soziale Dimension« hinzufügen
würde; obwohl ökonomische Kräfte ihrer eigenen Logik gehorchen, gibt es ebenso soziale Elemente, die das leicht erratische Verhalten kalkulierender ökonomischer Agenten erklären könnten; auch wenn sich die Psychologie ihren eigenen
Antrieben entsprechend entwickelt, könnten einige ihrer rätselhafteren Aspekte auf »sozialen Einfluß« zurückgeführt
werden; die Wissenschaft mag zwar ihrem eigenen Impetus
folgen, doch ihr Streben ist in mancher Hinsicht notwendigerweise durch die »sozialen Rahmenbedingungen« der Wissenschaftler »eingeengt«, die in den »sozialen Kontext ihrer
Zeit« eingebettet sind; auch wenn die Kunst weitgehend »autonom« ist, wird sie ebenso durch soziale und politische
14
Einleitung
»Rücksichten« »beeinflußt«, welche für einige Aspekte ihrer
berühmtesten Meisterwerke verantwortlich sein könnten;
und obwohl die Wissenschaft des Managements ihren eigenen Regeln folgt, könnte es ratsam sein, auch »soziale, kulturelle und politische Aspekte« zu berücksichtigen, die vielleicht erklären, wieso einige solide Organisationsprinzipien
nie in die Praxis umgesetzt werden.
Es lassen sich leicht viele weitere Beispiele finden, denn diese
Version der Sozialtheorie ist zur Standardeinstellung unserer
mentalen Software geworden, die von folgenden Überlegungen ausgeht: Es gibt einen sozialen »Kontext«, in dem nichtsoziale Aktivitäten stattfinden; dieser ist ein bestimmter
Bereich der Wirklichkeit; er kann als ein spezifischer Kausalitätstyp verstanden werden, um residuale Aspekte zu erklären, denen andere Gebiete (Psychologie, Recht, Ökonomie
usw.) nicht vollkommen gewachsen sind; er wird von spezialisierten Forschern untersucht, die Soziologen genannt werden oder Sozial-(x) – wobei (x) als Platzhalter für die verschiedensten Disziplinen dient; da gewöhnliche Handelnde
sich stets »in« einer sie umfassenden sozialen Welt befinden,
können sie bestenfalls »Informanten« für diese Welt und
schlimmstenfalls für deren Existenz blind sein, die ohnehin
in ihrer vollen Auswirkung nur für den Sozialwissenschaftler
mit seinem disziplinierteren Blick sichtbar ist; wie schwierig
solche Untersuchungen auch durchzuführen sind, Sozialwissenschaftler können in etwa die Erfolge der Naturwissenschaften nachahmen und dank quantitativer Instrumente so
objektiv wie andere Wissenschaftler sein; wenn nicht, dann
müssen alternative Methoden entwickelt werden, um die
»menschlichen«, »intentionalen« oder »hermeneutischen«
Aspekte dieser Bereiche zu berücksichtigen, ohne das Ethos
der Wissenschaft aufzugeben; und wenn Sozialwissenschaftler als Experten in Social engineering herangezogen werden
oder, um sozialen Wandel zu begleiten, so kann sich eine politische Relevanz aus diesen Forschungen ergeben, allerdings
nur, nachdem genügend Wissen angesammelt worden ist.
Einleitung
15
Diese Standardeinstellung ist nicht nur zum Common sense
der Sozialwissenschaftler, sondern auch zu dem der gewöhnlichen Akteure geworden – auf dem Weg über Zeitungen,
Hochschulbildung, Parteipolitik, Small talk, Liebesbeziehungen, Modemagazine usw.3 Die Sozialwissenschaften haben ihre Definition von Gesellschaft so effektiv verbreitet
wie Versorgungsunternehmen Elektrizität und Telefondienste. Die unvermeidliche »soziale Dimension« unseres Tuns
und Treibens »in der Gesellschaft« zu kommentieren ist so
vertraut geworden, wie ein Handy zu benutzen, ein Bier zu
bestellen oder vom Ödipuskomplex zu reden – zumindest in
der industrialisierten Welt.
