NR. 8 | 2017 BLICK PUNKTE MENSCH GESELLSCHAFT SICHERHEIT Integrative Medizin. Unwirksame Verheißung oder nutzbringende Erweiterung? Inhaltsverzeichnis BLIND Prof. Dr. med. Bernd Brüggenjürgen Über Integrative Medizin Seite 04 ZUKUNFT Prof. Dr. Benno Brinkhaus, Prof. Dr. Stefan N. Willich Integrative Medizin – Entwurf für die Medizin der Zukunft Seite 06 PRAXIS 1 Prof. Dr. Albrecht Hempel Integrative Medizin für die Praxis Seite 09 Impressum Herausgeber SDK-Stiftung der Süddeutschen Krankenversicherung a.G. Raiffeisenplatz 5 | 70736 Fellbach PRAXIS 2 Sibylle Vogel Hörwahrnehmungsstörung und Stimmfrequenzanalyse – Eine Messmethode und eine Behandlungsform bei dysfunktionaler Belastung der Kommunikationsfähigkeit Seite 12 Tel. 0711 / 7372-7777 | [email protected] | www.sdk.de Redaktion Süddeutsche Krankenversicherung a.G. Abteilung Vorstandsstab Monika Krimmer | Rafaela König Raiffeisenplatz 5 | 70736 Fellbach FINANZIERUNG Prof. Dr. med. Bernd Brüggenjürgen Komplementärmedizin und Kosten – Können wir uns eine integrative Medizin leisten? Seite 17 Tel. 0711 / 7372-4912 |-4916 [email protected] | [email protected] Druck Knöller Druck, Stuttgart Gestaltung, Satz Wohlgemuth & Company, Stuttgart Bildnachweise Titelbild, S. 19: thinkstock S. 13, S. 15: http://linguamodulata.com/ ISSN 2197-8980 2 Liebe Leserinnen und Leser, in der aktuellen Ausgabe von BLICKPUNKTE wird eine mend als wichtigen Wettbewerbsfaktor. Diese Entwicklung interessante Entwicklung im Gesundheitswesen näher dürfte sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen. beleuchtet: Die sogenannte Komplementär- und Alternativmedizin (CAM). Hierzu gehören alternative Behand- Seitens der klassischen Schulmedizin mag in der CAM an- lungsmethoden wie beispielsweise Akupunktur, Homöopa- fangs eine Gefahr gesehen worden sein. Doch es ist fest- thie oder auch Naturheilverfahren. Die Komplementär- und zustellen, dass aus Patientensicht sowohl Schul- als auch Alternativmedizin umfasst all jene Aspekte, die nicht durch Komplementärmedizin von Bedeutung sind, da das Neben- die klassische Schulmedizin, wie sie im Medizin- oder einander dieser beiden Richtungen im Gesamten betrachtet Psychologiestudium gelehrt werden, abgedeckt sind. eine Erweiterung des Angebots darstellt. Dies wird bereits durch den Begriff „Komplementärmedizin“ deutlich, so be- Oft fällt in diesem Zusammenhang der Begriff „neue Be- deutet „komplementär“ schließlich nichts anders als eine handlungsmethoden“. Im Grunde hat die Alternativmedizin Ergänzung zu bereits Bestehendem und Etablierten. aber eine durchaus lange Geschichte. Schließlich wurden bereits vor Jahrzehnten einige jener Behandlungsmetho- Unterschiedliche Positionen zur CAM gibt es natürlich nach den angewandt, die heute im Bereich der CAM durch- wie vor. Manche mögen sie als „Hokuspokus“ oder „Schar- aus gängig sind. Und auch einige Heilverfahren, die in latanerie“ bezeichnen, andere darauf schwören, eines steht Asien bereits seit Jahrhunderten praktiziert werden, wie jedoch fest: Die Komplementär- und Alternativmedizin ist aus beispielsweise die Akupunktur, sind der Alternativmedizin dem deutschen Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. zuzuordnen. Daher freue ich mich, dass diese Ausgabe von BLICKPUNKTE sich diesem interessanten Themenfeld widmet. Die eigentliche Bezeichnung „Alternativmedizin“ hat sich in Deutschland dagegen erst recht spät, in den 1980er Ich wünsche Ihnen spannende Momente und viel Vergnü- Jahren, verbreitet. Nichtsdestotrotz stellt sie mittlerweile gen beim Lesen. einen gewichtigen Teilbereich des deutschen Gesund- Ihr heitswesens dar, auch aus ökonomischer Sicht. Immer mehr Ärzte und Therapeuten bieten alternative Behandlungsmethoden an und im Zuge der steigenden Nachfrage seitens der Patienten betrachten auch die Krankenkassen eine Aufnahme der CAM in ihren Leistungskatalog zuneh- Klaus Henkel Kuratoriumsvorsitzender SDK-Stiftung 3 Über Integrative Medizin von Prof. Dr. med. Bernd Brüggenjürgen, MPH Die Rahmenbedingungen unseres Gesundheitswesens ändern sich: So befürchten viele Bürger, dass die zunehmende Ökonomisierung eine patientenorientierte Versorgung kaum noch ermöglicht und die Mitmenschlichkeit verloren geht. Zudem hat auch die wissenschaftliche Schulmedizin bekanntermaßen ihre Grenzen und lässt Raum für Alternativen offen. Mit einem Blick zurück auf die Errungenschaften der Hygiene und die moderne Medizin kann bescheinigt werden, dass eine erhebliche Verbesserung der Morbidität und eine beträchtliche Verlängerung der Lebenserwartung erreicht wurden. Wichtige Patientenbedürfnisse mussten über die Jahre allerdings immer wieder gestärkt werden, so gehören die Sicherheit von Behandlungsverfahren und ihre Wirksamkeit zum grundlegenden Credo unserer Gesundheitssysteme. Prof. Dr. Bernd Brüggenjürgen leitet seit 2008 den SDK-Stiftungslehrstuhl für Gesundheitsökonomie an der SteinbeisHochschule Berlin. Dennoch scheint der Verlust an persönlicher Zuwendung, die Veränderung vom Patienten zum Kunden und die fehlende ganzheitliche Betrachtung eine Hinwendung zu alternativen Verfahren stark zu fördern. So ist in Deutschland eine steigende Inanspruchnahme von Maßnahmen aus dem Komplementär- und Alternativmedizin (CAM) Spektrum zu beobachten. Schwerpunkte sind die Anthroposophische Medizin, die Homöopathie, die Neuraltherapie, die Phytotherapie und die Traditionelle Chinesische Medizin [Schöne-Seifert et al. 2015]. Patienten nutzen speziell ausgebildete Ärzte dieser Therapierichtungen, Lehrstühle werden gegründet und Studiengänge werden etabliert. Einige Autoren sprechen gar von einem „CAM-Wahn“ [Coulter und Willis 2004]. Allerdings gibt es „die“ Komplementär- und Alternativmedizin nicht. Der Begriff umfasst hunderte von einzelnen Verfahren, die bisher überwiegend nicht von der Schulmedizin benutzt wurden, aber zunehmend in den Versorgungsalltag eingehen – idealerweise sofern ein Nutzen vorhanden ist. Hier liegt denn auch aus wissenschaftlicher Sicht die große Herausforderung: Positive Erwartungen an eine nutzbringende Therapie und wirklich nachgewiesener Nutzen müssen getrennt betrachtet werden! Zudem ist Komplementär- und Alternativmedizin nicht per se als Klasse zu bewerten, sondern muss eben in Abhängigkeit vom jeweiligen Verfahren, wie z.B. 4 der Akupunktur, von den zu versorgenden Patienten und deren Erkrankungen beurteilt werden. Ein optimistisch stimmender Trend ist die Öffnung und komplementäre Ergänzung der bestehenden schulmedizinischen Versorgung und ggf. eine Integration nutzbringender Verfahren in den Versorgungsalltag: P rof. Benno Brinkhaus und Prof. Stefan Willich erläutern in ihrem Beitrag den Bezugsrahmen, geben einen Überblick über die Definitionen und beleuchten aktuelle Forschungsentwicklungen auf dem Gebiet der Integrativen Medizin (dem Zusammenwirken von konventionellen und komplementärmedizinischen Verfahren). D en Bezug zur Praxis öffnet Prof. Albrecht Hempel und schildert die Potentiale einer Umsetzung im Therapiealltag am Beispiel von Ernährung und Lebensstil sowie Schwingungen und Energiefluss und ermöglicht hiermit neue Sichtweisen auf die Behandlung von Patienten. G erade die Öffnung der Schulmedizin neueren Verfahren gegenüber ist ein interessanter Aspekt, der auch unkonventionellen Methoden angrenzender Wissenschaftsdisziplinen offenstehen sollte. Frau Sybille Vogel, Entwicklerin der Methode Lingua Modulata, zeigt hier die Potenziale einer neuen Behandlungsform bei dysfunktionaler Belastung der Kommunikationsfähigkeit auf. D er Autor selbst untersucht zudem die Kostenperspektive der CAM-Verfahren und beobachtet vor dem Hintergrund angespannter Finanzen positive Entwicklungspotentiale hinsichtlich einer sich ändernden therapeutischen Haltung am Beispiel der CAM-Ärzte. Referenzen Coulter, I.D. und Willis, E.M. (2004): The rise and rise of complementary and alternative medicine: a sociological perspective. In: Medical Journal of Australia. 