SWR2 Essay

Werbung
SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Essay
Let it be
Die Beatles, die Musikgeschichte und die Kunst des
Aufhörens
Von Silke Leopold
Sendung ///07.07.2014 /// 22.03 UHR
Redaktion/ Lydia Jeschke
Produktion SWR2 2014
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR
SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio und auch eine Woche lang nach
der Sendung im Internet nachhören unter www.swr2.de
Mitschnitte auf CD
von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden
für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft
SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-KulturpartnerNetz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Musik 1:
John Lennon / Paul McCartney: “Let it be”
The Beatles
LC 0299 Parlophone, Best-Nr. TOCP-51123
4:03
Sprecher:
Let it be nimmt in der Beatles-Mythologie einen sagenumwobenen Platz ein.
Aufgenommen wurde es im Januar 1969 – da war die Welt der Beatles zumindest
nach außen noch in Ordnung. Aber der Song blieb bis März 1970 unveröffentlicht. Zu
diesem Zeitpunkt, als Let it be als Single auf den Markt kam, dachte Paul McCartney,
der Urheber des Songs, bereits intensiv darüber nach, die Beatles zu verlassen, was
er dann nur einen Monat später, Anfang April, auch wirklich in die Tat umsetzte. Als
titelgebender Song des allerletzten Albums, das die Beatles herausbrachten,
erschien Let it be dann nach der Trennung der Gruppe im Mai 1970. Let it be wurde
auf diese Weise zum symbolgeltränkten Dokument der Trennung der Fabulous Four
und des Abschieds von einer musikalischen Welt, die sie fast ein Jahrzehnt lang
entscheidend mitgestaltet und auf Dauer verändert hatten.
Anfang 1969 war dieser Song zunächst nichts anderes als eines jener schlichten
Lieder, mit denen die Beatles musikalisch wieder an den Balladenton etwa von
Misery 1963, Yesterday 1965 oder Michelle ebenfalls 1965 anknüpfen wollten.
Allerdings war Let it be kein Liebeslied mehr, sondern textlich an jenen neuen
quasireligiösen Ideen geschult, mit denen die Beatles ihre Songs in der letzten
Phase ihres Daseins zu so etwas wie pantheistischen Bekenntniswerken
umfunktioniert hatten. John Lennon sprach dem Song in späteren Interviews zwar
jegliche Nähe zu religiösen oder gar christlichen Untertönen ab, und tatsächlich war
mit „Mother Mary“ nicht die Jungfrau Maria, die Muttergottes, gemeint, sondern Paul
McCartneys eigene früh verstorbene Mutter, die ihn bisweilen im Traum heimsuchte.
Aber die Wahrnehmung religiöser Untertöne im Text ist dennoch mehr als nur eine
Fehldeutung, wie John Lennon es glauben machen wollte. Let it be ist voll von
Bibelzitaten.
Zitat englisch:
„When I find myself in times of trouble” Zitat deutsch:
„Wenn ich mich in Zeiten der Sorge befinde“ –
Sprecher:
Diese erste Textzeile von Let it be zitiert relativ unverhohlen den ersten Vers des 10.
Psalms, der in der King‟s Bible, der bis heute verbindlichen englischen Übersetzung,
so heißt:
Zitat englisch:
“Why standest thou afar off, o Lord? why hidest thou thyself in times of trouble?”
Zitat deutsch:
„Herr, warum trittst du so ferne, verbirgest dich zur Zeit der Not?“
Sprecher:
Später heißt es dann in Let it be:
2
Zitat englisch:
„And when the broken hearted people living in the world agree” –
Zitat deutsch:
„Und wenn die Menschen in der Welt, die gebrochenen Herzens sind, zustimmen“
Sprecher:
Das Bild von den „broken hearted people“ spielt auf das Lukas-Evangelium des
Neuen Testaments an, genauer gesagt auf die Predigt Jesu in Nazareth, wie sie in
Lukas 4, Vers 18 erzählt wird. Dort lauten die Jesu Worte:
Zitat englisch:
“The Spirit of the Lord is upon me, because he hath anointed me to preach the
gospel to the poor; he hath sent me to heal the brokenhearted, to preach deliverance
to the captives, and recovering of sight to the blind, to set at liberty them that are
bruised.”
Zitat deutsch:
"Der Geist des Herrn ist bei mir, darum, dass er mich gesalbt hat; er hat mich
gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen
Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollten, und den Blinden das
Gesicht und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“
Sprecher:
In der letzten Strophe von Let it be heißt es schließlich:
Zitat englisch:
“And when the night is cloudy, there is still a light that shines on me.”
Zitat deutsch:
„Und wenn die Nacht voll Wolken ist, so ist da doch ein Licht, das auf mich scheint.“
Sprecher:
Für diese Verse des Songs gibt es mehrere Referenzen in der King‟s Bible, zunächst
das Johannes-Evangelium des Neuen Testaments, Kapitel 1 Vers 5:
Zitat englisch:
“And the light shineth in darkness; and the darkness comprehended it not.”
Zitat deutsch:
„Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.“
Musik2:
Georg Friedrich Händel: „Halleluja“ aus: „Messias“
Amsterdam Baroque Choir
Amsterdam Baroque Orchestra
Leitung: Ton Koopman
Eigenproduktion des SWR
Ausschnitt: 1‟
Sprecher:
Der Beatles-Song spielt aber auch noch auf die Lichtmetaphern des Propheten
Jesajas an, die über die Bibel hinaus in der englischen Musikkultur ihren festen Platz
hatten, weil Georg Friedrich Händel sie in seinem Messias-Oratorium einer großen
Bassarie zugrundelegte:
3
Zitat englisch:
“The people that walketh in darkness have seen a great light. And they that dwell in
the land of the shadow of death, upon them hath the light shined.”
