Die Märkte halten sich nicht an Gauss.

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Schweizer Dialog
Die Märkte halten sich nicht an Gauss.
Gedanken zur globalen Finanzkrise und zur globalen Erwärmung
Fehler, die zur globalen Finanzkrise führten, werden auch in der Diskussion um die globale Erwärmung gemacht. Die Erkenntnisse zur Finanzkrise geben uns darum die Handlungsanweisung, wie wir mit der drohenden Klimaveränderung umgehen müssen.
Von Andreas Binder
Wir alle kennen die Theorie der Normalverteilung des Mathematikers Carl Friedrich
Gauss und dessen berühmte Glockenkurve. Wie viele andere Modelle basieren auch die
Risikomodelle der Banken auf der Annahme der Normalverteilung, wenn es um Prognosen für Kursschwankungen von Aktien oder Obligationen oder um die Einschätzung anderer Risken an den Finanzmärkten geht. Man betrachtet die Kursveränderungen der
Vergangenheit und berechnet daraus den grössten maximalen Verlust, den man z.B. in
einem oder in 10 Tagen mit 99% Wahrscheinlichkeit erleiden kann; das eine Prozent an
den Enden der Kurve bleibt unberücksichtigt.
Die Realität zeigt aber, dass sich die Märkte nicht an Gauss halten und viel häufiger extreme Ereignisse produzieren als dies nach der Theorie der Normalverteilung sein sollte.
Benoît Mandelbrot, Mathematikprofessor an der Yale University, hat unter anderem folgende Berechnungen angestellt: Würde der amerikanische Börsenindex Dow Jones einer
Normalverteilung folgen, so hätte er sich zwischen 1916 und 2003 an 58 Tagen um mehr
als 3.4% bewegen sollen; tatsächlich tat er dies an 1001 Tagen. Und er hätte sich ein einziges Mal in 700'000 Jahren um über 7% verändern sollen; tatsächlich tat er dies im 20.
Jahrhundert in weniger als 100 Jahren 48 Mal. Die Abweichung vom Modell zur Theorie
beträgt damit sagenhafte 336'000%. Auch der Aktiensturz vom 19. Oktober 1987 hätte
eigentlich nie passieren dürfen, wenn man der Theorie der statistischen Normalverteilung
folgt: Die Wahrscheinlichkeit für einen Tagesverlust im Dow Jones in Höhe von knapp
30 Prozent lag bei 1 zu 1050, einer Eins mit 50 Nullen, sollte also in 1042 Millionen oder
1036 Billionen Jahren einmal vorkommen. Zum Vergleich: Das Alter der Erde beträgt dagegen lumpige 4.6 Milliarden Jahre.
Die Risikomodelle haben auf diese Erkenntnisse reagiert, indem sie sogenannte fette Enden oder fat tails modellieren, also in ihren Modellen die Enden der Kurve etwas anheben. Der Ansatz tönt plausibel, ist aber offenbar in der Umsetzung alles andere als trivial,
wie die Finanzkrise 2008 eindrücklich gezeigt hat. Und das ist auch leicht nachvollziehbar, wenn man an die vielen Nullen denkt, um die man an den Enden danebenliegen
kann. Klar ist: Man wird sich nach der Finanzkrise noch viel intensiver als bisher mit den
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fetten Enden der Gaussschen Kurve beschäftigen, mit den zwar seltenen, in ihren Auswirkungen aber verheerenden Ereignissen.
Was hat die globale Finanzkrise mit der globalen Erwärmung gemein? − Die Fokussierung auf das Normale und die Ausblendung des Unerwarteten und Ungewöhnlichen in
unserem Entscheidungsverhalten. Die Erkenntnisse zur Finanzkrise geben uns darum die
Handlungsanweisung, wie wir mit der drohenden Klimaveränderung umgehen müssen.
Kein Mensch und kein Computer kann mit Sicherheit voraussagen, was in den nächsten
100 Jahren passieren wird. Das ist schon rein logisch unmöglich: Niemand weiss, welche
klimarelevanten Ereignisse und Entscheidungen morgen und übermorgen passieren.