180, S. 587-589. Schöne-Seifert, B.; Reichardt, J.-O.; Friedrich, D. R. u. a. (2015): The concept of complementary and alternative medicine from the perspective of the philosophy of science and bioethics. In: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen. 109 (3), S. 236-244. 5 ZUKUNFT Integrative Medizin – Entwurf für die Medizin der Zukunft von Prof. Dr. Benno Brinkhaus, Prof. Dr. Stefan N. Willich, MPH MBA _Gesellschaftliche Veränderungen bedingen Veränderung in der Medizin Die Gesellschaften der meisten Länder sind mit verschiedensten Herausforderungen wie sozialer Ungleichheit, Armut, Umweltschäden, klimatischen Veränderungen und undemokratischen politischen Systemen bzw. Einflüssen konfrontiert. Auch die konventionelle Medizin steht – trotz oder gerade wegen ihrer Erfolge wie beispielsweise der steigenden Lebenserwartung – vor großen Prof. Dr. Benno Brinkhaus ist seit 2010 Universitätsprofessor für Naturheilkunde an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Herausforderungen, die bewältigt werden müssen. In den Industrieländern erkrankt eine älter werdende Bevölkerung zunehmend häufig an chronischen und funktionellen Erkrankungen, welche die Lebensqualität nachhaltig negativ beeinflussen und für die es keine zufriedenstellenden therapeutischen Methoden gibt. Problematisch ist beispielsweise auch die zunehmende Antibiotikaresistenz, die es immer schwerer macht, eine adäquate Therapie bei infektiösen Erkrankungen zu finden. Herausforderungen in ärmeren Ländern sind dem gegenüber die hohe Kindheitssterblichkeit und ein mangelnder Zugang zu Gesundheitsleistungen. In nahezu allen Ländern finden sich darüber hinaus Probleme bei der Finanzierung der zunehmenden Kosten des Gesundheitssystems. Vor diesem Hintergrund wenden sich immer mehr Menschen komplementärmedizinischen und traditionellen Medizinverfahren (in Deutschland mehr als 60 % der Bevölkerung) [Härtel und Volger 2004; Sartori et al. 2012] zu, die häufig nur unzureichend wissenschaftlich untersucht sind. Positive Ergebnisse aus der Forschung im Bereich Komplementärmedizin zeigen jedoch, dass sich traditionelle Medizinverfahren, wie z. B. die Akupunktur, sinnvoll mit konventioneller Medizin im Sinne einer Integrativen Medizin kombinieren lassen. _Komplementärmedizin und Traditionelle Medizinverfahren – häufig eingesetzt Prof. Dr. Stefan Willich ist Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Der Begriff Komplementärmedizin beschreibt diagnostische und therapeutische Verfahren aus dem Bereich der Traditionellen Medizin, wie z.B. Pflanzenheilkunde, Akupunktur, Neuraltherapie und Osteopathie. Diese Verfahren stehen z.T. außerhalb der konventionellen Medizin. Es gibt allerdings Hinweise auf eine Wirksamkeit, sodass sie ergänzend zur Schulmedizin eingesetzt werden können. Von der Laienpresse wird häufig der Begriff „Alternative Medizin“ verwendet. Dieser Begriff wird aber von seriösen Ärzten abgelehnt, da diese Verfahren keine therapeutische Alternative zur konventionellen Medizin sind. 6 Defizit sollte in den nächsten Jahren durch wissenschafts-informierte Websiten und Foren behoben werden [Nissen et al. 2012]. _Integrative Medizin – Medizin der Zukunft In den letzten Jahren wird verstärkt der Begriff ‚Integrative Medizin’ verwendet. Das US Academic Consortium for Integrative Medicine & Health definiert den Begriff ‚Integrative Medicine’ wie folgt: “Integrative medicine and health reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by Die Naturheilkunde, die ihren Ursprung in der antiken griechischen Me- evidence, and makes use of all appropriate therapeutic and lifestyle dizin hat und auch als traditionelle mitteleuropäische Medizin bezeichnet approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal wird, beinhaltet die sogenannten fünf klassischen Naturheilverfahren: health and healing” [Academic Consortium for Integrative Medicine & Bewegungstherapie, Ernährungstherapie, Hydrotherapie (Therapie mit Health 2016]. Ins Deutsche übersetzt lautet die Definition folgenderma- Wasseranwendungen), Phytotherapie (Therapie mit Heilpflanzen) und ßen: „Integrative Gesundheitsversorgung ist die Praxis der Gesundheits- Ordnungstherapie (Vorschläge zum gesunden und naturverbundenen versorgung, welche die Bedeutung der Beziehung zwischen Patient und Lebensstil). Therapeut unter Berücksichtigung individueller und gesellschaftlicher Die Naturheilverfahren werden insbesondere in Deutschland aber auch Bedürfnisse betont, dabei die ganze Person und die Gesamtgesellschaft in weiteren Ländern Europas, wie z. B. in Österreich, in der Schweiz und berücksichtigt, sich auf Evidenz stützt und alle angemessenen Möglich- in Italien traditionell eingesetzt [Härtel und Volger 2004]. keiten für Therapie und Lebensweise, Gesundheitsberufe und -disziplinen nutzt, um optimale Bedingungen für Gesundheit und Heilung zu Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl von weiteren traditionellen erreichen“ (nach einem Vortrag von Prof. Dr. E. G. Hahn). Medizinverfahren in Europa, wie z. B. die Neuraltherapie, die Homöopathie und die Anthroposophische Medizin. Außerhalb Europas finden sich Nach dieser Definition ist das Schlüsselelement der Integrativen Medizin außerdem bspw. die Chinesische Medizin, die Ayurvedische Medizin und eine partnerschaftliche Arzt-Patienten-Beziehung mit einem empathi- die Tibetische Medizin. schen, gut ausgebildeten und erfahrenen Therapeuten. Der Therapeut behandelt nicht nur ein Symptom oder eine Beschwerde, sondern betrachtet In dem von der Europäischen Union geförderten CAMbrella Projekt den Patienten in seiner ganzen Persönlichkeit unter Einbeziehung seiner [Informationen abrufbar unter http://cambrella.eu/home.php] konnte biologischen, psychischen, sozialen und spirituellen Aspekte. Neben der gezeigt werden, dass mehr als 320.000 Therapeuten in Europa Komple- adäquaten Therapie von Erkrankungen, die sich sowohl nach wissen- mentärmedizin einsetzten. Darunter sind zu ca. 60 % nicht-ärztliche The- schaftlichen Ergebnissen hinsichtlich der Wirksamkeit, Therapiesicherheit rapeuten und die am häufigsten eingesetzten Verfahren sind Phytothera- und Kosten-Nutzen-Bewertung als auch nach den gemeinsamen Thera- pie, Homöopathie, Akupunktur, Chirotherapie und Reflexiologie [Eardley piezielen richtet, steht der aktive und selbstverantwortliche Patient im Vor- et al. 2012; von Ammon et al. 2012]. Die meisten dieser Verfahren sind dergrund, der seine gesundheitsaktivierenden (Resilienz-) Faktoren stärkt. nicht oder nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht. Um auf dieses Soweit möglich, sollten als primäre Therapiekomponenten Veränderungen Defizit hinzuweisen, werden im CAMbrella Projekt Forschungsstrategien der Ernährung, Bewegung, natürliche Therapieverfahren und Stressreduk- entwickelt und gleichzeitig Vorschläge zur Evaluation gemacht [Fischer tion im Vordergrund stehen, insbesondere bei chronisch kranken Patienten. et al. 2014a; Fischer et al. 2014b]. Problematisch erschien es darüber hinaus, dass die Patienten zu wenig valide Informationen über kom- Neben der Auswahl der adäquaten, möglichst die Lebenskräfte des plementärmedizinische Verfahren aus den Medien bekommen, dieses Patienten schonenden Therapie, steht die frühzeitige Prävention vor 7 Erkrankungen mit Lebensstil verändernden Maßnahmen und sinnvollen Screening Methoden im Mittelpunkt der Integrativen Medizin. Aber