Versuch einer Ästhetik des HiFi

Werbung
November 1990
Werner Unger
GEDANKEN ZU EINER AUDIOTECHNISCHEN ÄSTHETIK
- Was Leonardo da Vinci, Platon und Celibidache mit HiFi und Sound Engineering zu tun haben - 1
Betrachtet man die physikalischen Dimensionen der Musik, so ist es vor allem der Faktor Zeit, der
zu Überlegungen anregt. So haben etwa Hermann RAUHE und Reinhard FLENDER 2 den
Versuch einer auf den ersten Blick zwar simplen, aber durchaus sinnvollen und bedenkenswerten
Definition gewagt: Musik sei die „Kunst, mit der Zeit umzugehen“. 3
Der Gedanke ist durchaus nicht neu. Besonders eingehend hat sich HEGEL in seiner Ästhetik )4
mit dem Aspekt der Zeit, „welche das allgemeine Element der Musik ausmacht“ )5,
auseinandergesetzt. Nach seiner Auffassung ist es eine mit dem Subjekt verbundene ZeitenEinheit, welche die besondere Wirkung der Musik ausmacht:
„Von dieser Seite her ist es nicht der geistige Inhalt, nicht die konkrete Seele der
Empfindung, welche in den Tönen zu uns spricht; ebensowenig ist es der Ton als Ton, der
uns im innersten bewegt; sondern es ist diese abstrakte, durch das Subjekt in die Zeit
hineingesetzte Einheit, welche an die gleiche Einheit des Subjekts anklingt." 6
Damit verbunden ist vom Standpunkt des HEGELschen objektiven Idealismus das Fehlen der
Räumlichkeit, welches die Musik von anderen Künsten unterscheidet:
„Dies Tilgen nicht nur der einen Raumdimension, sondern der totalen Räumlichkeit
überhaupt, dies völlige Zurückziehen in die Subjektivität nach seiten des Inneren wie der
Äußerung, vollbringt die zweite romantische Kunst - die Musik.“ 7
Tonträger - "Firnis" der Musik?
Dieses Thema war auch zu HEGELs Zeiten nicht neu. Der Unterschied zwischen der Musik als
Zeitkunst und vor allem der Malerei und der Plastik als Raumkünsten hatte schon frühere Geister
bewegt. Besonders bemerkenswert, geradezu aktuell, erscheint die Begründung, die LEONARDO
DA VINCI für den Primat der Malerei gegenüber der Musik (der "kleineren Schwester") anführt:
„Die Malerei ist der Musik deswegen überlegen, weil sie nicht sterben muß, sobald sie ins
Leben gerufen ist, wie das der Fall der unglücklichen Musik ist ... Die Musik, die sich
verflüchtigt, sobald sie entstanden ist, steht der Malerei nach, die mit dem Gebrauch des
Firnis ewig geworden ist." 8
1
Das vorliegende Manuskript basiert auf Gedanken von FISCHER/HOLLAND/RZEHULKA: Gehörgänge.
Zur Ästhetik der musikalischen Aufführung und ihrer technischen Reproduktion (Peter Kircheim Verlag,
München 1986). Sie versucht, konkrete Folgerungen für den Umgang mit Tonträgern zu umreißen.
Besonderer Dank gebührt Uwe OPOLKA für seine wertvollen Hinweise und Anregungen.
2
Schlüssel zur Musik, Econ Verlag, Düsseldorf 1986
3
Gottfried EBERLE bezeichnet sie in seiner Rezension (NZ 11/1988, S. 49) als eine „nicht unvernünftige“
Definition.
4
Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Ästhetik. Hrsg. Friedrich BASSENGE. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.