Zitat deutsch:
„Das Volk das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über die da wohnen
im finstern Lande, scheint es hell.“
Sprecher:
Es bleibt nicht bei den textlichen Anspielungen, wenn man nach religiösen
Untertönen in Let it be fahndet. Auch musikalisch gibt es durchaus Assoziationen, die
in Richtung Kirchenlied verweisen, allen voran der Klang der Orgel, der sich ab der
zweiten Strophe zum Klavier gesellt, oder auch das glockenartige, blecherne
Gebimmel im Schlagzeug und eine charakteristische harmonische Wendung, von der
noch die Rede sein wird.
Kein Wunder also, wenn Let it be aus der Rückschau der Ereignisse in
Zusammenhang mit der Auflösung der Popgruppe wie ein Vermächtnis anmutet, wie
ein musikalisches Testament, dem es erst nach dem Ableben der Gruppe vergönnt
war, das Ohr der Öffentlichkeit zu erreichen. Neben den Bibelzitaten ist wohl auch
diese Rolle als Abgesang für ein Missverständnis verantwortlich, das diesen Song
mit einer Opernarie Georg Friedrich Händels, der Auftrittscavatina „Ombra mai fu“
aus Serse, dem sogenannten Largo von Händel verbindet. Ein Gutteil seiner
Tantiemen spielt Let it be nämlich weltweit als Begräbnismusik ein. Websites wie
Funeralhelper oder TranquilityCremation, aber auch deutsche Sites wie „Rostock
Seebestattungen“ listen Let it be zwischen Swing low sweet chariot und Time to say
good bye im musikalischen Angebot auf. Allerdings ist diese Konnotation als Musik
des Abschieds keineswegs verbindlich. Sir Paul McCartney, von der Queen geadelt,
hätte Let it be wohl kaum in ihrer Gegenwart zu ihrem 60. Thronjubiläum 2012
aufführen können, wenn damit auch nur der Hauch eines Verdachts hätte
aufkommen können, dies sei eine versteckte Aufforderung zum Rücktritt oder gar
Endgültigeres. Let it be ist eben auch eine Huldigung an die Mutter, und sei sie die
Mutter der Nation, die den Mühseligen und Beladenen das Licht zu bringen imstande
ist. Let it be ist längst ein Klassiker geworden, und wie alle Klassiker hat es sich aus
den Kontexten gelöst, die für seine Entstehung verantwortlich waren, wie
Greensleeves, wie Händels Largo, wie Schuberts Gebet einer Jungfrau und viele
andere derartige Lieder, die man mitzusingen imstande ist, ohne zu wissen, wo sie
eigentlich herkommen und wann sie entstanden.
Nun könnte man mir leicht vorwerfen, ich würde aus der Vogelperspektive der
Nachgeborenen Dinge zusammenwerfen, die nichts miteinander zu tun haben. Wie
hätten die Jungs aus den bildungsfernen Liverpooler Arbeiterquartieren die Bibel so
genau kennen oder gar mit Händels Messias in Kontakt kommen können? Dieses
Argument wäre nicht nur in Zusammenhang mit den Beatles eine gängige,
tatsächlich auch von ihnen selbst betriebene Stilisierung, sondern würde auch
zeigen, wie zementiert die Mauern zwischen einer vermeintlichen musikalischen
Hochkultur und den Niederungen angeblich banaler Popmusik bis heute sind. Dass
Paul McCartney und George Harrison auf dieselbe, sehr ambitionierte Schule gingen,
bleibt dabei ebenso unbeachtet wie die Tatsache, dass sich Paul McCartney und
John Lennon ausgerechnet auf dem Gartenfest einer Liverpooler Kirchengemeinde
kennenlernten. Gar so bildungsfern, gar so bibelfern können die Jungs, die bald
4
danach als ebenso begnadete wie kalkulierte Bürgerschrecks Karriere machten,
dann doch wohl nicht gewesen sein.
Was hat Let it be, was andere Popsongs nicht haben? Es gehört laut dem
Popmusikmagazin Rolling Stone zu den erfolgreichsten Songs der Geschichte
überhaupt, und der britische Beatles-Forscher Ian McDonald vertrat sogar die
Meinung, dass die Popularität dieses Songs seine künstlerische Qualität bei weitem
überrage. Vielleicht sind es gerade die Schlichtheit, die Lakonik des Anfangs und des
Schlusses, die diesen Song zu einem er berühmtesten und erfolgreichsten weltweit
gemacht haben. Let it be hat alle Qualitäten jenes virtuellen Volkstons, den sich die
Komponisten des späteren 18. Jahrhunderts ausdachten, als sie das Volkslied
erfanden. Da wäre zunächst die absolut schematische, an keiner Stelle
aufgebrochene Viertaktperiodik zu nennen, die Volksliedern eigen ist – man denke
etwa an Der Mond ist aufgegangen. Da ist die fast bestürzend simple Harmonik,
bestehend aus nicht viel mehr als den Akkorden der C-Dur-Kadenz, also C – F – G –
C, an wenigen Stellen lediglich erweitert um eine kurze Passage in parallelem A-Moll.
Da ist fernerhin die fast durchgängig pentatonische Melodie, die die Halbtonschritte
und damit die spannungsgeladenen Leitton-Wirkungen vermeidet. Nur „fast“
durchgängig allerdings, denn das gehört zu den raffinierten Abweichungen und
verborgenen Botschaften, die nicht über den Text, sondern allein über die Musik
vermittelt werden: Der einzige Halbtonschritt, der dann doch erklingt und genau jene
Spannung erzeugt, die der Pentatonik fremd ist, ist dem Wort „words“ vorbehalten:
„speaking words of wisdom“. Jedesmal wenn diese Worte der Weisheit, also „Let it
be“, angesprochen werden, erklingt das F und damit der Halbtonschritt e-f, der die
Pentatonik der Melodie unterbricht. Deutlicher kann man dieses Wort kaum
hervorheben.