nicht nur die Prävention von Krankheiten im individuellen Setting aus Sicht der Mikroebene ist von Bedeutung. Da bekannt ist, dass beispielsweise Referenzen soziale Benachteiligung, Umweltbelastungen oder Einschränkungen der demokratischen Grundrechte zu Krankheiten führen können, sollten sich Ärzte und Vertreter anderer Gesundheitsberufe auch für eine gesunde Umwelt aus der Sicht der Makroperspektive einsetzen. _Weltkongress setzt ein Zeichen Für viele konventionelle Ärzte ist deutlich, dass sich die Medizin der Zukunft verändern muss, um wirksamer und nachhaltiger zu werden und finanzierbar zu bleiben. Therapieverfahren aus dem Bereich der Komplementären und Traditionellen Medizin müssen hinsichtlich Ihrer Wirksamkeit, Therapiesicherheit und Kosten-Nutzen-Bewertung untersucht und im positiven Fall in die Medizin der Zukunft integriert werden. Auf dem Weltkongress für Integrative Medizin und Gesundheit in Berlin Academic Consortium for Integrative Medicine & Health“. Imconsortium.org. Abrufbar unter http://www.imconsortium.org. (Stand 05.10.16). CAMbrella - Communication Platform on topics related to Complementary and Alternative Medicine (CAM) in Europe“. Cambrella.eu. Abrufbar unter http://cambrella.eu/home.php. (Stand 05.10.16). Eardley, S.; Bishop, F. L.; Cardini, F. u. a. (2012): A Pilot Feasibility Study of a Questionnaire to Determine European Union-Wide CAM Use. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 19 (6), S. 302-310. Fischer, F. H.; Lewith, G.; Witt, C. M. u. a. (2014a): High prevalence but limited evidence in complementary and alternative medicine: guidelines for future research. In: BMC Complementary and Alternative Medicine. 14 (1). Fischer, F.; Lewith, G.; Witt, C. M. u. a. (2014b): A Research Roadmap for Complementary and Alternative Medicine - What We Need to Know by 2020. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 21 (2), S. 6-6. im Mai 2017 wird anhand von Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen und klinischer Erfahrungen über geeignete Therapie- und Präventionsmethoden vor einem Fachpublikum diskutiert. 1 Sowohl Vertreter der konventionellen Medizin, Medizinstudenten als auch Vertreter Härtel, U. und Volger, E. (2004): Inanspruchnahme und Akzeptanz klassischer Naturheilverfahren und alternativer Heilmethoden in Deutschland – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 11 (6), S. 327-334. der Komplementären und Integrativen Medizin einschließlich der traditionellen Medizinsysteme werden diesen Kongress zu einem wichtigen Forum für die Medizin der Zukunft machen. Nissen, N.; Schunder-Tatzber, S.; Weidenhammer, W. u. a. (2012): What Attitudes and Needs Do Citizens in Europe Have in Relation to Complementary and Alternative Medicine?. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 19 (s2), S. 9-17. Sartori, C.; Osterkamp, N.; Uebing, C. und Linde, K. (2014): Homöopathie in der gesetzlichen Krankenversicherung: Modelle, Erfahrungen und Bewertungen. In: gesundheitsmonitor 3/2014, S. 1-12. von Ammon, K.; Frei-Erb, M.; Cardini, F. u. a. (2012): Complementary and Alternative Medicine Provision in Europe First Results Approaching Reality in an Unclear Field of Practices. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 19 (s2), S. 37-43. 1 Informationen zum Weltkongress für Integrative Medizin und Gesundheit in Berlin 2017 sind unter https://www.ecim-iccmr.org/2017/ abrufbar. 8 PRAXIS 1 „Integrative Medizin für die Praxis“ von Prof. Dr. Albrecht Hempel _Die bisherige Entwicklung Die „Integrative Medizin“ nutzt beide, konventionelle und alternative Heilmethoden gemeinsam, mit dem Ziel, die Ergebnisse von Behandlungen zu verbessern und sich wechselseitig und voneinander unabhängig überprüfen zu können. Bereits 1986 bereitete die WHO, die die Begriffe von „Krankheit“ und „Gesundheit“ durch „Lebensqualität“ ersetzte und als körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden mit der Fähigkeit zur Selbstversorgung bis ins hohe Lebensalter des Individuums [Weltgesundheitsorganisation 1986] definierte, dies gedanklich mit vor. Diese Entwicklung ist ebenso in Deutschland zu erkennen: Bis zu 70 % der Bevölkerung nutzen auch ganzheitliche und als „sanft“ erlebte medizinische Vorgehensweisen, die von 63 % der niedergelassenen Ärzte mit angeboten werden [Thanner et al. 2014]. Bei einem guten Stan- Prof. Dr. Albrecht Hempel ist Leiter des Studiengangs Integrative medizinische Wissenschaften an der Steinbeis-Hochschule Berlin. dard des konventionellen Gesundheitswesens ist trotzdem ein Unbehagen zu beobachten, da sich Patienten, trotz wissenschaftlich leitliniengerechter Behandlung, zu wenig als Individuum wahrgenommen fühlen [Thanner et al. 2014]. Das Gefälle vom „wissenden Arzt“ zum „order-empfangenden“ Patienten behindert die aktive Einbeziehung des Patienten, da er die Ursachen seiner Probleme nicht erfährt und sich an deren Lösung somit nicht beteiligen kann. Die Schweiz hat als erstes europäisches Land die „Alternativmedizin“ im Rahmen einer Volksabstimmung 2009 (67 % Zustimmung) sowohl in die Verfassung, als auch in die allgemeine medizinische Versorgung aufgenommen [Neue Zürcher Zeitung 2009]. Gleichzeitig wurden die Ausbildungsinhalte zur „Alternativmedizin“ in die Verantwortung des Staates gestellt und die Fachrichtungen Ayurveda, Homöopathie, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und Traditionelle Europäische Naturheilkunde (TEN) darin integriert. Außereuropäisch sind es vor allem die USA, die in der „Complementary and Alternative Medicine“ (AM) - eine Zusammenfassung komplementärer und alternativmedizinischer Methoden [Jonas et al. 2013] – in Praxis und Akzeptanz im Weltmaßstab eine Vorreiterrolle übernommen haben. Mehrere USA-Universitäten verfügen über Lehrstühle für „Complementary and Alternative Medicine“, die erfolgreich staatliche wie auch Forschungsgelder aus der Industrie einwerben und produktiv weltweit die Ergebnisse publizieren [Thanner et al. 2014; Jonas et al. 2013]. Gemeinsame Ziele der „Integrativen Medizin“ in den USA und Europa sind [Thanner et al. 2014; Jonas et al.]: D ie Behandlung jeder Person in ihrer Gesamtheit A usrichtung auf Prävention als Primärziel J ede Behandlung ist vom Grundsatz her individuell B ehandlungen richten sich auf die Ursachen und unterstützen den natürlichen Heilungsprozess 9 _Beispiele aus der Praxis _ 2 Leben, Schwingung und Energiefluss – das „Wunder“ der Regulation _ 1 Ernährung und Lebensstil Die „Integrative Medizin“ betrachtet, wie gut Biologisch gesehen sind wir als „Jäger und Sammler“ konzipiert, der sich täglich 10-20 km an unsere Lebensvorgänge aufeinander abge- frischer Luft auf Nahrungssuche begab und nur ausnahmsweise einmal Wildbret erlegte. Heute stimmt sind. Dabei spielen sich in jeder Zelle sitzen wir meist regungsarm vor Computern und verleiben uns Kalorien anstelle von Vitalstoffen pro Sekunde 1017 physikalische Einzelvorgänge ein. „Volkskrankheiten“, wie z. B. Diabetes und Bluthochdruck, sind damit ein Produkt aus Fehl- ab [Popp et al. 1994] – dies sind in etwa so viele ernährung und Bewegungsmangel. Dr. Galina Schatalova, Ärztin, Wissenschaftlerin und Vorgänge, wie das Alter der Erde in Sekunden. früher medizinische Leiterin der Auswahlkommission für sowjetische Kosmonauten, for- Diese unvorstellbar große Zahl erscheint von mulierte es in ihrem Buch drastisch: „Wir fressen uns zu Tode“ [Schatalova 2002]. keinem Nervensystem allein „beherrschbar“. Die „Neue Medizin der Emotionen“ [Popp et In einem großen und sehr umfangreichen wissenschaftlichen Buch „Die China-Study“ [Camp- al. 1994] misst unseren Gefühlen eine zen- bell und Campbell 2006] wurde unter Einbeziehung