Das IPCC, das Intergovernmental Panel on Climate Change, die Institution, welche die
UNO mitbegründet hat und mit der Aufgabe betraut wurde, einen wissenschaftlichen
Konsens zu etablieren über das, was uns klimamässig erwarten wird, legt die Bandbreite
der globalen Klimaerwärmung bis im Jahr 2100 auf zwischen ca. 1°C und 6°C fest. Um
dies in einen Kontext zu setzen: Die Differenz zwischen der aktuellen weltweiten Durchschnittstemperatur und jener während der letzten Eiszeit vor 20'000 Jahren beträgt 5°C.
Wenn Menschen, wenn Politiker die Wissenschafter fragen, welcher dieser Werte, 1°C
oder 6°C, nun tatsächlich eintreffen und was für Folgen dies für das Klima haben wird,
und wenn sie daraus ableiten, solange dies nicht klar sei bestünde kein Anlass zum Handeln, so stellen sie damit erstens die falsche Frage und handeln sie damit zweitens in grobem Mass verantwortungslos. Was die ganze Welt heute empört Bankern vorwirft, müssen wir ebenso empört uns allen vorwerfen.
Martin Weitzman, Professor für Ökonomie an der Harvard University, weist darauf hin,
dass sich die meisten Analysen und Kommentare zum Klimawandel auf das wahrscheinlichste Ergebnis beziehen, den höchsten Punkt in der Wahrscheinlichkeitskurve, der bei
einer Erwärmung von ca. 2.8°C über die nächsten 100 Jahre liegt. Richtigerweise, so argumentiert er, müssten wir aber die Ereignisse betrachten, deren Eintreten weniger wahrscheinlich sei, welche wir aber nicht ausschliessen könnten, und das ist das rechte Ende
der Glockenkurve. Was ein Anstieg der mittleren Erdtemperatur um 6°C für die Erde bedeuten könnte, kann niemand genau vorhersagen – wir würden uns jedenfalls in Terra
incognita und damit in eine höchst gefährliche Situation begeben.
Analysiert man das Problem der Klimaerwärmung, so kann man die folgenden beiden, für
viele überraschenden Feststellungen treffen:
Das Problem ist keines der Technologie. Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass
ein Ansteigen der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre vermieden werden
könnte, ohne dass damit eine Wohlstandseinbusse für die Menschheit verbunden wäre.
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Das Problem ist auch kein ökonomisches. Ein, vielleicht zwei Prozentpunkte des weltweiten Outputs jährlich würden gemäss einem breiten Konsens unter den Ökonomen zur Finanzierung genügen.
Aber die Menschheit muss sich einigen, wie man die Kosten aufteilt. Wie kann ich den
andern trauen, dass sie ihren Teil der Last tragen? Und wie kann ich die externen Kosten
internalisieren? Zu Letzterem ist die Antwort der Ökonomie seit Jahrzehnten bekannt:
Die Politik muss für die Benutzung der Umwelt einen Preis verlangen, weil die Umwelt
dies nicht selber für sich tun kann. Sei es in Form einer Kohlendioxidsteuer, sei es in
Form einer Beschränkung der totalen Emissionen und der Einführung handelbarer Emissionszertifikate. Wer dies nicht anerkennt, ist kein liberaler Ökonom, sondern ein Ausbeuter unserer Ressourcen ohne Bereitschaft, dafür einen fairen Preis zu bezahlen. Und
um eine Lanze für die Universität St. Gallen, meine Alma Mater, zu brechen: Dies haben
mich meine Ökonomielehrer schon vor 30 Jahren gelehrt.