Musik 3:
John Lennon / Paul McCartney: „Let it be“
(s. Musik 1)
Ausschnitt: 0„25
Sprecher:
Und auch die Harmonik ist zwar simpel, bringt aber durchaus eigene Farben ins
Spiel. Denn die Kadenz erklingt nicht in ihrer authentischen Version Subdominante –
Dominante – Tonika, die dem Leitton eine prominente Rolle zuweisen und jene
Spannung erzeugen würde, die die pentatonische Melodie eben gerade vermeiden
möchte. Die Kadenz erklingt stattdessen in der plagalen Version Dominante –
Subdominante – Tonika, und zwar durchgängig. Diese plagale Kadenz, auf der der
gesamte Song basiert, wird umgangssprachlich auch Kirchenschluss genannt, weil er
die Jahrhunderte harmonischer Entwicklungen und Veränderungen vor allem in der
Kirchenmusik überdauert hat. Ihn umgibt nicht nur die Aura des Religiösen, sondern
auch die Aura des Altertümlichen, weit in die mythische Vorzeit Zurückreichenden.
Wenn Claudio Monteverdi seine Marienvesper mit einem plagalen Amen ausklingen
lässt, so ist er, im Jahre 1610, noch ganz bei sich und bei der liturgischen Musik.
Wenn Georg Friedrich Händel das prächtige, triumphale Hallelujah aus dem Messias
plagal enden lässt, so hängt er dieser herrscherlichen, für das Theater und nicht für
die Kirche konzipierten Musik ein Mäntelchen christlicher Demut um. Und wenn
Wolfgang Amadeus Mozart das Gebet des kretischen Königs Idomeneo an den Gott
Neptun „Accogli o re del mar“ mit einer plagalen Kadenz ausklingen lässt, holt er die
Kirche gar auf die Opernbühne und in den heidnischen Kontext des IdomeneoLibrettos hinein.
5
Musik 4:
Wolfgang Amadeus Mozart: „Accogli o re del mar“ aus: „Idomeneo“
Christoph Strehl (Tenor)(Arbace, Vertrauter des Königs)
Sinfonietta des Dänischen Rundfunks, Kopenhagen
Leitung: Adam Fischer
LC 02213 Dacapo, Best.-Nr. 6.220586-89
2„36
Sprecher:
Genug der musikalischen Analyse. Erzählte Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen,
hat Grillparzer gesagt. Und es fragt sich ohnedies, ob so etwas Simples wie Let it be
überhaupt analysefähig ist. In seinem Studienbuch Analyse lernen hat Clemens
Kühn 1993 einem Kapitel den provokanten Titel gegeben: „Stücke, die nichts
hergeben“. Darin kommt er dann natürlich darauf zu sprechen, dass es sich in jedem
Fall lohnt, genauer hinzuschauen, aber es findet sich dort doch auch der
bemerkenswerte Satz: „Es ist nicht Aufgabe von Analyse, bescheidene Musik ganz
toll zu finden oder – zu machen.“ Ich würde diesen Satz gern ergänzen: Es ist aber
Aufgabe von Musikwissenschaft, danach zu fragen, was sich hinter dieser
vermeintlichen Bescheidenheit verbirgt und warum wir überhaupt glauben, zwischen
bescheidener und weniger bescheidener Musik unterscheiden zu können.
Tatsächlich bietet Let it be auf den ersten Blick wenig, was einen
Musikwissenschaftler alter Schule interessieren könnte. Wer die Originalität des
musikalischen Materials und die Dichte des Satzes als die zentralen Kriterien
ansieht, die darüber befinden, ob ein Stück es wert ist, sich damit zu beschäftigen,
wer das musikalische Werk als eine in sich geschlossene, unveränderbare Größe,
als das berühmte „opus perfectum et absolutum“ betrachtet, das jeden
Musikwissenschaftler vom ersten Semester an begleitet, wer darüber hinaus die
Partitur als den zentralen Gegenstand des Faches ansieht und nicht so sehr das
klingende Ereignis der Aufführung, der wird bei den Beatles im Allgemeinen und bei
Let it be im Besonderen nicht fündig werden.
Abgesehen von den simplen musikalischen Strukturen, die vielleicht „nichts
hergeben“, hätte der Musikwissenschaftler alter Schule schon Schwierigkeiten bei
der Frage, womit er sich überhaupt beschäftigen soll. Die Beatles haben ihre Songs
nicht „komponiert“, sondern im Probenraum oder im Studio erfunden. Einen
alleinigen Urheber gibt es in der Regel nicht, weil alle vier an der Entstehung der
Songs in veränderlichen Anteilen irgendwie mitgewirkt haben. Let it be etwa, das
wohl hauptsächlich von Paul McCartney stammt, und von dem sich John Lennon
später sogar distanzierte, trägt wie so viele andere Songs das Copyright
Lennon/McCartney. Es gibt keine Notate, sondern bestenfalls später, im Nachhinein
erstellte schriftliche Versionen, entweder als Gerüst aus Melodie und Akkorden zum
Nachspielen, oder als mühselige, aber getreuliche Dokumentation all dessen, was in
der jeweiligen Aufnahme erklingt, mit allen Overdubs, allen technisch einmontierten
Instrumenten und Tierstimmen wie Hähnen, Hunden oder Katzen. Aber selbst von
den produzierten Schallplatten, den sogenannten „original recordings“, gibt es keine
„Fassung letzter Hand“, sondern oft mehrere Versionen, im Falle von Let it be
mindestens drei, die sich signifikant unterscheiden. Was also wäre überhaupt der
Gegenstand, über den der Musikwissenschaftler Aussagen zu treffen hätte?