2.Aufl. ohne Jahr (ca.1970)
5
HEGEL, a.a.O., S. 277
6
HEGEL, a.a.O., S. 245
7
HEGEL, a.a.O., S. 260
8
LEONARDO DA VINCI, Traktat von der Malerei. Nach der Übersetzung von Heinrich LUDWIG neu
herausgegeben und eingeleitet von Marie HERZFELD.Eugen Diederichs, Jena 1925. Reprint München 1989
(Diederichs); hier zitiert nach FISCHER/HOLLAND/RZEHULKA, a.a.O., S.15
1
Heute stellt sich die Frage, ob nicht die Tonträger unserer Zeit diesen angeblich unheilbaren
Mangel behoben haben. Vielleicht sind Platte oder Tonband so etwas wie der „Firnis“ der Musik?
Auf den ersten Blick erscheint es in der Tat so. Gerade angesichts der immer perfekteren AudioTechnologie ist der Unterschied zwischen originaler Klangquelle und technischer Reproduktion
immer weniger wahrnehmbar - so weit, daß die HiFi-Industrie es bereits mit Erfolg gewagt hat,
einem Publikum nachzuweisen, daß es den Unterschied zwischen Original und Konserve nicht zu
hören vermag: auf der Bühne hatte man ein Klavierstück aufgenommen und das Ergebnis sofort
danach zum direkten Vergleich über Lautsprecher übertragen. Eine ähnliche Demonstration ist
übrigens schon aus der Frühzeit der Tonaufzeichnung bekannt: 1913 veranstaltete EDISON eine
Serie von Test-Recitals, in denen die bekannte Sopranistin Maggie TEYTE zuerst live sang, und
danach ihre Schallplatte gespielt wurde. Dem Vernehmen nach soll es nicht wenige Hörer
gegeben haben, die zwischen der Stimme in natura und ihrer technischen „Nachschöpfung“ durch
die Edison-„Diamond“-Platte angeblich "keinen Unterschied" feststellen konnten 9.
Zumindest heute scheint die Werbung recht zu haben, wenn sie uns den „Konzertsaal im
Wohnzimmer“ verspricht. Doch es gilt vorsichtig zu sein, denn das Problem ist versteckter Natur:
Das, was auf einem Tonträger festgehalten wird, ist nicht die Musik als solche, auch wenn sie von
uns so wahrgenommen wird. Es sind immer nur die akustischen "Spuren" einer Musik, die zu
einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Raum erklungen ist. Und je größer der zeitliche
Abstand ist, desto klarer wird dies erkennbar.
Die Platte als akustisches Buch
Es verhält sich mit der auf Tonträger festgehaltenen Musik ähnlich wie mit den durch die Schrift
festgehaltenen Gedanken. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die heftige
Kritik, die PLATON 10 an der Schrift übt. In seinem Dialog „Phaidros“ berichtet Sokrates vom
Mythos des Teuth, einem erfindungsreichen ägyptischen Gott, der dem König Thamos die Vorteile
der Schrift „als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis“ anpreist. Thamos will das nicht
akzeptieren:
„Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus
Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von
außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern
werden.“ 11
Die Schrift sei daher allenfalls ein Mittel "für die Erinnerung", bringe von der Weisheit aber „nur den
Schein bei, nicht die Sache selbst.“ )12
Letztlich hat die Schrift für PLATON geradezu Betrugscharakter:
"Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der
Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber
etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest
glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das
Gesagte, so bezeichnen sie doch stets nur ein und dasselbe. Ist sie aber einmal
geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die
sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie
reden soll und zu wem nicht." 13
9
siehe Evan Eisenberg, The Recording Angel, New York 1987, S. 91
PLATON, Werke in acht Bänden. Band V. Bearbeitet von Dietrich KURZ. Deutsche Übersetzung Friedr.