von über 750 wissenschaftlichen Arbei- trale, vermutlich sogar übergeordnete Bedeu- ten belegt, dass eine Umstellung auf eine vegane Ernährung das Auftreten von Krebs- wie tung zu und geht dabei von unterschiedlichen Abb. 1: Verlaufsdarstellung der Herzmeridianmessung (Elektroakupunktur) einer 60-jährigen Frau mit „unerklärlichen“ Blutdruck-Attacken: Bei Schilderung eines aktuellen Familienkonfliktes entwickelten sich innerhalb von 5 min die Messpunkte des Herzmeridians entgegengesetzt: Bildlich „zerriss es ihr das Herz“. Gleichzeitig entgleiste der Blutdruck akut (auf 205/110mmHg, Puls 95/min). auch Herz-/Kreislauferkrankungen um jeweils mehr als 50 % verringerte. Es gibt also so- „Schwingungsmustern“ aus, die mithilfe von wohl aus integrativmedizinischer als auch aus gesamtmedizinischer Sicht Handlungsbedarf. Nervengeflechten unseres Körpers wahrgenommen und differenziert werden [Bauer 2005]. A. Ein Patient, der sich zu einer „integrativmedizinischen“ Diagnostik und Beratung begibt, wird sicher Popp wies parallel dazu Photonenstrahlungen auch nach seinen Ernährungsgewohnheiten befragt und beraten werden. In eigener Praxis werden auf Zellebene nach, bei der gesunde Zellen 2x/Jahr „BiGuFuQi“-Kurse angeboten. Frei übersetzt heißt dies: „Ohne Nahrung in voller Kraft eine zwar schwache, aber eindeutige und sehr sein“. Durch ganz spezielle QiGong-Übungen werden Schadstoffe mobilisiert und vermehrt über wahrscheinlich biologisch nutzbare Strahlung Leber und Nieren ausgeschieden. Sie verursachen eine Appetitarmut und erleichtern es, die Nah- aussenden, mit der sie – so die Annahme – mit rungsaufnahme einzustellen, bei gleichzeitig ausreichender Flüssigkeitszufuhr. Durch den Verzicht Nachbarzellen „kommunizieren“ können und auf Nahrung muss diese nicht mehr verarbeitet werden. Bei Fortsetzung der Körperübungen wer- mit der länger bekannten „Mitosestrahlung“ den nun noch mehr Schadstoffe ausgeschieden. Subjektiv berichten Teilnehmer von „angenehmer (eine Phase bei der Zellteilung) [Popp et al. Leichtigkeit“ o. ä. Gleichzeitig sinkt der Schlafbedarf auffällig und es entsteht mehr Freizeit, da 2002] vergleichbar sind. Gefühle rufen außer- Kochen und Einkäufe entfallen. Die Haut der Teilnehmer und Teilnehmerinnen strafft sich sichtbar, dem messbare Veränderungen hervor [Bauer Gelenk- u. a. Schmerzen bilden sich nahezu regelhaft zurück und treten interessanterweise oft 2005], die zusätzlich, z.B. mittels Elektroaku- dann wieder auf, wenn bestimmte Nahrungsmittel – oft ist es Fleisch – erneut konsumiert werden. punktur oder auch Herzratenvariabilität erfasst 10 Gesundes Kinzigtal ist die langfristige Zusammenarbeit eines Praxisnetzes (MQNK e.V.) mit einem gesundheitswissenschaftlich ausgerichteten Unternehmen (OptiMedis AG). Der Schwerpunkt liegt auf einer werden und ihrerseits wiederum therapeutische Interventi- Entwicklung regionaler multipro- onen unterstützen können. Die Schilderung eines Familienkonfliktes durch die Pati- fessioneller Gesundheitsnetzwerke entin (Abb. 1) führte innerhalb von 5 Minuten zu einem im Rahmen einer Integrierten Versorgung Auseinanderdriften der Messwerte von linkem und rechtem mit dem Ziel, durch eine Verbesserung der Herzmeridian (He). Im Bilde gesprochen „zerriss es der Patientin Strukturen und Abläufe im Gesundheitswesen und damit das Herz“, während gleichzeitig ihr Blutdruck entgleiste (205/110mmHg, Puls 95/min). Das Erkennen dieses Zusammenhangs ermöglichte es der auch der Qualität und Effizienz der Versorgung einen zusätz- Patientin, Blutdruckentgleisungen im Verlaufe immer besser zu vermei- lichen, messbaren Gesundheitsnutzen zu schaffen. den. Ausgeglichene Messwerte sind gleichbedeutend mit einem guten Befinden. Dauerhaft unausgeglichene Messwerte würden zu Krankheiten mit Organveränderungen führen, sobald die Möglichkeiten der (Gegen-) Regulation erschöpft sind. Eine große Bedeutung erlangte der amerikanische Medizinprofessor Jon Referenzen Bauer, J. (2005): Warum ich fühle, was Du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe. Kabat-Zinn, der mithilfe zahlloser Untersuchungen seit den 80er Jahren die Bedeutung von Stress bzw. dessen Vermeidung durch achtsamen Umgang mit sich und anderen nachwies [Kabat-Zinn 1982]. Die valide Beurteilung einer Regulationsfähigkeit wiederum könnte z. B. auch bei der Entscheidung helfen, ob eine Chemotherapie momentan sinnvoll ist oder nicht. Der Nachweis eines starken Energiemangels, darstellbar bspw. mittels Elektroakupunktur, könnte eine Chemotherapie wegen absehbarer starker Nebenwirkungen vermeiden, andererseits aber auch helfen, einen späteren Zeitpunkt mit besserer Verträglichkeit herauszufinden. _ 3 Ausblick Die immer neuen Einsichten in die Komplexität regulatorischer Vorgänge in uns lassen vermuten, dass sich die Möglichkeiten einer rein biochemischen Einflussnahme auf unsere Lebensvorgänge erschöpfen. Antibiotikaresistenzen nehmen bedrohlich zu, ebenso die Häufigkeit umwelt-mitbedingter Erkrankungen wie Allergien und Unverträglichkeiten, aber auch Umweltbelastungen durch Lärm, Licht und die zahlreichen elektromagnetischen Felder. Die nächste medizinische Revolution wird sich, so die Vermutung, auf dem Gebiet der Regulations- und Informa- Campbell, T.C. und Campbell, T.M. (2006): The China Study: The Most Comprehensive Study of Nutrion Ever Conducted and the Startling Implications for Diet, Weigth Loss and Long-term Health. Benbella Books. Gesundes Kinzigtal GmbH (Hrsg.): Die Geschichte von Gesundes Kinzigtal. Abrufbar unter http://www.gesundes-kinzigtal.de/geschichte/. Jonas, W. B.; Eisenberg, D.; Hufford, D. u. a. (2013): The Evolution of Complementary and Alternative Medicine (CAM) in the USA over the Last 20 Years. In: Forschende Komplementärmedizin / Research in Complementary Medicine. 20 (1), S. 65-72. Kabat-Zinn, J. (1982): An outpatient program in behavioral medicine for chronic pain patients based on the practice of mindfulness meditation: Theoretical considerations and preliminary results. In: General Hospital Psychiatry. 4 (1), S 33-47. Neue Zürcher Zeitung (Hrsg.) (2009): Zustimmung von 67 Prozent in der Volksabstimmung zu Verfassungsartikel: Deutliche Zustimmung zur Komplementärmedizin. Abrufbar unter http://www.nzz.ch/abstimmung-hochrechnung-biometrischer-pass-komplementaermedizin-1.2571713. [veröffentlicht am 17.05.2009]. Popp, F.A.; Chang, J.J.; Herzog, A. u.a. (2002): Evidence of non-classical (squeezed) light in biological systems. In: Physics Letters A. Bd. 293. S. 98-102. Popp, F.A.; Gu, Q.; Li, K.H. (1994): Biophoton emission: Experimental Backround and theoretical approaches.. In: Modern Physics Letters B. 08 (21n22), S. 1269-1296. Schatalova, G. (2002): Wir fressen uns zu Tode – Das revolutionäre Konzept einer russischen Ärztin für ein langes Leben bei optimaler Gesundheit. München: Goldmann Verlag. tionsmedizin abspielen. Die Hinwendung der eingangs erwähnten WHO-Definition zur „Lebensqualität“ kann helfen, uns auf das Wesentliche, die Unterstützung und Stärkung der Selbstverantwortung auszurichten, subjektives Erleben aller wertzuschätzen und funktionierende Modelle einer wertschätzenden Medizin, z. B. am Beispiel des „Gesunden Kinzigtals“ [Gesundes Kinzigtal] zu unterstützen. Thanner, M.; Nagel, E. und Loss, J. (2014): Komplementäre und alternative Heilverfahren im vertragsärztlichen Bereich: Ausmaß, Struktur und Gründe des ärztlichen Angebots. In: Das Gesundheitswesen. 76 (11), S. 715-721. Abrufbar unter http://www.uni-regensburg.de/ medizin/epidemiologie-praeventivmedizin/medien/institut/professur-fuer-medizinische-soziologie/prof-dr-med-julika-loss/alternative_heilverfahren_angebot_gesundheitswesen.pdf. Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.) (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Abrufbar unter http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf. 11 PRAXIS 2 Hörwahrnehmungsstörung und Stimmfrequenzanalyse – Eine Messmethode und eine Behandlungsform bei dysfunktionaler Belastung der Kommunikationsfähigkeit von Sibylle Vogel Ein Praxisbeispiel, das zeigt, wie die Integration von innovativen alternativen Verfahren in Diagnostik und Behandlung einen validen Nutzen für alle Beteiligten bringen kann: Die Stimmfrequenzanalyse in der hier dargestellten Form ist ein Verfahren, das aus der Zusammenführung von Erkenntnissen aus der HNO-Medizin, der Linguistik, der Neurolinguistik und der Hirn- und Lernforschung entwickelt wurde. 1 Ziel der Stimmfrequenzanalyse ist die Beurteilung der Qualität der Sprachverarbeitung im Gehirn. Sprache ist eine Abfolge von, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten angeordneten, Lautmustern. Der Mensch ist das einzige Wesen, dem die Fähigkeit gegeben ist, Sprache auszubilden, sie zur Sibylle Vogel ist ausgebildete Audio-Psycho-Phonologin und Entwicklerin der Methode Lingua Modulata Kommunikation zu verwenden und in ihr zu denken. Welche und wie wir Frequenzen wahrnehmen und verarbeiten, ist ein erlerntes, erworbenes Muster, das sich durch neuen Dateninput erweitern und manchmal auch dysfunktional verzerren kann. Die Sprachverarbeitung im Gehirn ist ein physikalisches Phänomen - das Gehirn muss Schallwellen verarbeiten können. Als „Schnittstelle“ für die Decodierung sprachlicher Informationen nutzt der Mensch sein Gehör. Mit seiner überaus feingliedrigen Struktur kann das Gehör auch die allerkleinsten Unterschiede von auftreffenden Schalldruckwellen erkennen und in neuronale Impulse umsetzen [Spitzer 2002]. Die Art, wie ein Mensch Sprache integriert hat, bestimmt auch die Art, wie er denkt. Beides steht und fällt mit der Qualität der Wahrnehmung und Verarbeitung der Frequenzmuster, aus denen die Sprache besteht. Hier können sich Unschärfen und Störungen einschleichen. Traumata können das System der Sprachverarbeitung auch schlagartig dramatisch verzerren. Die Hörwahrnehmung ist der wichtigste Kanal, über den der Mensch Informationen aus seiner Umwelt erhält und deren neuronale Verarbeitung ihn überhaupt erst zur sozialen Interaktion befähigt. Durch das Hören von gesprochener Sprache baut er sich im Laufe der Zeit „sein“ Sprach-, Denk- und Handlungssystem auf. _ Sprachpakete erkennen - Phoneme diskriminieren Jede Sprache wird aus einer feststehenden Anzahl von Frequenzpäckchen zusammengebaut. Diese sind - ähnlich wie Akkorde auf dem Klavier - durch die Abstände der enthaltenen Frequenzen gekennzeichnet. Die Grundlage der Methode bilden die wissenschaftlichen Erkenntnisse: Vgl. Tomatis, dargelegt in seinen zahlreichen Büchern und Veröffentlichungen, vor allem in dem Grundlagenwerk: Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - die Anfänge der seelischen Entwicklung (1990), Chomsky et al (1977), Hüther et al. (2016) und Spitzer et al. (2007). 1 12 Defizite in der Frequenzverteilung in % 35% 28% - gelegentliche Ohrgeräusche leichter Stress Müdigkeit leichte Konzetrationsschwierigkeiten 20% - 12% - keine 0% normal erhöht Tinnitus Erschöpfung Überlastung Konzentrationsschwäche Lese-RechtschreibSchwäche hoch - - Autismus - Mutismus - bipolare Störung unerträglicher Tinnitus Burnout ADHS Legathenie Asperger Syndrom sehr hoch extrem Aufwand bei der Informationsverarbeitung Abb.1: Defizitäre Hörwahrnehmung und die Folgen Es gibt ungefähr 7000 verschiedene Sprachen [Haspelmath] auf der Welt, diese sind zusam- wahrnehmen könnten und deshalb die Wort- mengerechnet aus etwa 100 bedeutungsunterscheidenden Grundbausteinen zusammengesetzt bedeutungen verwechseln würden: [Böttger 2016]. „In meinem Urlaubs-Land geh ich an den In der Sprachwissenschaft werden diese Lautmuster als Phoneme bezeichnet. Theoretisch be- Strand und leg mich in den Sand“ – klar, das trachtet hat der Mensch die Anlagen (das Gehör mit allen seinen angegliederten Stationen – macht jeder so im Urlaub. Außenohr, Innenohr, Luftleitung, Knochenleitung, Hörschnecke, Vestibularapparat, myelenisierte „In meinem Urlaubs-Band geh ich an den Faserbündel , tonotope Karte, Hirnareale wie Broca- und Wernickezentrum) [Wolf 2012; Hellbrück Sand und leg mich in die Wand“ – wie bitte, und Ellermeier 2004], jede beliebige dieser Sprachen zu lernen. Praktisch speichert er aber nur hast du einen Sonnenstich? die Lautmuster ab, die ihm von seiner Umwelt - vor allem und bereits vorgeburtlich - von seiner Mutter geliefert werden. Ein deutscher Muttersprachler „speichert“ nur etwa die 40 Lautmuster, Wenn Phoneme, also „Päckchen“ von Fre- aus denen die deutsche Sprache besteht. Für den Rest ist er „taub“. Die Speicherung anderer quenzen mit Grund- und Obertönen, nicht Lautmuster macht für einen deutschen Sprecher keinen Sinn, da er mit diesen keine Wörter bilden klar decodiert und voneinander unterschieden kann. werden können, hat dies Folgen im gesamten Bereich der Informationsverarbeitung, also im Phoneme klar erkennen und einordnen zu können, ist die Grundvoraussetzung für die Aneignung Denken, Lernen und Zuhören oder allgemein und Verwendung der Sprache und zum Denken – eine korrekte Hörwahrnehmung bildet die Basis. der Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Wenn das Dekodieren der Phoneme nicht reibungslos Papa - Pipi - Popo - sind Wörter, die fast gleich klingen. Der kleine Unterschied von -a-, -i-, funktioniert, muss das Gehirn Mehraufwand -o- bewirkt, dass wir die unterschiedlichen Wortbedeutungen erkennen. leisten, um die Bedeutung einer Information Band - Land - Sand - Wand - Stand - Strand klingen auch fast gleich. In einem Gespräch würde zu verstehen. In Folge verkürzt sich die Auf- es aber große Verwirrung schaffen, wenn wir die feinen Unterschiede am Wortanfang nicht merksamkeitsspanne, Konzentrationsschwä- 13 Die Methode Lingua Modulata Lingua Modulata ist ein Klangtraining, das erfolgreich bei Tinnitus, Burn-Out, ADHS und in der Logopädie eingesetzt wird. Diesen unterche, Überempfindlichkeit, Erschöpfung und Nervosität sind die Folge. schiedlichen Krankheitsbildern ist eines gemeinsam: Der Auslöser ist Die Symptome sind das Resultat einer Verzerrung der Hörwahrnehmung eine gestörte Hörwahrnehmung. und der daraus resultierenden Unordnung auf der tonotopen Karte. Bei Lingua Modulata wird zunächst eine sehr differenzierte Analyse erstellt – was genau wird von der Testperson wahrgenommen und was nicht? _ Messung der Qualität der Hörwahrnehmung/Sprachverarbeitung Die direkte Beobachtung neuronaler Prozesse bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von sprachlicher Information ist nur mit aufwändigen bildgebenden Verfahren möglich. In den 1960iger Jahren wurde jedoch eine Gesetzmäßigkeit entdeckt, die eine einfache, elegante - sozusagen indirekte - Möglichkeit zur Beobachtung eröffnet: In der Sprechstimme Als Muttersprachler können wir Hase und Hass und Hose und Rose selbstverständlich als verschiedene Wörter erkennen und sinngemäß darauf reagieren, obwohl die lautlichen Unterschiede extrem klein sind. Zu heftigen Verwerfungen (siehe oben: Schulprobleme, Probleme am Arbeitsplatz) kann es jedoch führen, wenn aufgrund einer fehlerhaften Hörwahrnehmung beispielsweise Schwierigkeiten in der Differenzierung von –s und –ss bestehen, wenn der Hase nicht vom Hass unterschied- eines Menschen tauchen nur die Frequenzen auf, die er korrekt wahr- lich gehört wird. nehmen, differenzieren und verarbeiten kann. Die Frequenzverteilung in In der Stimme eines Menschen sind nur die Frequenzen vorhanden, der Stimme