Weil diese Fragen nicht befriedigend zu beantworten sind, neigt die
Musikwissenschaft dazu, Zäune zu errichten, nicht nur traditionell seit ihrer Gründung
6
zwischen den drei Teilfächern historische, systematische und ethnologische
Musikwissenschaft, sondern seit einiger Zeit auch zwischen Musikforschung und
Popmusikforschung. Institutionell führt das dazu, dass es Akademien für Popmusik
oder Lehrstühle für Popmusikforschung gibt, personell dazu, dass sich die einen
nicht für die Beatles und die anderen nicht für Mozart interessieren – nicht zu
sprechen von den wechselseitigen Idiosynkrasien und Werturteilen. Das aber
schadet, so meine ich, nicht nur der Popmusikforschung in ihrer historischen
Ahnungslosigkeit, sondern auch der etablierten Musikforschung, die nicht wahrhaben
will, dass die Musikgeschichte ganz ähnliche Fragen aufwirft und ganz ähnliche
Methoden erfordert, wie man sie an der Popmusik diskutieren kann. Blickt man heute
in ein einschlägiges Lexikon wie den Sachteil des Riemann-Lexikons von 1967, dann
kann man aus der Distanz eines halben Jahrhunderts nur noch den Kopf schütteln.
Über Popmusik heißt es da:
Zitat:
Popmusik. Seit 1960 international verbreitete Variante afro-amerikanischer Musik, die
im Kontext der Ausbildung jugendlicher Subkulturen entstand.
Sprecher:
1967, als dieses Lexikon erschien, waren die Beatles auf dem Höhepunkt ihrer
Karriere und hatten mit Sgt. Pepper‟s Lonely Hearts Club Band gerade das
wegweisende Konzeptalbum veröffentlicht. Und afro-amerikanisch war es ganz
sicher auch nicht. Gerade die Beatles taten viel dazu, ihre Songs nicht nur in der
globalen Popkultur, sondern auch in der europäischen Musik- und
Literaturgeschichte zu verankern, unterstützt von ihrem hochgebildeten Produzenten
George Martin, auf den die bekannten Streichquartett- und Cembalo-Arrangements
zurückgehen. Ihre Texte spielen auf William Blake ebenso an wie auf Lewis Carroll.
Sie reagierten gleichsam seismographisch auf viele musikalische und kulturelle
Zeitströmungen wie etwa die Entwicklung der elektronischen Musik oder das
wachsende Interesse an fernöstlicher Kultur, und wenn sie auch nicht als deren
Erfinder gelten können, so trugen sie doch entscheidend dazu bei, manche dieser
Zeitströmungen aus dem Versteck der Exklusivität zu holen und zu einer
Massenkultur zu machen.
Zäune errichtet die Musikwissenschaft neuerdings auch zwischen der
Kompositionsgeschichte und der Kulturgeschichte – zwischen denen, die sich mit
den Noten beschäftigen und denen, für die das Umfeld der Werke im Focus steht, als
ob es sich hierbei um einen Gegensatz handelte und nicht das eine wie das andere
für das Verständnis der Musik unabdingbar wäre. Dass das musikalische Kunstwerk
der alleinige oder auch nur der hauptsächliche Gegenstand der Musikwissenschaft
sei, ist schon seit längerem nicht mehr selbstverständlich. Das „imaginäre Museum
der musikalischen Werke“, wie Carl Dahlhaus es 1985 nannte, führt nur noch ein
Schattendasein. Der Boom der Historischen Aufführungspraxis seit den 1960er
Jahren hat ebenso wie die Beschäftigung mit der zeitgenössischen AvantgardeMusik aus denselben Jahren dazu geführt, dass das klingende Ereignis neben der
schriftlichen Partitur immer stärker ins Blickfeld der Musikwissenschaft rückte.
Inszenierungsforschung und Tanzforschung haben in den letzten Jahrzehnten das
Ihrige getan, das klassische Themenspektrum der Musikwissenschaft aufzubrechen
und zu erweitern.
Wer sich aber mit der musikalischen Avantgarde beschäftigte, schaute selten auf die
Popmusik, und umgekehrt. Dabei hätte es gerade in den 1960er Jahren, dem
7
Jahrzehnt der Beatles, eine Vielzahl von parallelen Entwicklungen und sogar
Überkreuzungen zwischen Alter Musik, Neuer Musik und Popmusik zu konstatieren
gegeben. Die Wiederentdeckung der Kastratenstimmen verbunden mit dem Aufstieg
der Countertenöre und das exzessive Falsettieren in der Popmusik wie etwa bei den
Beach Boys oder den Beatles verlaufen zeitlich exakt parallel. Die rasante
Entwicklung der Aufnahmetechnik lockte Musiker aller Couleur seit der Mitte der
Sechziger Jahre weg von der Bühne und in die Studios – die Beatles ebenso wie
Glenn Gould. Lange vor Frank Zappa ließen sich die Beatles von der elektronischen
Musik Karlheinz Stockhausens inspirieren und reihten ihn sogar auf dem
Plattencover von St. Pepper‟s Lonely Hearts Club Band ein. Die zunehmende
Politisierung der Musik seit der Mitte der Sixties findet zeitgleich in der Avantgarde
wie bei den Beatles statt, teilweise mit denselben musikalischen Mitteln; und auch die
transkulturellen Aktivitäten, die wir derzeit so feiern, waren hier wie dort in den
Sechzigern präsent. Genügend Stoff also, die Zäune zu öffnen und nicht nur
verstärkt über die Gleichzeitigkeit derartiger musikalischer Phänomene
nachzudenken, sondern auch in einem historischen Längsschnitt nach den Wurzeln
zu suchen, die Popsongs wie Let it be mit musikalischen Phänomenen früherer
Jahrhunderte verbinden.