SCHLEIERMACHER. Wissensch. Buchgesellschaft Darmstadt 1983: Phaidros 274 d
11
PLATON, a.a.O., Phaidros 275 a
12
PLATON, a.a.O., Phaidros 275 a
13
PLATON, a.a.O., Phaidros 275 d - 275 e
10
2
Der Hauptpunkt von PLATONs Kritik geht dahin, daß die Schrift mit den durch sie ausgedrückten
Gedanken (der "Sache selbst") nicht identisch ist, sondern nur „Schein“, „vermittels fremder
Zeichen“ hervorgerufen. Dieser Schein ist so stark, daß der Eindruck entsteht, als sei die Schrift
mit den durch sie dargestellten Gedanken identisch, pointiert formuliert: als wäre das Buch das
Werk.
Dieser Schein-Charakter läßt sich auch in der Musik wiederfinden, sogar in doppelter Weise:
-
Als direkte Parallele zur Schrift bietet sich die musikalische Notation an. Auch hier wird die
musikalische "Idee" durch Zeichen vermittelt. Und auch hier handelt es sich nur um einen
Vermittlungsprozeß, dessen Ergebnis (die Partitur) mit der „Sache selbst“ (der Musik) nicht
identisch ist. Je ungenauer die Notation, desto größer ist diese Kluft. Das Problem des
Interpreten wäre es demnach, diese Kluft so weit wie möglich zu schließen, indem er
„werktreu“ die „Idee des Komponisten“ zum Ausdruck bringt.
-
Die technische Reproduktion auf Tonträger tritt als eine zweite Vermittlungsform hinzu:
Auch hier wird durch öfremde Zeichenö (in elektromagnetische Ströme umgesetzte und
wieder rück-öübersetzteö akustische Schwingungen) Musik dargestellt. Auch hier ist das
auf der Platte festgehaltene Abbild mit der Musik selbst nicht identisch. Und auch hier ist
die Diskrepanz umso größer, je unvollkommener die technische Umsetzung erfolgt.
Technische Fixerung von Musik - ein Betrug?
Sicher würde PLATON neben der Schrift auch die Musikaufzeichnung auf Tonträger als Betrug
ansehen. Und Gedanken in diese Richtung mögen bei der ablehnenden oder zumindest total
indifferenten Haltung vieler Musiker gegenüber dem Medium Schallplatte mitspielen. Bekannt ist
der Ausspruch Otto KLEMPERERs gegenüber seiner Tochter, als man ihm die Methoden
moderner Schneide-Technik erläuterte: „Lotte, ein Schwindel!“ 14. KLEMPERER war bekannt für
seinen prägnanten, oft sarkastischen Humor. Dieser Ausspruch scheint aber (zumindest: auch)
ernsthafte Entrüstung auszudrücken. Jedenfalls hat sich KLEMPERER wie kaum ein anderer unter
den großen Dirigenten mit der ihm völlig fremden Studio-Atmosphäre ausgesprochen
schwergetan:
„(Aber) ich hasse das ewige Gerenne in den Kontrollraum, um abzuhören, was ich
aufgenommen habe. ... Ich finde es besser, eine ganze Aufführung mitzuschneiden, als im
Studio Aufnahmen zu machen. Können ruhig ein paar Fehler dabei sein. Jedenfalls, wenn
ich Platten mache, dringe ich darauf, mindestens die Ouvertüren und ganze Sätze ohne
Unterbrechung durchzuspielen. Acht Takte und noch mal acht Takte, diese entsetzliche
Stückarbeit mache ich nicht. Ich mache nur so kleine Passagen, wenn ich muß. Wenn da
zum Beispiel bei den Hörnern ein falscher Ton ist und sonst alles andere gut, dann bin ich
dafür. Aber jetzt bleibe ich auf dem Podium sitzen, und die können kommen und mir
erzählen, was sie wollen. Ich laufe nicht mehr hin und her, können die machen.“ 15
Der wohl konsequenteste Gegner der Schallplatte unter den bekannten Musikern unserer Zeit ist
Sergiu CELIBIDACHE, der seine Haltung eingehend und ernsthaft begründet hat, wobei er - als
einziger - explizit philosophische Gründe angibt. Allerdings beruft er sich nicht auf PLATON,
sondern auf die Phänomenologie HUSSERLs und auf Grundgedanken des Zen. Für
CELIBIDACHE 16 gilt nur die im Hier und Jetzt gespielte Musik. Aufzeichnung auf Band und
Reproduktion auf Platte hält er für geradezu gefährlich und lehnt technisch vermittelte Musik daher
strikt ab:
14
Suvi Raij GRUBB, Music Makers on Record, Hamish Hamilton, London 1986, S. 93
Peter HEYWORTH, Gespräche mit Klemperer, S.Fischer Verlag, Frankfurt 1974, S.184, 185/186
16
Sämtliche Zitate aus einem Interview des Dirigenten mit Joachim MATZNER 1973, abgedruckt in:
Fischer/Holland/Rzehulka, a.a.O., S. 131 ff.