Es gibt aber einen zweiten Ansatz, der die Grundannahmen
des ersten nicht für selbstverständlich hält. Er behauptet, daß
es nichts Spezifisches gibt, was die Gesellschaftsordnung
auszeichnet; daß es keine »soziale Dimension« irgendeiner
Art gibt, keinen »sozialen Kontext«, keinen eigenen Bereich
der Wirklichkeit, dem das Etikett »sozial« oder »Gesellschaft« angeheftet werden könnte; daß keine »sozialen
Kräfte« zur Verfügung stehen, um die residualen Eigenschaften anderer Bereiche zu »erklären«; daß Gesellschaftsmitglieder sehr genau wissen, was sie tun, auch wenn sie es nicht
zur Zufriedenheit der Beobachter artikulieren können; daß
Akteure niemals in einen sozialen Kontext eingebettet sind
und daher stets mehr sind als »bloße Informanten«; daß es
demnach nicht sinnvoll ist, wenn man »soziale Faktoren« zu
anderen wissenschaftlichen Spezialgebieten hinzuaddiert;
daß die durch eine »Wissenschaft von der Gesellschaft« gewonnene politische Relevanz nicht notwendigerweise wünschenswert ist; und daß »Gesellschaft«, weit davon entfernt,
den Kontext oder Rahmen zu bilden, »in dem« sich alles abspielt, eher als eines der vielen verknüpfenden Elemente be3 Schon die Verbreitung des Worts »Akteur«, das ich erst später genauer
definieren will – siehe S. 81 – und bis dahin unbestimmt verwende, ist eines
der vielen Kennzeichen dieses Einflusses.
16
Einleitung
trachtet werden sollte, die innerhalb sehr dünner Leitungen
zirkulieren. Etwas provokativ könnte diese zweite Denkrichtung das als Slogan verwenden, was Mrs. Thatcher einst
ausrief (wenn auch aus ganz anderen Gründen!): »So etwas
wie Gesellschaft gibt es nicht.«
Wenn beide Herangehensweisen so verschieden sind, wie
können sie dann beide beanspruchen, die Wissenschaft des
Sozialen zu sein, und danach streben, dieselbe Bezeichnung
»Soziologie« zu verwenden? Auf den ersten Blick sollten sie
ganz einfach unvereinbar sein, denn die zweite Position sieht
das wichtigste zu lösende Rätsel darin, was die erste als seine
Lösung betrachtet, nämlich die Existenz spezifisch sozialer
Bindungen, welche die verborgene Präsenz spezifisch sozialer Kräfte offenbaren. In der alternativen Sichtweise ist das
»Soziale« kein Klebstoff, mit dem sich alles Mögliche verbinden ließe – auch dort noch, wo andere Klebstoffe versagen;
sondern das, was durch viele andere Arten von Bindegliedern verbunden wird. Während die Soziologen (oder Sozioökonomen, Soziolinguisten, Sozialpsychologen etc.) soziale
Aggregate als gegeben betrachten und davon ausgehen, daß
sie einiges Licht auf residuale Aspekte von Ökonomie, Linguistik, Psychologie, Recht, Management und so fort werfen
können, betrachten diese anderen Forscher gerade die sozialen Aggregate als das, was durch die spezifischen Assoziationen, wie sie Ökonomie, Linguistik, Psychologie, Recht, Management etc. bereitstellen, zu erklären wäre.4
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Ansätzen erscheint allerdings größer, wenn man die Etymologie des Wortes »sozial« im Sinn behält. Obwohl die meisten Sozialwissen4 Ich verwende den Ausdruck »Gesellschaft oder andere soziale Aggregate«, um das Spektrum von Lösungen für das anzudeuten, was ich weiter
unten »die erste Quelle der Unbestimmtheit« nennen will und mit der Natur sozialer Gruppen zu tun hat. Ich bin hier nicht speziell auf »holistische«
Definitionen aus, denn, wie wir noch sehen werden, die »individualistischen« oder »biologischen« Definitionen sind auch nicht stichhaltiger.
Siehe S. 62.
Einleitung
17
schaftler es vorziehen würden, ein homogenes Ding »sozial«
zu nennen, ist es vollkommen akzeptabel, mit diesem Wort
Assoziationen zwischen heterogenen Bestandteilen zu bezeichnen. Da das Wort in beiden Fällen denselben Ursprung
bewahrt – die lateinische Wurzel socius –, kann man den ursprünglichen Intuitionen der Sozialwissenschaften treu bleiben, wenn man Soziologie nicht als »Wissenschaft vom Sozialen« begreift, was ich als Soziales Nr. 1 bezeichnen will,
sondern neu definiert als das Nachzeichnen von Assoziationen, oder Soziales Nr. 2.* In dieser Bedeutung des Adjektivs
bezeichnet »sozial« kein Ding unter anderen Dingen, wie
etwa ein schwarzes Schaf unter weißen Schafen, sondern einen Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht sozial sind.