Mein Plädoyer zielt daher auf Integration statt Segregation. Popmusikforschung mag
ohne Musikgeschichte auskommen, ebenso wie Historische Musikwissenschaft ohne
Popmusik – sinnvoll ist beides nicht. Denn die Musikgeschichte besteht keineswegs
nur aus Werken im perfekten und absoluten Sinne, sondern auch aus unzähligen
anderen Phänomenen, die sich an Popsongs wie Let it be studieren lassen. Dazu ist
es nötig, sie zu kontextualisieren und zu historisieren. Popmusik ist eben kein
eigenes Feld, das unabhängig von der Musikgeschichte betrachtet werden könnte,
und es ist möglich und nötig, sie in einer musikhistorischen Genealogie zu verorten,
die weit zurückreicht. Einige Punkte möchte ich kursorisch ansprechen, um dann bei
einem konkreten Beispiel etwas länger zu verweilen.
Das betrifft zunächst den Bereich des Populären als einer Kategorie, die sich von
dem Anspruchsvollen abzugrenzen pflegt. Hochkultur versus musikalisches
Souterrain, um es in den Worten meines Lehrers Carl Dahlhaus zu sagen – das
scheint hier die Frage zu sein, und die verbindet sich mit dem Argument gegen eine
Massenkultur, die um der allgemeinen Verständlichkeit willen nichts mehr für Kenner
bietet. Derartige „niedere“ Musik, Musik für die einfachen Menschen oder solche, die
sich gern bisweilen als einfach gaben, hat es freilich immer gegeben. Nehmen wir Let
it be mit seinen religiösen Untertönen:
Musik 5:
Trad.: „Greensleves“
Mitgleider des La Cetra Barockorchester, Basel
Leitung: Andrea Marcon
LC 00173 Deutsche Grammophon, Best.-Nr. 4790079
Ausschnitt: 0„50
Sprecher:
Was wäre das anderes als jene Straßengesänge namens Lauda aus dem 13. und
14. Jahrhundert, anderes als jene Canzonette spirituali wie etwa „Bisogna morire“,
mit denen religiöse Bruderschaften im 17. Jahrhundert um Aufmerksamkeit für die
Endlichkeit des irdischen Daseins warben, anderes als Der Mond ist aufgegangen,
das ja auch ein religiöses Lied ist? Die Berührungsängste der Musikwissenschaft vor
dem sogenannten Popolaren, wie Leopold Mozart es nannte, reichen weit zurück,
8
und selbst die, die bereit waren, sich damit wissenschaftlich auseinanderzusetzen
wie Dahlhaus, tat dies unter dem durchaus negativ konnotierten Begriff „Trivialmusik“
und bezogen auf das 19. Jahrhundert. Musikalische Massenphänomene hat es aber
auch schon in vergangenen Zeiten gegeben – man denke etwa an das erwähnte
Greensleeves oder den Ballo del Granduca, der im 17. Jahrhundert in ganz Europa
verbreitet war. Es scheint, als ob der historische Abstand die musikalischen
Gegenstände adeln würde – angemessen ist dies nicht.
Nehmen wir zweitens die Idee von Komponieren versus Improvisieren und, damit
verbunden, den Zeitpunkt der schriftlichen Notierung. Lange Jahrzehnte hat sich die
Musikwissenschaft primär mit der schriftlichen Überlieferung von Musik, mit der
Partitur beschäftigt und intensiv etwa die Frage diskutiert, wann die sogenannte
Urfassung oder eher die letzte Version, die sogenannte Fassung letzter Hand
Gegenstand der Forschung zu sein habe und warum. Dass dabei ganze Bereiche
der Musik aus dem Blickfeld der Forschung fallen mussten, wurde gleichsam
billigend in Kauf genommen. Von Opern etwa gibt es streng genommen nur dann
eine Fassung letzter Hand, wenn die Oper nicht mehr gespielt wurde, weil jede
Aufführung Veränderungen mit sich brachte. Und die Geschichte der musikalischen
Improvisation lässt sich vor der Erfindung der Tonaufzeichnungen zwar nur sehr
unvollkommen dokumentieren, lässt aber angesichts der schriftlichen Dokumente,
die wir darüber aus vergangenen Jahrhunderten besitzen, auf ein ähnliches
Verfahren schließen wie bei den Song-Notaten der Beatles: Vieles von dem, was wir
als Komposition behandeln, ist in Wahrheit aufgeschriebene Improvisation –
Orgelpräludien aus dem 15. Jahrhundert ebenso wie größere Passagen in Mozarts
Klavierkonzerten, Ostinatovariationen des 17. Jahrhunderts ebenso wie Franz Liszts
Lied- oder Opernparaphrasen. Und selbst die Notate wie der erwähnte Gerüstsatz
aus Gesangsmelodie und Instrumentalbass ohne Rücksicht auf das, was bei der
Aufführung bzw. der Aufnahme sonst noch alles hinzugefügt wurde, haben ihre
Entsprechungen in der älteren Musik, denn was sind die Überlieferungen der Opern
eines Monteverdi, eines Francesco Cavalli anderes als genau dieses, nämlich ein
rudimentäres Dokumentieren im Nachhinein, das mit den differenzierten
Klangwirkungen der Aufführung nur noch wenig zu tun hatte? Wer heute eine
Cavalli-Oper aufführen will, muss sich dieselben Gedanken machen wie eine Band,
die anhand der Songbooks einen Beatles-Song wieder aufführen will.