15
3
„Die Schallplatte macht etwas kaputt bei den Menschen, die nicht ein strenges und starkes
Musikgefühl haben...“
„..... Sie ist ein Dokument, aber eben nur ein historisches. Sie ist nichts musikalisch
Eigentliches. Wenn man Geschichte liest, erlebt man zum Teil nach, was da war; aber man
erlebt es natürlich nicht so wie diejenigen, die es direkt erlebt haben...“
„....Wer sich beim Rasieren eins pfeift, wer morgens sein "Hänschen klein" singt, der hat
viel mehr mit Musik zu tun als einer, der sich eine Beethovenplatte auflegt.“ 17
Bezeichnenderweise - und von seinem Standpunkt aus konsequent - mißt der Dirigent auch der
Partitur eine nur untergeordnete Bedeutung bei:
"Nur, das Dokument, das Testament, die Partitur vom Komponisten ist ein absolut
unvollkommenes Stückchen Papier. Ich muß als Interpret ergänzen. Ich muß es wissen, oft
ohne daß es dem Komponisten selbst bewußt gewesen ist: Wie bewegt sich das, spannt
sich das an, löst sich das auf?" 18
Eine wahrlich konsequente Haltung. Seine Kompromißlosigkeit spricht für CELIBIDACHE, gegen
ihn spricht aber, daß er mit seiner pauschalen Verurteilung jeglicher Tonaufzeichnung sich der
Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Realität entzieht. (Daß selbst er seine Haltung
nicht bis ins letzte konsequent durchhalten konnte, indem er Aufnahmen seiner Konzerte duldete
und darüber hinaus beim SDR sozusagen in der Höhle des Löwen ein Rundfunk-Sinfonieorchester
leitete, bleibe außer Betracht.) CELIBIDACHE hat etwas von der Haltung eines musikalischen
Bilderstürmers, wobei er den Kampf gewissermaßen passiv durch Verweigerung führt. Mit seiner
Verbannung der Mikrophone aus dem Konzertsaal läßt sich seine Haltung auch vergleichen mit
der jenes Papstes, der die Musik (zumindest bestimmte weltliche Auswüchse) aus der Kirche
verbannen wollte, weil sie von „der Sache selbst“, dem Wort Gottes, ablenke, statt es - wie sie
vorgibt - emotional zu verstärken.
Ein gefährlicher Standpunkt. Denn die „Betrüger“ im platonischen Sinne sind nicht nur Partitur,
Tonband oder Schallplatte - die Musik selbst hat (be-)trügerischen Charakter:
Im zeitlichen Ablauf eines Musikstückes geht es nicht eigentlich um die gemessene „Uhrzeit“,
sondern um die durch das Metrum verknüpften Erlebens-Einheiten. So sieht Thrasyboulos
GEORGIADES 19 die besondere Wirkungskraft der Musik in der Verbindung des
diskontinuierlichen Jetzt mit der Kontinuität des Maßes. Darin seien Präsenz und Dauer verknüpft.