bildet exakt die Hörwahrnehmung ab [Tomatis 1957]. die er wahrnehmen kann. Die Stimme spiegelt seine Hörwahrnehmung. Anhand einer Stimmfrequenzanalyse lässt sich die Genauigkeit bestim- Mit einer Stimmfrequenzanalyse kann also dargestellt werden, was men, mit der eine Person Phoneme diskriminieren kann. Dabei wird die eine Person wahrnehmen kann – und was ihr fehlt. Intensität der Frequenzen in der Stimme eines Sprechers gemessen und Lingua Modulata bietet aufgrund der Stimmfrequenzanalyse dann ein die Abweichungen von der Idealkurve seiner Muttersprache berechnet. Je höher die Abweichung, desto höher die Gefahr, dass ein Mensch Symptome wie beispielsweise Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit, depressive Tendenzen oder Burnout entwickelt. Je höher die Klangtraining an, bei dem die erkannten defizitären Bereiche gestärkt und die überschießenden Bereiche (Tinnitus) abgeschwächt werden. Für das Training erhält man spezielle Kopfhörer, die vor dem Ohr auf den Schädelknochen angebracht werden. Der Schall wird nicht über die Abweichung, desto geringer ist die Chance auf Erfolg in Schule, Studium Luftleitung übertragen. Dies hat den Vorteil, dass alles, was gesendet und Beruf. wird, auch wirklich im Gehirn ankommt. Der Weg über die willkürliche muskuläre Steuerung der Hörwahrnehmung über die Trommelfelle wird _ Therapie – Mit modulierter Musik die Hörwahrnehmung trainieren und Stress-Symptome beseitigen umgangen – nur so ist ein Retraining einer gestörten Hörwahrnehmung Welche und wie wir Frequenzen wahrnehmen und verarbeiten, ist ein – damals noch nicht online verfügbar und technisch etwas anders auf- erlerntes, erworbenes Muster, das sich auch verändern kann. Musik und gestellt – seit den 1960iger Jahren [Sacarin 2013; Flehming; Musica Sprache werden dabei in denselben Arealen im Gehirn verarbeitet - Medica Studien (Überblick abrufbar unter http://linguamodulata.com/ daher eignet sich frequenzreiche Musik für ein Training. Das Gehirn Studien/Musica_Medica_Studien.pdf)]. ist plastisch und besitzt die Fähigkeit, sich in jedem Altersstadium zu Auf Basis der Stimmfrequenzanalyse wird eine Trägermusik moduliert, ändern. So kann ein gestörtes bzw. defizitäres Muster durch gezieltes die einen Ausgleich zu den fehlenden und zu überrepräsentierten Fre- Frequenztraining behandelt werden. Ziel des Trainings ist es, eine defi- quenzbereichen schafft. Nach einem Trainingsplan wird die Trägermusik zitäre Phonemdiskriminierung auszugleichen. Als Basis für die Therapie via Knochenleiterkopfhörer direkt auf die Schädelknochen übertragen. Auf dient die o.g. Stimmfrequenzanalyse, anhand derer defizitäre Muster diese Weise wird die „störanfällige“ Luftleitung, der Weg über die Ohrmu- sichtbar gemacht werden können. schel, die Trommelfelle und das Mittelohr, umgangen. Dem Gehörsystem Online ist unter http://www.linguamodulata.de/ aktuell ein Frequenztrai- wird so die Möglichkeit genommen, bestimmte Frequenzen auszufiltern, ning verfügbar, das individuell auf die Bedürfnisse der jeweiligen Person einfach auf Durchzug zu stellen. Über die Knochenleitung können die Fre- zugeschnitten wird und gezielt die defizitären Frequenzen bearbeitet, quenz-Löcher und Frequenz-Peaks ausgeglichen werden. die sich aus der Stimmfrequenzanalyse ergeben. Die Wirksamkeit dieser Dieses Frequenz- bzw. Klangtraining versteht alle Stresssymptome, das Klangtherapie ist wissenschaftlich gut dokumentiert. Es gibt sie bereits Burnout-Syndrom, Sprach-, Lern- und Verhaltensstörungen als Verzer- 14 möglich. 4069 bis 8192 Hz 2048 bis 4095 Hz GRAFIK 1024 bis 2047 Hz 512 bis 1023 Hz 256 bis 511 Hz 128 bis 255 Hz Abb.2: B eispiel 1 – Stimmfrequenzanalyse des Abiturienten Bernardo (2015) (oktavierte und normalisierte Darstellung) 64 bis 127 Hz 32 bis 63 Hz 16 bis 31 Hz rungen, Ungenauigkeiten oder Fehler in der Wahrnehmung und neuro- Seiten können nicht mehr fließend verarbeitet werden. Dies führt zu nalen Verarbeitung von Sprachfrequenzen. einem Datenverkehrsstau - es geht nichts mehr - bis hin zum völligen Zusammenbruch der Sprachdatenverarbeitung. _ Messung der Qualität der Hörwahrnehmung / Sprachverarbeitung Auch die AD(H)S-Symptomatik entsteht durch mangelnde Filterfunktion für Sprachfrequenzen. Die Betroffenen können auf kein klar strukturier- Konzentrationsstörungen können im Gefolge einer defizitären Hörwahr- tes neuronales Verarbeitungssystem für Sprachfrequenzen zurückgrei- nehmung auftreten. Wenn Phoneme nicht klar dekodiert bzw. erkannt fen, hampeln daher sowohl geistig als auch motorisch herum und haben werden, steigt der kognitive Aufwand beim Verarbeiten von Informationen. Probleme, sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. 4069 bis 8192 Hz 2048 bis 4095 Hz GRAFIK 1024 bis 2047 Hz 512 bis 1023 Hz 256 bis 511 Hz 128 bis 255 Hz Abb.3: B eispiel 2 – Stimmfrequenzanalyse von Cecile (2009) (oktavierte und normalisierte Darstellung) 64 bis 127 Hz 32 bis 63 Hz 16 bis 31 Hz Dieser Umstand macht sich nicht nur beim Hörverständnis bemerkbar. Legastheniker haben Probleme, Phoneme zu diskriminieren: Um ein Wort Auch das Erfassen schriftlicher Informationen wird erschwert. Da der korrekt zu schreiben, müssen die Phoneme, aus denen es besteht, klar Mensch auch beim Denken seine Sprache nutzt, ist auch klares Denken identifiziert werden können. Erst danach ist die korrekte Zuordnung der erschwert. jeweils zum Phonem passenden Schriftzeichen möglich. Menschen mit Burnout-Symptomen erleben eine schleichende Über- Tinnitus ist eine Alarmsirene, die losgeht, weil die geregelte Frequenz- lastung durch sprachliche Informationen, die Anforderungen von allen verarbeitung massiv gestört wurde, z. B. durch überlaute Musik oder – in 15 den meisten Fällen – durch Stau auf der Datenautobahn, der als Stress und Überlastung wahrgenommen wird. In diesen beispielhaft genannten Anwendungsgebieten hilft ein Klangtraining schnell und ohne großen Aufwand. Entspannungstechniken, Gesprächstherapien, verbessertes Zeitmanagement oder eine ausgeglichene Work-Life-Balance können hervorragende Begleiter sein, die eine Klangtherapie unterstützen und den Erfolg verstärken. Eine Gesprächstherapie allein oder auch in Kombination mit Psychopharmaka, die in den Neurotransmitterhaushalt eingreifen, kann das angelernte Muster der Phonemdiskrimination nicht verändern. Das Retraining der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster von Sprache – der Hörwahrnehmung – ist der Nukleus der Therapie. Die Stimmfrequenzanalyse kann (s.o.) mittlerweile online durchgeführt werden, die Trainingsmusik wird ad hoc moduliert und steht dem Anwender als Download zur Verfügung. Unter Verwendung der zuvor genannten Knochenleiterkopfhörer wird das Klangtraining nach einem vorgegebenen Zeitplan selbstständig durchgeführt und gliedert sich in drei Blöcke. Nach jedem Trainingsblock sollte eine erneute Stimmfrequenzanalyse durchgeführt werden, auf deren Basis die Trägermusik auf den jeweiligen Therapiestand angepasst wird. Referenzen Böttger, H. (2016): Neurodidaktik des frühen Sprachenlernens: Wo die Sprache zuhause ist. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag. Chomsky, N. (1977): Reflexionen über die Sprache. Berlin: Suhrkamp. Flehming, I. (o.J.):Grundsatz-Gutachten zur Behandlungsmethode nach Prof. Tomatis. Abrufbar unter: http://drbeckedorf.de/wp-content/uploads/2015/03/Grundsatz-Gutachten-zur-Behandlungsmethode.pdf. Das Klangtraining kann in der Regel gut in den Alltag integriert werden und – je nach Art der Tätigkeit und mit Einverständnis des Arbeitgebers – auch am Arbeitsplatz erfolgen. Dieser Umstand macht die Methode durchaus für die Integration in ein betriebliches Gesundheitsmanagement interessant. Sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber profitieren von den Therapieerfolgen - neben einer Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens, werden gezielt die Konzentrationsfähigkeit, die geistige Haspelmath, M. (o.J.): Sprachen der Welt. Max-Planck-Institut für evolutinäre Anthropologie (Hrsg.). Abrufbar unter http://home.uni-leipzig.de/muellerg/su/haspelmath.pdf. Hellbrück, J. und Ellermeier, W. (2004): Hören: Physiologie, Psychologie und Pathologie. Göttingen: Hogrefe Verlag. Hüther, G. (2010): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Leistungsfähigkeit und die Klarheit in der Kommunikation trainiert. _ GLOSSAR Tonotope Karte: Die systematische Organisation von charakteristischen Frequenzen nennt man Tonotopie. Für die Tonhöhen herrscht somit eine Art Arbeitsteilung: Für das Verarbeiten von Tönen einer bestimmten Frequenz sind jeweils spezialisierte Nervenzellen im Innenohr zuständig. Die tonotope Karte ist der Ort im Gehirn, auf dem u.a. die Phoneme gespeichert sind. Sacarin, L. (2013): Early Effects of the Tomatis Listening Method in Children with Attention Deficit. Abrufbar unter http://aura.antioch.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1044&context=etds. Spitzer, M. (2002): Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart: Schattauer Verlag. Spitzer, M. (2007): Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum. Tomatis, A. (1957): Beitrag bei der Akademie der Wissenschaften in Paris. Tomatis, A. (1990): Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - Die Anfänge der seelischen Entwicklung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. Wolf, C. (2012): Vom Wackeln zur wunderbaren Vielfalt der Klänge. Abrufbar unter https:// www.dasgehirn.info/wahrnehmen/hoeren/vom-einfachen-wackeln-zur-wunderbaren-vielfalt-der-klaenge-6355. 16 FINANZIERUNG Komplementärmedizin und Kosten – Können wir uns eine integrative Medizin leisten? von Prof. Dr. med. Bernd Brüggenjürgen, MPH Die Relevanz von Ausgaben lässt sich in Deutschland mitunter besser an der höchstrichterlichen, steuerlichen Rechtsprechung ablesen als auf Basis verfügbarer Zahlen: So urteilte 1990 das oberste deutsche Finanzgericht, dass z. B. eine ärztliche Behandlung mit Akupunktur oder die Medikamente und Behandlungen, die von einem Heilpraktiker verordnet werden, als Krankheitskosten steuerlich abzugsfähig seien – Verfahren wie Geistheilung selbstverständlich ausgenommen [vgl. BFH, Urteil vom 6.4.1990, BStBl 1990, Teil II Seite 432]. Der schwer zu beziffernde Umfang der Ausgaben für Komplementär- und Alternativmedizin (CAM) kann aber auch angesichts der in diesem Bereich tätigen Leistungserbringer als beträchtlich bezeichnet werden, da laut Statistischem Bundesamt z. B. mehr als 26.000 Heilprak- Prof. Dr. Bernd Brüggenjürgen Seit Dezember 2008 leitet Prof. Dr. Bernd Brüggenjürgen den SDK-Stiftungslehrstuhl für Gesundheitsökonomie an der SteinbeisHochschule Berlin. tiker aktiv sind und davon 14.000 in Vollzeit arbeiten. Auf der Basis von Abrechnungsdaten belaufen sich die jährlichen Kosten für CAM-Verfahren allein für Privatversicherte auf 0,3 Mrd. u [Niehaus 2015]. Die von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) getragenen Kosten sind hingegen nicht zu beziffern, da Satzungsleistungen nicht berichtet werden. Die Apothekenumsätze für pflanzliche oder homöopathische Präparate können jedoch genauer analysiert werden und erreichten in 2013 eine Höhe von 1,8 Mrd. u in Deutschland, von denen die GKV allerdings nur 79 Mio. u und die PKV 40 Mio. u erstattete. In der Schweiz hatten ca. 11 % der Bevölkerung schon einmal entweder Verfahren der Anthroposophischen Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie oder Traditionellen Chinesischen Medizin benutzt [Kooreman und Baars 2012]. So führte ein Referendum 2009 dazu, dass in der Schweiz die genannten Verfahren der Komplementär- und Alternativmedizin über 6 Jahre von der Krankenversicherung erstattet werden müssen. In den USA gehen aktuelle Schätzungen von ca. 30 Mrd. u Gesamtausgaben für die CAM-Verfahren aus [Herman et al. 2012]. Aus gesundheitsökonomischer Sicht ist neben der Wirksamkeit, bzw. der Wirkung im Alltag, insbesondere die Gegenüberstellung von Nutzen und Kosten relevant. Somit können Entscheidungen der Kostenträger sowohl aus Patienten- als auch aus Kostensicht rationaler gefällt werden. Streng methodisch wird bei der Ermittlung der Wirksamkeit häufig die Verblindung von Verfahren gefordert - also das Nichtwissen der Patienten, ob er die Studien-Intervention erhält oder nicht. Allerdings ist dies bei Verfahren der CAM häufig problematisch: So ist z. B. die Durchführung der Akupunktur nicht zu verblinden. Daher umgeht man dieses Problem entweder mit Akupunkturpunkten, die nicht gemäß der Lehrmeinung gesetzt werden, oder man vergleicht Gruppen, die verzögert behandelt werden. Mit letzterer Methodik konnte z. B. in einer großen 17 deutschen Studie an Patienten, die schon längere Zeit unter Arthrose-Beschwerden der Hüfte und des Knies litten, gezeigt werden, dass Akupunktur zusätzlich zur orthopädischen Standardbehandlung eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität mit sich brachte. Allerdings konnten die Mehrkosten durch die Akupunkturbehandlung (ohne patientenseitige Kosten) in dieser Patientengruppe nicht durch Einsparungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden [Reinhold et al. 2008]. Die Autoren bezeichneten das Verfahren dennoch als kosteneffektiv, weil die standardisierten Mehrkosten für ein zusätzliches Jahr mit optimaler Lebensqualität (QALY) nur 17.845 u betrugen – in England werden Therapien bis zu 20.000 brit. Pfund (ca. 25.000 u) pro QALY für das NHS (National Health Service) zur Erstattung empfohlen. Im Rahmen einer Studie zur Homöopathie untersuchte eine berliner Arbeitsgruppe, welche Kostenauswirkungen eine deutsche Krankenversicherung durch den Einsatz der Homöopathie hat [Ostermann et al. 2015]. Hier wurden auf Basis von Routinedaten einer großen Krankenversicherung und der Teilnahme an einem Pilotprojekt zur Homöopathie-Behandlung Versicherte mit und ohne ergänzende Homöopathie statistisch adjustiert verglichen. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass die Gesamtausgaben der Krankenversicherung in der Homöopathie-Gruppe sogar signifikant höher waren als in der Kontrollgruppe und konnten die Ergebnisse anderer Krankenpflegeversicherung. Vielmehr dürfte Studien nicht bestätigen. Daher erfolgte keine Verlängerung des Pilotprojektes [Frankfurter All- nicht nur die Dauer des Gesprächs sondern gemeine Zeitung 2016]. auch die geringeren Nebenwirkungen der Mittlerweile ist ein großer Umfang an Kostenstudien in der Komplementär- und Alternativmedi- CAM zu einer höheren Patientenzufriedenheit zin durchgeführt worden. Von 2001 bis 2010 wurden insgesamt 204 gesundheitsökonomische beigetragen haben [Studer und Busato 2010]. Studien aus dem Bereich der Komplementär- und Alternativmedizin publiziert [Herman et al. Interessant war hierbei, dass auch die Schwei- 2012]. Allerdings sind viele dieser ökonomischen Studien - wie auch häufig in der klassischen zer Patienten mit chronischen und schwer- Schulmedizin – nicht von ausreichender Qualität. Von den 31 Studien höherer Qualität zeigt zu- wiegenderen Erkrankungen häufiger die Be- mindest der überwiegende Teil ein angemessenes Verhältnis von Nutzen und Kosten, 30 % der treuung durch die CAM-zertifizierten Ärzte Studien konnten sogar Einsparungen infolge der Anwendung von CAM-Verfahren nachweisen. suchten. Eine weitere Studie im Rahmen des Dies kann allerdings nicht verallgemeinert werden, da sich die