Damit erreichen wir, drittens, ein Problem aller Vokalmusik, nämlich die Art der
Deklamation, verbunden mit der Art der Notation. Anders als ein Instrument, das sich
dem mathematischen Diktat der ganzen, halben, Viertelnoten einer Komposition
leichter unterwerfen kann, bleibt textgebundene Musik in der Aufführung rhythmisch
immer unexakt, weil das Sprechen zum Singen hinzutritt. Die Musikgeschichte hat
sich dieses Phänomen zunutze gemacht, indem sie sich den Unterschied zwischen
cantar parlando und parlar cantando, also zwischen sprechend Singen und singend
Sprechen zu Rezitativ und Arie anverwandelt hat. Was wir in den Noten lesen, kann
aber niemals das sein, was wir zu hören bekommen. Die kleinen Irregularitäten bei
der Textdeklamation entsprechen der aufgeschriebenen Gesangsmelodie in keinster
Weise. Notation und Interpretation klaffen weit auseinander, deutlich zu hören auch
in Let it be, dessen rhythmisch völlig freie Deklamation über dem schematischen
Rhythmus der Begleitung keine Notationsweise mit Synkopen und Überbindungen
exakt aufzeichnen kann. Der Versuch, diese freie musikalische Deklamation in
exakter Notation wiederzugeben, scheitert grandios – und wirft ein Licht auf die
wahrscheinliche Interpretation von Vokalmusik der Vergangenheit, die doch
9
mathematisch so exakt in unserer gängigen Notation dokumentiert ist. Monteverdis
Orfeo, Bachs Evangelist oder Wagners Hans Sachs dürften sich in ähnlicher Weise
von der notierten Musik entfernt haben.
Die Arbeitsweise der Beatles wirft viertens auch grundsätzliche Fragen über die
Kompositionsweise auf, die weit in die Geschichte zurückreichen – auch in der
Vergangenheit gab es nicht nur das stille Kämmerlein des Originalgenies, sondern
auch die Gemeinschaftsarbeit, bei der am Ende nicht mehr zu klären war, wer wen
wann wozu inspiriert hatte. Das betrifft die symbiotische Zusammenarbeit zwischen
Textdichter und Komponist wie etwa im Falle Da Pontes und Mozarts ebenso wie die
nach außen hin eher asymmetrische musikalische Partnerschaft von Fanny und Felix
Mendelssohn.
Und selbst bei den ureigensten Fragen einer Musikwissenschaft als philologischer
Disziplin gibt es fünftens interessante Parallelen zu dem Umfeld der BeatlesPhilologie: Wer die gerade einmal wieder aktuelle Diskussion um die richtige
Wiedergabe von Operntexten jenseits der Partitur verfolgt, der erlebt dort nichts
anderes als was die Darstellung der Beatles-Songtexte in den zahllosen
Internetforen charakterisiert. In beiden Fällen steht die Frage im Vordergrund, ob
gesungene Texte zu metrisch korrekten Strophen zusammengefasst werden sollen
oder Wort für Wort aufgeschrieben, wie sie gesungen werden, mit allen
Wiederholungen, die die Vertonung so mit sich bringt, ob also, um ein
zugegebenermaßen drastisches Beispiel zu nennen, in der Textedition von Mozarts
c-Moll-Messe stehen sollte: Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison, oder: Kyrie
eleison, eleison, Kyrie eleison, eleison Kyrie eleison, eleison, eleison, eleison,
eleison und so fort. Blickt man etwa auf die verschiedenen Textdarstellungen von Let
it be in den zahllosen Internetforen, dann findet man genau dasselbe Problem, für
das es keine Lösung, sondern nur begründete Entscheidungen gibt. Ich habe einmal
durchgezählt: Die Textdarstellung allein des Schlusses von Let it be schwankt
zwischen 34 und 73 Wörtern, je nachdem ob jedes Oh und Yeah dokumentiert wird,
und jede Wiederholung des Refrains.
Und schließlich zeigt sich sechstens auch an Let it be ein Problem, dem sich jedes
Strophenlied zu stellen hat – ganz gleich, ob es sich um ein mittelalterliches
Minnelied, einen Lutherchoral oder eine Ballade aus dem 19. Jahrhundert handelt –
den Umgang mit den immer neuen Textstrophen bei gleichbleibender strophischer
Melodie. Was wird aus dem textausdeutenden Halbtonschritt der „words of wisdom“,
wenn er in der zweiten und dritten Strophe auf andere Wörter trifft?
All das rührt an Grundfragen der Musikwissenschaft, von denen jede einzelne einer
längeren Betrachtung wert wäre. Und natürlich heischt eine solche Betrachtung nach
einer Antwort auf die Frage, warum derartige Grundfragen ausgerechnet über einen
Popsong eingebracht werden sollten. Gibt es nicht genügend weniger triviale Musik,
an der diese Phänomene diskutiert werden können? Tatsächlich tut sich die
Musikwissenschaft schwer, das Grundsätzliche auch im Trivialen zu suchen. Die
Berührungsängste sind groß; und es ist vielleicht sogar nicht einmal Zufall, dass der
Sammelband „Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts“ im Jahre 1967
herauskam, also just in der Dekade entstand, in der die Beatles die musikalische
Welt nicht nur der Jugendkulturen, sondern auch der Intellektuellen eroberten. In
seinem Vorwort verwies der Herausgeber Dahlhaus sogar auf den „Kunstbegriff der
romantischen Theorie“, der für die Ausgrenzung der vermeintlich niederen oder auch
nur funktionalen Musik verantwortlich sei, und zitierte einen Autor, für den es eine
10
„unselige Anmaßung“ war, Trivialmusik nach Kriterien zu beurteilen, die von
Kunstwerken abstrahiert waren. Auch Dahlhaus selbst bezeichnete die
Musikwissenschaft als nicht zuständig für triviale Musik, wohlgemerkt die des 19.