Der englische «Economist», eine der weltweit renommiertesten Zeitungen, ein liberaler
Think Tank par excellence und damit eine in Wirtschaft und liberalen Politkreisen gewichtige Stimme, argumentiert, angesichts der nicht auszuschliessenden massiven Erderwärmung mit katastrophalen Folgen für Erde und Menschheit müssten wir, im Sinne einer Versicherung, bereit sein, 1 bis 2% des jährlichen Bruttosozialprodukts dafür aufzuwenden, um den Eintritt dieses Szenarios zu verhindern. Die Welt müsse ihr Verhalten
ändern, um den Eintritt einer Katastrophe auszuschliessen.
Nimmt man all dies zusammen, ergibt sich ein erstaunlich klares Bild: Erstens: Wir müssen akzeptieren, dass es keine Gewissheit geben kann, was in den nächsten 100 Jahren
passieren wird. Zweitens: Wir müssen unseren Blick zum rechten Ende der Glockenkurve
statt zum Mittelwert hinwenden. Und drittens: Wir müssen daraus ganz einfach den zugleich der Logik wie dem gesunden Menschenverstand entspringenden Schluss ziehen,
dass wir uns diesem Problem gegenüber nicht anders verhalten müssen als gegenüber anderen tatsächlich oder vermeintlich unwahrscheinlichen, bei ihrem Eintritt aber verheerenden Ereignissen: Die Risiken vermeiden, soweit wir es können, jedenfalls aber uns
dagegen versichern. Wir haben es technologisch in der Hand, die Risiken zu vermeiden.
Und die Kosten sind tragbar; erst recht, wenn wir einsehen, dass es sich bei diesen 1 bis
2% des jährlichen Welt-Bruttosozialprodukts nicht um Ausgaben, sondern um Investitionen handelt, welche die Investoren belohnen und unsere Welt voranbringen werden.
Ken Caldeira, Klimawissenschafter an der Carnegie Institution for Science in Stanford,
bringt die Fragestellung auf den Punkt, indem er sie umkehrt und nicht nach der möglichen Wohlstandseinbusse, sondern nach dem möglichen Wohlstandsgewinn fragt, und
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beseitigt damit für jeden denkenden Menschen in plausibler Weise jeden Zweifel, wie wir
uns entscheiden sollen. Die Frage an jeden von uns lautet: «Wenn wir über Energie und
Transportsysteme verfügen würden, die unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne die Atmosphäre als Müllhalde für unsere Kohlendioxidverschmutzung zu missbrauchen, und ich
würde dir sagen, dass du noch 2% reicher sein könntest, wenn du nur die Ozeane übersäuern und riskieren würdest, Korallenriffe und andere marine Ökosysteme zu zerstören,
wenn du den Planeten aufheizen und riskieren würdest, die Eispole zu schmelzen und
schnelle Meeresspiegelanstiege in Kauf zu nehmen, und wenn du riskieren würdest,
Wetterbedingungen zu verändern, so dass wichtige Ernährungsregionen der Welt nicht
mehr genügend Nahrung hervorbringen könnten, würdest du all diese Risiken auf dich
nehmen, nur um noch 2% reicher zu sein?» − Die Frage stellen heisst sie beantworten!
Verantwortung für das Gemeinwohl ist mehr denn je gefragt. Zumal es immer die Ärmsten sind, die es am Härtesten trifft. Die Schweiz kann nur gewinnen, wenn sie in der
Ökologie eine Vorreiterrolle einnimmt. Das gibt ihr weltweit Kredibilität und damit Einfluss. Beides täte ihr gut.
Literatur:
The Economist, Greed and fear, A special report on the future of finance, January 24,
2009
The Economist, Getting warmer, A special report on climate change and the carbon
economy, December 5, 2009
Benoit Mandelbrot/ Richard L. Hudson, The (mis)behavior of markets, 2004
Martin Weitzman, The Stern review of the economics of climate change, 2009
Ken Caldeira, Geoengineering: Assessing the implications of large‐scale climate
intervention, 2007
Andreas Binder, Prof. Dr. iur. et lic. oec., Honorarprofessor für Gesellschaftsrecht an der Universität St. Gallen, Wirtschaftsanwalt bei Binder Rechtsanwälte, Baden
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