Die Logik des Netzwerks - Institut für Soziologie (Aachen)

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Thomas Kron
Die Logik des „Netzwerks“ – Oder: Warum die Soziologie keine Reinigungsagentur
mehr sein muss
Wofür steht Bruno Latours „Akteur-Netzwerk-Theorie“ bzw. der Netzwerkbegriff?1 Überwiegend
wird Latour so gelesen, als ginge es ihm um die Auflösung ganz bestimmter Unterscheidungen –
Natur vs. Gesellschaft, Subjekt vs. Objekt, Akteur vs. Ding usw. –, die immer einen Technikbias
aufweisen. Ich vermute den Grund in Latours Nähe zur Wissenschaftsforschung, entsprechend
häufig bezieht er sich eben auf dort relevante Unterscheidungen. Folglich wird sein Entgrenzungsprogramm vor allem auf die für die Moderne konstitutive Unterscheidung von „Natur vs.
Kultur“ bzw. „Natur vs. Gesellschaft“ und damit auf sozial-technische bzw. sozial-naturwissenschaftliche Zusammenhänge (Luftpumpen, Türen, Kammmuscheln, Schlüsselanhänger etc.) bezogen. Meine erste These des Vortrags ist, dass man mit dieser Interpretation der Akteur-Netzwerk-Theorie allerdings nicht in ihrer ganzen Tiefe gerecht wird, sondern nur die Oberfläche
ihrer Kritik berührt: Denn die fundamentale Kritik Latours berührt weniger den Einsatz bestimmter Unterscheidungen, sondern die Anwendung dichotomer Unterscheidungen per se.
Latours (1998) modernisierungskritische These ist, dass in der modernen Gesellschaft simultan
zur Anwendung dichotomer Unterscheidungen auf der Vorderbühne der sozialen Welt Entitäten
auf der Hinterbühne entstehen, die sich nicht diesen Dichotomien beugen. Latour nennt diese
Entitäten bekanntlich u.a. „Hybride“ (oder auch „Mischwesen“, „Quasi-Objekte“), wobei er richtig festhält, dass es sich dabei nicht um das Zusammenpacken an sich getrennter Elemente handelt, sondern um Eigenheiten, die ihrem eigenen Gegenteil entsprechen. Diese Hybride sind aber lange
verborgen geblieben, zum einen da sowohl in der gegenwärtigen wie auch in der vormodernen
Gesellschaft kategoriale Unterscheidungen zwar uneindeutig (gewesen) und Hybride prozessiert
worden sind, diese aber in der modernen Phase aber nicht anerkannt waren (vgl. Beck/Bonß/Lau
2004). Zum anderen hat die Moderne Reinigungsagenturen einsetzt, die dafür sorgen, dass diese
Hybride weiterhin dichotom kategorisiert werden.
Auch die Soziologie hat sich, dies ist die zweite These des Vortrags, bis heute als eine solche Reinigungsagentur – die Zygmunt Bauman (1992a, 1992b) exemplifizierend am Holocaust als charakteristisches Merkmal der Moderne zur Vernichtung von Ambivalenz beschreibt – in Szene gesetzt.
Das Argument ist, dass es in der sozialen Wirklichkeit schon immer Abweichungen von den
„Normalformen“ gegeben hat, nur wurden diese in der Moderne mit Hilfe der Soziologie als „pathologisch“, als „unnormal“ gekennzeichnet. So hat z.B. Emile Durkheim (1995) – ein klassischer
Entdecker der soziologischen Analyse genau jener Phase, die keine Hybride anerkennt – die Unterscheidung von normal vs. pathologisch in den Kanon seiner Regeln der soziologischen Methode aufgenommen. Die Soziologie reproduziert mit ihren angebotenen Selbstbeschreibungs1
Klar ist, dass der Netzwerkbegriff bei Latour nichts mit einer Deutung im Sinne der Sozialen Netzwerkforschung zu tun hat:
„Die ANT hat mit der Sozialen Netzwerkforschung nicht mehr gemein als das Wort 'Netzwerk'.“ (Peuker 2010: 325)
formularen (Theorien) die Forderung, dass die Erfassung des Sozialen dichotomes Unterscheiden
benötige. Die Soziologie predigt den Gott der Bivalenz, als dessen weltlicher Sohn Aristoteles
auftritt, der den Gläubigen die drei Gebote vom Satz des Widerspruchs, vom Satz des Ausgeschlossenen Dritten und vom Satz der Identität in Stein gemeißelt darlegt – die Anbetung alternativer Götter wird mit Zorn bestraft! Als ein Jünger hat Max Weber, der Stein, auf dem die Soziologie ihre Kirche errichtet hat, der Soziologie ein bivalentes Erbe hinterlassen, das heute etwa von
Hartmut Esser fortgeführt wird, während Georg Simmels formtheoretisch formulierte Lösung – aufgrund des Ausschlusses durch Talcott Parsons weitgehend unbeachtet – zwar noch Chancen zur
Überwindung dichotomer Unterscheidungen bereitgehalten hat, aber dann von Niklas Luhmann
wieder in Richtung Bivalenz radikalisiert wurde. Auf diese Weise bleibt die Soziologie eine gedankliche Reinigungsagentur zur Vernichtung von Vagheiten, zur Unterdrückung und Vernichtung der Hybriden.