Jahrhunderts, und stellte sie der poetischen, Originalität voraussetzenden Musik
gegenüber. Trivialmusik, so Dahlhaus, sei an die Gegenwart gebunden, und er fügte
hinzu:
Zitat:
„Sein Wesen zeigt das Triviale in dem Augenblick, in dem es seine Daseinsform, die
Aktualität, verliert.“
Sprecher:
Umgekehrt könnte das allerdings auch heißen: Klassiker, die das Stadium der
Zeitgebundenheit, der Aktualität, überwunden haben, können trivial nicht mehr sein.
Das gilt auch für die Beatles.
Und deshalb möchte ich mich jetzt mit einer siebten Frage beschäftigen, die ein
grundsätzliches Problem jeder Musik beschreibt und sich auch in Zusammenhang
mit Let it be stellt – die Frage nach der Schlussbildung.
Die Kunst des Aufhörens ist ein schwieriges Geschäft, nicht nur, aber auch und
besonders in der Musik. Das richtige Timing ist von entscheidender Bedeutung, die
Frage, ob man sich, wie Joseph Haydn in seiner Abschiedssinfonie, allmählich aus
dem musikalischen Zusammenhang herausschleicht oder ob man, wie Beethoven in
seiner V. Sinfonie, mit einer Serie immer neuer Schlussakkorde eine Zäsur zwischen
dem Klang des musikalischen Werks und der Stille danach nach Art eines
Dampfhammers in die Wahrnehmung der Zuhörer rammt. Es gibt abrupte und nicht
endenwollende Schlüsse, beiläufige und pointierte, laute und stille, wehmütige und
froh gestimmte. Und sie sind wichtig für das Verständnis nicht nur dieses Schlusses,
sondern auch für das Verständnis der gesamten Komposition. „Finis est
principalissima pars cantus“ - das Ende ist der hauptsächlichste Teil der Melodie – so
hat es ein Musiktheoretiker zu Beginn des 14. Jahrhunderts formuliert. Der Zuhörer
muss auf den Schluss vorbereitet werden, muss wissen, wann das Stück zu Ende ist.
Nur dann bekommt der Schluss jene Funktion, die das Framing, die Rahmung des
musikalischen Ereignisses als einer besonderen Form der künstlerischen Erfahrung,
vollendet. Für den Popsong stellt sich die Frage nach dem Aufhören noch in einer
besonderen Weise, ist ihm doch die gern genutzte Möglichkeit des Fadeout, des
Ausblendens eigen – ein Aufhören, dass sich dem Entschluss aufzuhören verweigert
und die Technik erledigen lässt, was die Musik selbst nicht zustande bringt. „Hey
Jude“ etwa, nur kurz von „Let it be“ entstanden, endet mit einem Fadeout von vollen
2 Minuten. Da ist die Schlussbildung von „Let it be“ von anderem Schlag, und ich
erlaube mir noch einige wenige analytische Bemerkungen, bevor ich dann selbst zum
Schluss komme.
Ich habe den Begriff des Framing, der in der Kulturanthropologie, namentlich der
Ritualforschung, so gefeiert wird, mit Bedacht gewählt. Denn Let it be wird von einer
Reihe von Klavierakkorden eingerahmt, die zu Beginn die Voraussetzungen für den
gesungenen Part schaffen, den gesamten Song dann strukturieren und stützen und
am Schluss das Ende markieren. Diese Akkordprogression mit dem bereits
erwähnten plagalen Schluss zieht sich wie ein Ostinato durch das gesamte Stück.
Und sie enthält ein kleines melodisches Detail, nämlich die vier absteigenden Noten
a-g-f-e in der Oberstimme der rechten Hand des Pianisten am Schluss, die im
11
Verlauf des Songs große Wirkung entfalten werden:
Musik 6:
John Lennon / Paul McCartney: „Let it be“
(s.Musik 1)
Ausschnitt: 0„20
Sprecher:
Diese vier absteigenden Noten wurzeln in einer musikalischen Formel, die auf eine
mehr als vierhundertjährige Geschichte zurückblickt und eine deutliche Konnotation
besitzt – sie wurzeln in nichts Geringerem als dem sogenannten Lamentobass, den
Claudio Monteverdi einst als instrumentale Ostinatoformel im „Lamento della Ninfa“
erfunden hatte, und der sich über Jahrhunderte hinweg den Status eines Emblems
für Klage und Trauer, für Abschied erworben hatte, bei Bach und Mozart, Schubert
und Bruckner gleichermaßen präsent und auch in der Popmusik ebenso gern
verwendet wird wie der walking bass, ebenfalls eine Erfindung Monteverdis. Dieses
absteigende Tetrachord erklingt nun alle vier Takte, es markiert das Ende jeder
Textstrophe sowie jedes Refrains; und es entfaltet eine besondere Wirkung vor dem
instrumentalen Zwischenspiel und ganz am Ende. Dort nämlich werden drei
absteigende Tetrachorde hintereinander zu einer neun Töne langen absteigenden
Melodie zusammengestaucht:
Musik 7:
John Lennon / Paul McCartney: „Let it be“
(s. Musik 1)
Ausschnitt: 0„20
Sprecher:
Im Verhältnis zu einem zweiminütigen Fadeout, aber auch zu diversen
apotheotischen Schlusswirkungen in anderen Songs mutet dieser Schluss kurz und
knapp, wenn auch gut vorbereitet an, und er bleibt dennoch irgendwie in der Luft
hängen. Ein Ritardando ist nötig, um deutlich zu machen, dass der Song hier wirklich