Ergebnisse nur auf die unter- umfangreichen Evaluationsprogramms von suchten Verfahren beziehen und für ausgewählte Patientengruppen gelten. Kosteneinsparungen CAM-Verfahren in der Schweiz beschied die- konnten z. B. für die Behandlung von Schmerzpatienten durch Akupunktur oder die Manuelle sen Ärzten auch eine höhere Attraktivität für Therapie, die Behandlung des Grauen Stars mit Antioxidantien oder die regelmäßige Durchfüh- Patienten als den nicht geschulten Kollegen. rung von Tai Chi in der Vermeidung von Hüftfrakturen in Pflegeheimen nachgewiesen werden Patienten suchten hier selbstbestimmt nach [Herman et al. 2012]. einer spezifischen Methode oder wünschten eine ganzheitlichere Behandlung. Allerdings Allerdings scheint auch ein grundsätzlicher Kosteneffekt durch die vermutlich ganzheitlich ori- wird auch auf die Problematik hingewiesen, entiertere Medizin zu bestehen: So zeigte sich in einer niederländischen Untersuchung, dass Therapieformen allein nach Patientenwunsch die durchschnittlichen jährlichen Gesamtkosten der Patienten in einer Praxis von Allgemeinme- auszuwählen [Wapf und Busato 2007]. dizinern, die eine CAM-Zusatzausbildung hatten, mit 140 u signifikant niedriger lagen als die der Kollegen ohne diese Zertifizierung. Werden alle Unterschiede, z. B. der höhere Frauenanteil, In Deutschland wird die Diskussion um die die bessere sozioökonomische Situation aber auch die häufigeren chronischen und schweren Wirksamkeit zunehmend schärfer geführt. Aus Erkrankungen statistisch mit beachtet, lag der Unterschied sogar bei 66 u pro Quartal. Sicht angesehener deutscher Wissenschaftler Auch aus Patientensicht scheint sich die Komplementär bzw. Integrative Medizin auszuzahlen: resultiert die hohe Attraktivität allein aus ei- So zeigte eine schweizerische Studie bei Ärzten, die eine zertifizierte CAM-Ausbildung absol- ner Kombination positiver Erwartungen und vierten, auch eine – von Patienten häufig geforderte – Verlängerung der Gesprächsdauer. Diese Erfahrungen, ist aber nahezu nicht belegt oder längere Konsultationszeit führte aber nicht zu höheren Kosten zu Lasten der obligatorischen überhaupt nicht belegbar [Anlauf et al. 2015]. 18 Die Institutionen des Gesundheitswesens müssen zu Recht eine sichere Versorgung garantieren. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Referenzen Anlauf, M.; Hein, L.; Hense, H.W. u.a. (2015): Complementary and alternative drug therapy versus science-oriented medicine. In: GMS German Medical Science. 13, Doc05. Bundesausschusses hat daher nach Todesfällen unter dem Präparat „3-Bromopyruvat“ angekündigt, bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Selbstzahlern ggf. Verfahren der Komplementär- und Alternativmedizin sogar zu verbieten, solange die Wirksamkeit nicht mit Studien belegt worden sei [Frankfurter Allgemeine Zeitung 2016]. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass zwar den Verfahren der Komplementär- und Alternativmedizin nur eingeschränkt eine evi- Anonymus (2016) in Frankfurter Allgemeine Zeitung - Online Ausgabe FAZIT Stiftung, Frankfurt.. Herman, P.M.; Poindexter B.L.; Witt C.M.; Eisenberg D.M. (2012): Are complementary therapies and integrative care cost-effective? A systematic review of economic evaluations. In: BMJ Open. 2 (5), S. e001046. Kooreman, P. und Baars, E.W. (2012): Patients whose GP knows complementary medicine tend to have lower costs and live longer. The European Journal of Health Economics. 13 (6), S. 769-776. Niehaus, F. (2015): Der überproportionale Finanzierungsbeitrag privat versicherter Patienten im Jahr 2013. Diskussionspapier. Wissenschaftliches Institut der PKV. Ostermann, J.K.; Reinhold, T.; Witt, C.M. (2015): Can Additional Homeopathic Treatment Save Costs? A Retrospective Cost-Analysis Based on 44500 Insured Persons. In: PLOS ONE. 10 (7), S. e0134657. denzbasierte Wirksamkeit zugeschrieben werden kann. Allerdings kann der ökonomische Effekt durchaus positiv ausfallen, sei es aus der Perspektive potentieller Einsparungen bei bestimmten CAM-Verfahren oder in einer anscheinend grundsätzlich kostenvermei- denderen Vorgehensweise von Ärzten mit ei- Reinhold, T.; Witt, C.M.; Jena, S. u.a. (2008): Quality of life and cost-effectiveness of acupuncture treatment in patients with osteoarthritis pain. In: The European Journal of Health Economics. 9 (3), S. 209-219. Studer, H.P. und Busato, A. (2010): Ist ärztliche Komplementärmedizin wirtschaftlich? Die wichtigsten Ergebnisse des Programms Evaluation Komplementärmedizin (PEK). In: Schweizerische Ärztezeitung 91 (5). Wapf, V. und Busato, A. (2007): Patients‘ motives for choosing a physician: comparison between conventional and complementary medicine in Swiss primary care. In: BMC Complementary and Alternative Medicine. 7 (1). ner Zusatzqualifikation in Komplementär- und Alternativmedizin. Können wir uns also eine integrative Medizin leisten? Hier eröffnen sich unter Beachtung angemessener Evidenz möglicherweise mit der integrativen Medizin auch aus Kostensicht neue Chancen für eine gute, patientenorientierte Versorgung. 19 Vielseitiges Engagement in wichtigen Bereichen der Gesellschaft – Die SDK-Stiftung Die SDK-Stiftung wurde 2007 gegründet. ökonom verfügt er über langjährige Erfahrung Der Stifterverband für die Deutsche Wissen- als Berater im Gesundheitswesen. schaft verwaltet die SDK-Stiftung treuhände- Beim Symposium der SDK-Stiftung 2017 diskutierten Experten vor 130 Gästen das Thema „Vermessung der Gesundheit – Fluch und Segen der Digitalisierung“. risch. Die SDK-Stiftung fördert das Gesund- Brüggenjürgen ist im Vorstand des Deutschen heitswesen, Wissenschaft und Forschung, Verbandes für Gesundheitswissenschaften und Umweltschutz, Kunst und Kultur, Bildung Public Health und im erweiterten Vorstand der und Erziehung sowie mildtätige Zwecke. Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie. Aktuell unterstützt sie die Hilfsorganisation Einmal jährlich veranstaltet die SDK-Stiftung „Ärzte der Welt“ und die Benefiz-Radveran- in Zusammenarbeit mit dem SDK-Institut für staltung „Tour Ginkgo“ der Christiane Eichen- Gesundheitsökonomie das SDK-Symposium. hofer-Stiftung. Bei der Tagesveranstaltung kommen Experten aus dem Gesundheitswesen zu Wort und be- Der SDK-Stiftungslehrstuhl für Gesundheitsö- leuchten aktuelle Themen aus Gesundheitsökono- konomie wurde zum 1. Dezember 2008 an der mie und Gesundheitspolitik. Steinbeis-Hochschule Berlin eingerichtet. Die Steinbeis-Hochschule ist eine der größten deutschen Hochschulen für postgraduale Masterstudiengänge. Lehrstuhlinhaber ist Prof. Dr. Bernd ISSN 2197-8980 Brüggenjürgen. Als Mediziner und Gesundheits- BLICK PUNKTE nr. 2 | 2014 Blick punkte Mensch Gesellschaft sicherheit Vom Ausbrennen bedroht. Psychische Erkrankungen in Unternehmen und wie Arbeitgeber helfen können. 02| 2014 Vom Ausbrennen bedroht! NR. 3 | 2014 GESELLSCHAFT NR. 5 | 2015 BLICK PUNKTE SICHERHEIT MENSCH 03| 2014 Pflegefall Zukunft – sind wir reif für die Pflege? GESELLSCHAFT SICHERHEIT Gesunde Qualität – „ Pflegefall Zukunft – sind wir reif für die Pflege?“ www.stiftung.sdk.de 0.153/03.2017 auf einen Blick! BLICK PUNKTE MENSCH www.stiftung.sdk.de Gesundheitsversorgung auf dem Prüfstand 04| 2014 Individualisierte Medizin – Chancen und Grenzen zukünftiger Patientenbehandlung. 05| 2015 Gesunde Qualität– Gesundheitsversorgung auf dem Prüfstand NR. 6 | 2015 BLICK PUNKTE MENSCH GESELLSCHAFT SICHERHEIT Wissen über Gesundheit 06| 2015 Wissen über Gesundheit NR. 7 | 2016 BLICK PUNKTE MENSCH GESELLSCHAFT SICHERHEIT Wo Versorgung an Grenzen stösst Patientenwünsche | Medizinischer Bedarf | Versorgungsbrüche 07| 2016 Wo Versorgung an Grenzen stösst Jetzt online bestellen!