Auf den ersten Blick scheint diese Definition unsinnig zu sein,
da sie Gefahr läuft, die Soziologie so sehr zu verwässern, daß
diese nun jeden Typ von Aggregat betrifft, von chemischen
Bindungen bis zu rechtlichen Banden, von atomaren Kräften
bis zu wirtschaftlichen Unternehmen, von physiologischen
bis zu politischen Versammlungen. Doch gerade darum geht
es in dieser alternativen Sozialtheorie, denn alle diese heterogenen Elemente könnten sich bei irgendeiner Gelegenheit
neu versammeln. Das ist beileibe keine extravagante Hypothese, sondern im Gegenteil die allergewöhnlichste Erfahrung, die wir machen, wenn wir dem rätselhaften Gesicht des
Sozialen begegnen: Ein neues Impfmittel kommt auf den
Markt, ein neues Tätigkeitsprofil taucht auf dem Arbeitsmarkt auf, eine neue politische Bewegung wird geschaffen,
ein neues Planetensystem wird entdeckt, ein neues Gesetz
wird verabschiedet, eine neue Katastrophe ereignet sich. In
all diesen Fällen müssen wir unsere Konzeptionen von dem,
was miteinander assoziiert werden kann, umkrempeln, denn
* Zu diesen beiden Bedeutungen werde ich später (S. 112) eine Bedeutung
Nr. 3 hinzufügen, die grundlegenden sozialen Fertigkeiten, und schließlich,
S. 419, noch eine Nr. 4, um das »Plasma« zu bezeichnen.
18
Einleitung
die frühere Definition ist in irgendeiner Hinsicht irrelevant
geworden. Wir sind nicht länger sicher, was »wir« bedeutet;
wir scheinen von »Bindungen« gefesselt, die den üblichen
sozialen Bindungen nicht länger gleichen.
Wie die Bedeutung von »sozial« zunehmend
geschrumpft ist
Es gibt einen klaren etymologischen Trend in den aufeinanderfolgenden Variationen der Wortfamilie »sozial«
(Strum und Latour 1987). Er verläuft vom Allgemeinsten
zum Oberflächlichsten. Die Etymologie des Wortes »sozial« ist ebenfalls aufschlußreich. Der Stamm lautet seq-,
sequi, und die erste Bedeutung ist »folgen«. Der lateinische socius bezeichnet einen Gefährten, einen Gesellschafter (associate). In den verschiedenen Sprachen zeigt
die historische Genealogie des Wortes »sozial« die folgenden Bedeutungen: erstens jemandem folgen, dann anwerben, sich verbünden und schließlich etwas gemeinsam
haben. Eine weitere Bedeutung von sozial besagt, einen
Anteil in einem gemeinsamen Unternehmen haben. »Sozial« im Sinne des Sozialvertrags ist eine Erfindung Rousseaus. »Sozial« im Sinne sozialer Probleme und der sozialen Frage ist eine Neuerung des 19. Jahrhunderts.
Verwandte Wörter wie »soziabel« beziehen sich auf die
Fertigkeiten, mit denen Individuen verträglich in der Gesellschaft leben können. Wie man an der Drift des Wortes
sieht, schrumpft die Bedeutung von »sozial« im Laufe der
Zeit. Es beginnt mit einer Definition, die koextensiv mit
allen Assoziationen ist, doch inzwischen haben wir im
allgemeinen Sprachgebrauch eine Verwendungsweise, die
auf das begrenzt ist, was übrigbleibt, nachdem Politik,
Biologie, Ökonomie, Recht, Psychologie, Management,
Technologie etc. ihren jeweiligen Anteil aus den Assoziationen herausgezogen haben.
Aufgrund dieser fortwährenden Bedeutungsschrump-
Einleitung
19
fung (Sozialvertrag, soziale Frage, Sozialarbeiter) begrenzen wir das Soziale auf Menschen und moderne Gesellschaften und vergessen, daß der Bereich des Sozialen sehr
viel umfassender ist. De Candolle war der Erfinder der
Szientometrie – der Verwendung statistischer Verfahren,
um die wissenschaftliche Aktivität zu messen – und, wie
sein Vater, ein Pflanzensoziologe (Candolle 1987 [1873]).