zu Ende ist und nicht etwa in die nächste strophische Runde geht. Es ist hier gewiss
nicht der Ort, eine Geschichte des Schlusses in der Musik zu entwerfen. Dennoch sei
ein kurzer Blick auf die unterschiedlichen Konzepte des Aufhörens erlaubt. Im
Mittelalter musste ein Musikstück mit einem perfekten Schluss enden, alles andere
wäre undenkbar gewesen. Und noch zu Zeiten, als die Rhetorik sich der Musik
bemächtigte, war der Punkt am Ende des Satzes auch für die Musik verbindlich –
und nicht einmal das Ziel der Komposition. Johann Mattheson schrieb hierzu in
seinem Vollkommenen Kapellmeister im Jahre 1739:
Zitat:
„Wie nun der Punkt alles beschließet, so soll dessen Betrachtung auch den
Anmerckungen dieses Haupt-Stückes anitzo ein Ziel setzen. Und ob er gleich unter
den Einschnitten der Klangrede der grösseste ist, fällt doch in der Melodie das
wenigste dabei zu beobachten vor. Denn man hat weiter nicht zu thun, als an dem
Ort, wo der Punct (in der Rede) befindlich ist, eine förmliche Cadentz, eine rechte
vollkommene Clausel, und letztlich einen gäntzlichen Endigungs-Schluss im
Hauptton anzubringen.“
Sprecher:
Die Kadenzharmonik, der dreiteilig zyklische Sonatensatz lebten von dem
Grundvertrauen in eine Rückkehr in die Haupttonart, egal wie weit man sich im
Mittelteil davon entfernte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber ging diese
12
Gewissheit verloren, und das Beschließen einer Komposition wurde in dem Maße
problematischer, in dem die präfigurierten Formen als Modelle verschwanden. Nun
musste sich jeder Komponist seine eigenen Gedanken darüber machen, wie er sein
Stück zu Ende brachte. Dabei wurde die Erkenntnis immer wichtiger, dass das
Aufhören etwas anderes als ein Schluss ist.
Musik 8:
Salvatore Sciarrino: „Vanitas“
Sonia Turchetta, Sopran
Rocco Fillippini, Violoncello
Andrea Pastalozza, Klavier
Myto Records, Best.-Nr. MCD 1015
Ausschnitt: 0‟45
Sprecher:
Ein Extrembeispiel wäre etwa das Ende von Salvatore Sciarrinos Vanitas von 1981 –
ein vier Minuten langes Abwärtsglissando auf dem Cello, schnurstracks, aber doch
schier endlos gedehnt ins Nichts abgleitend wie das irdische Leben. Von einem
formellen Schluss, von einem Punkt kann hier nicht die Rede sein, eher schon von
einem Aufhören, hinter dem sich durchaus noch ein Weitermachen, eine Öffnung in
eine andere Welt, ein neuer Anfang in einem anderen Zustand verbergen kann.
Eigentlich war es Zufall, dass Let it be der letzte Song der Beatles werden sollte.
Aber es zeigte sich, dass er sich bestens eignete, das Aufhören zu markieren, es mit
einer besonderen Aura zu umgeben. Mit ihm hörten die Beatles als Gruppe auf zu
existieren. Paul McCartney hatte einen guten Zeitpunkt für das Aufhören gefunden,
bevor der innere Zerfall der Marke Beatles sich auch hörbar auf ihre künstlerische
Produktion auswirkte. Allerdings war Let it be zwar ein Aufhören, aber kein Schluss.
Jeder der Fabulous Four startete danach eine erfolgreiche Solokarriere.
Wie müssen wir also das Ende von Let it be verstehen? Ist es ein simpler
Schusspunkt? Oder lebt der Song von einer Kunst des Aufhörens, die weniger
Gewissheit vermittelt als man von einem Ende erwarten dürfte? Von einer förmlichen
Kadenz, einer vollkommen Klausel einem gänzlichen Endigungs-Schluss kann bei
der plagalen Kadenz von Let it be nur bedingt die Rede sein. In Zeiten der
klassischen Kadenzharmonik, die von der Leitton-Spannung und der gleichsam
erlösenden Ankunft in der Grundtonart lebt, ist dem plagalen Schluss immer auch
etwas Offenes, nicht ganz Aufgelöstes, Fragendes eigen, eine Ahnung davon, dass
dies noch nicht das Ende gewesen sein kann. Die plagale Kadenz ist musikalisch
nicht minder offen als die Aussage des Textes: Das Sich Anheimgeben an das, was
nicht zu ändern ist, die Trauer darüber, dass die Welt so ist, wie sie ist, Neugier, was
da kommen wird, wenn man die Dinge geschehen lässt, Vertrauen darauf, dass es
gut sein wird. Muss es sein? Es muss sein! Lass es geschehen. Lass es zu. Das ist
im Song nicht anders als im Leben.
Musik 9:
John Lennon / Paul McCartney: „Let it be“
The Beatles (remastered version)
LC 0299 Parlophone, Best-Nr. 2438072
13
3:50
Literaturangaben:
Carl Dahlhaus, Vorwort, in: Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von
Carl Dahlhaus, Regensburg 1967, S. 11.
Clemens Kühn, Analyse lernen (Bärenreiter Studienbücher zur Musik 4), Kassel
1993, S. 186
Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister 1739. Faksimile-Nachdruck
hrsg. von Margarete Reimann, Kassel 1954, S. 195.
Riemann Musiklexikon, Sachteil hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz 1967, S.
1008.
14
Herunterladen