Empirisch zeigt sich dies beispielsweise an der dichotomen Unterscheidung von Mann und Frau,
die nicht nur im Alltag, sondern auch von der Soziologie (z.B. in den gender studies) reproduziert
wird und dadurch hybride Phänomene wie etwa Intersexualität (siehe Lang 2006) „invisibilisiert“
(Luhmann), d.h. aus der Sphäre des Denkbaren verbannt, und „adiaphorisiert“ (Bauman), d.h. in
eine Sphäre der moralischen Nichtaufmerksamkeit rückt. Die Konsequenzen der mitunter barbarischen Reinigungsprozeduren (z.B. durch chirurgische Herstellung eindeutiger Geschlechter)
müssen dann die Individuen tragen.
Ich möchte Latour so deuten, dass er mit dem Netzwerkbegriff generell die Anwendung dichotomer
Unterscheidungen kritisiert, da eine derartige Unterscheidungspraxis die Hybride diskriminiert, jene
in der sozialen Wirklichkeit punktuell erzeugten Relationen. Der Netzwerkbegriff steht folglich
für Grenzvagheiten, die neue methodologische und methodische Perspektiven benötigen: Um
einer soziologischen Reinigung zu entgehen und zur Analyse derartiger Hybride wird, so seine
Forderung, die ANT, wird eine „neue Soziologie“ (Latour 2007) benötigt: „Dort, wo Grenzen zu
sehr verschwimmen. Neue Gegenstände, dafür braucht man die ANT.“ (Latour 2007: 245)
Als Lösung, so scheint es, zielt die ANT auf die Auflösung von Unterscheidungen und sucht nach
Möglichkeiten, Begriffe zu vermeiden, die eine Unterscheidung (vor allem eine Unterscheidung
zwischen Technik und Gesellschaft) voraussetzen. Diese Forderung ist allerdings empirisch fragwürdig, denn in der sozialen Welt werden nicht nur Hybride, sondern auch dichotome Unterscheidungen (z.B. die Unterscheidung von Frau und Mann) de facto prozessiert und manchmal –
aber eben nicht prinzipiell – ist das erstens angemessen und zweitens unproblematisch. Weiterhin
ist eine grundsätzliche Auflösung von Unterscheidungen – formtheoretisch durchdacht (siehe
z.B. Luhmann 1993) – unmöglich: Ohne Unterscheiden geht es nicht!2
Benötigt wird folglich, darauf verweist die Theorie Reflexiver Modernisierung, eine neue Sowohlals-Auch-Logik der Soziologie (einen, wie Ulrich Beck (2007) es nennt, „methodologischen Kos-
2
Denn schon alleine die Beschreibung als „Hybriden“ provoziert die Frage, von was „Hybrid“ als Bezeichnung unterschieden
wird.
mopolitismus“).3 Nimmt man die Formtheorie an dieser Stelle ernst, muss dieses Sowohl-alsAuch auch das Entweder-Oder mitberücksichtigen. Gesucht wird eine neue Logik, die sowohl
Sowohl-Als-Auch-Unterscheidungen als auch Entweder-Oder-Unterscheidungen anzuerkennen
und zu analysieren erlaubt. Die Entwicklung bzw. Anwendung einer solchen Logik in der Soziologie wäre ein wichtiger Schritt, um der Instrumentalisierung als Reinigungsagentur zu entkommen. Zum Schluss des Vortrags wird eine solche Logik kurz vorgestellt.
Verwendete Literatur
Bauman, Zygmunt (1992a): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt/Main. Fischer.
Bauman, Zygmunt (1992b): Dialektik der Ordnung. Hamburg.
Beck, Ulrich (2008): Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Beck, Ulrich/Wolfgang Bonß/Christoph Lau (2004): Entgrenzung erzwingt Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? In: Beck, Ulrich/Christoph Lau (Hrsg.): Entgrenzung und Entscheidung. Frankfurt/Main: Suhrkamp: 13-62.
Durkheim, Emile (1995): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt/Main. Suhrkamp.
Lang, Claudia (2006): Intersexualität: Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/Main: Campus.
Latour, Bruno (1998): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt/Main: Fischer.
Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1993): Paradoxie der Form. In: Baecker, Dirk (Hrsg.): Kalkül der Form. Frankfurt/Main: Suhrkamp,
197-212.
3
„Im Übergang zu einer anderen, reflexiven Moderne stehen die Institutionen fortgeschrittener westlicher Gesellschaften vor
der Herausforderung, eine neue Handlungs- und Entscheidungslogik zu entwickeln, die nicht mehr dem Prinzip des ‚Entweder-Oder’, sondern dem des ‚Sowohl-als-Auch’ folgt.“ (Beck/Bonß/Lau 2004: 16)
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