Für ihn sind Korallen, Paviane, Bäume, Bienen, Ameisen
und Wale ebenfalls sozial. Diese erweiterte Bedeutung
von sozial hat die Soziobiologie gut erkannt (Wilson
1975). Leider hat dieses Unternehmen nur die schlimmsten Befürchtungen der Sozialwissenschaftler hinsichtlich der Bedeutungserweiterung von »sozial« bestätigt.
Es ist jedoch durchaus möglich, die Erweiterung beizubehalten, ohne von der äußerst eingeschränkten Definition der Handlungsfähigkeit, wie man sie Organismen in
vielen soziobiologischen Panoramen zuschreibt, besonders überzeugt zu sein.
So schwebt der Zweifel über dem, was wir angeblich zusammen tun. Der Sinn für Zugehörigkeit ist in eine Krise geraten.
Doch um dieses Gefühl der Krise zu registrieren und diesen
neuen Verbindungen zu folgen, muß ein anderer Begriff des
Sozialen entwickelt werden – das Soziale in der Bedeutung
Nr. 2. Dieser Begriff muß sehr viel umfassender sein als das
gewöhnlich unter dieser Bezeichnung Verstandene, doch
gleichzeitig sollte er streng begrenzt bleiben auf das Verfolgen neuer Assoziationen und das Aufzeichnen ihrer Gefüge,
ihrer Assemblagen. Aus diesem Grund werde ich das Soziale
nicht als einen speziellen Bereich, eine bestimmte Sphäre
oder eine besondere Art von Ding definieren, sondern nur
als eine sehr eigentümliche Bewegung des Wiederversammelns und erneuten Assoziierens.
In einer solchen Sichtweise sollte man das Recht beispielsweise nicht als etwas betrachten, was sich zusätzlich zu seiner inneren Logik durch eine »soziale Struktur« erklären
20
Einleitung
ließe; im Gegenteil, seine innere Logik könnte einige Merkmale erklären, durch die eine Assoziation länger besteht und
sich weiter ausdehnt. Ohne das Vermögen juristischer Präzedenzfälle, Verbindungen zwischen einem besonderen Fall
und einer allgemeinen Regel herzustellen, wie wüßten wir,
was es heißt, eine Sache »in einen größeren Kontext« zu stellen?5 Ebenso sollte Wissenschaft nicht durch ihren »sozialen
Kontext« ersetzt werden, weil ihre Objekte selbst jeden gegebenen Kontext verschieben, indem sie neue Elemente einführen, die von den Forschungslaboratorien auf unvorhersehbare Weise miteinander assoziiert werden. Die wegen des
SARS-Virus unter Quarantäne gestellten Menschen lernten
auf schmerzliche Weise, daß sie sich nicht länger auf dieselbe
Weise mit ihren Verwandten und Partnern »assoziieren«
konnten, und zwar aufgrund der Mutation dieses kleinen
Biests, dessen Existenz durch die riesige Institution der Epidemiologie und Virologie offenbart worden war.6 Die Religion muß nicht durch soziale Kräfte »erklärt werden«, denn
bereits in ihrer Definition – ja, bereits in ihrem Namen – verbindet sie Entitäten, die nicht Teil der Gesellschaftsordnung
sind. Seit den Tagen der Antigone weiß jeder, was es heißt,
durch Befehle von Göttern bewegt zu werden, die jenen von
Politikern wie Kreon nicht entsprechen. Organisationen
müssen nicht in einen »größeren sozialen Rahmen« gestellt
werden, da sie dem, was es bedeutet, in einem »größeren Zusammenhang« von Angelegenheiten zu stehen, bereits eine
sehr praktische Bedeutung verleihen.* Und schließlich: Wel5 Vgl. Patricia Ewick und Susan S. Silbey (1998), The Common Place of
Law sowie Silbeys Beitrag in Bruno Latour und Peter Weibel (2005), Making Things Public: Atmospheres of Democracy. Siehe auch Bruno Latour
(2002b), La fabrique du droit.
6 B. Latour (1984), Les microbes, guerre et paix, suivi de irreductions. Auch
wenn die Forschungen zur wissenschaftlichen Praxis den hauptsächlichen
Impetus für diese alternative Definition des Sozialen geliefert haben, werde
ich sie erst später behandeln, und zwar nachdem die vierte Unbestimmtheit
definiert ist, siehe S. 151.
* François Cooren (2001), The Organizing Property of Communication.
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