Indes gelingt diese Verbindung von Vergänglichkeit und Dauer nur auf der Erlebensebene, nämlich
durch die psychologische Besonderheit der strukturierten Wahrnehmung von metrisch
zusammengefaßten Zeiteinheiten, die, innerhalb der ablaufenden Zeit, das Gefühl von Zeitlosigkeit
vermitteln. Auch hier also „falsche Zeichen“, Betrug?
Wer ist der Betrüger?
Betrug setzt (jedenfalls bei den Juristen, vgl. § 263 StGB) eine Täuschungshandlung voraus. Diese
kann bei der Schallplatte allgemein darin gesehen werden, daß dem Hörer vorgetäuscht wird, der
Klang aus dem Lautsprecher sei mit dem gespielten „Original“ identisch. Aber wer begeht denn
diese Täuschung? Die Schallplatte jedenfalls nicht. Sie gibt getreu das wieder, was bei der
Aufnahme, der Überspielung und der Pressung in sie „eingeschrieben“ worden ist. Die Täuschung
geht eher auf diejenigen zurück, die als fanatische Freaks den Zaubercharakter der Audiotechnik
so überbetonen, daß sie vor lauter Vergleichen zwischen „Live“ und „Konserve“ nur noch auf den
Sound hören und die Musik dabei vergessen. Letztlich aber sind auch sie nur Opfer des
Aberglaubens, der von den PR-Abteilungen der Schallplattenkonzerne und der Gerätehersteller in
die Welt gesetzt oder doch zumindest nach Kräften gepflegt und ausgebaut wird: daß nämlich mit
17
a.a.O., S. 133, 134
a.a.O., S. 135
19
Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985
18
4
der Schallplatte der Käufer den "Konzertsaal im Wohnzimmer" habe. Hier liegt der eigentliche
Punkt, der in die Irre führt.
Die Schallplatte mag eine Illusionsmaschine sein, indem sie uns - digital oder „analog“ - den Klang
eines Sinfonieorchesters reproduziert. Das allein ist aber noch kein Betrug, solange sich der Hörer
dieses Ersatz-Charakters, dieser Qualität einer Repräsentation bewußt bleibt. Die Illusion wird
dann zur Lüge, wenn dem Hörer die Identität des Dargestellten (gespielte Musik im Konzertsaal)
mit der Darstellungsform (Lautsprechermusik im Wohnzimmer) vorgemacht wird. Diese Lüge ist
indes nur gesellschaftlich bedingt, sie gehört nicht zum Wesen des Mediums. Otto KLEMPERER
hat es auf eine geradezu lapidare Formel gebracht:
„Schließlich ist 'ne Platte 'ne Platte." 20
Auf die Frage, ob er glaube, daß Schallplatten die Hörer zu standardisierten Ansichten eines
Werkes verleiten, so daß sie schließlich glaubten, die Platte sei das Werk, antwortete der Dirigent:
„Das ist natürlich eine Gefahr. Aber ein einigermaßen musikalischer Mensch müßte doch
die lebendige Aufführung der Platte vorziehen. Schließlich ist 'ne Platte 'ne Platte. Und das
kann nie dasselbe sein wie eine Aufführung. Aber Schallplatten bringen Musik dahin, wo
man ein großes Orchester nicht hören kann. Sie sind nicht ideal, aber besser als nichts.“
Die Ästhetik der Schallplatte
Die Schallplatte ebenso wie alle anderen Tonträger kann als ästhetische Realität nur dann richtig
erkannt und behandelt werden, wenn man nicht in diese „Identitätsfalle“ der Werbestrategen fällt,
sich also beim Hören bewußt bleibt, daß es sich um eine technische Produktion und nicht um die
Musik im „Original“ handelt. 21 Allerdings müßte sich dann eine neue, dem Medium adäquate
Ästhetik herausbilden, bei der sich die Schallplatte als ein Musik-Instrument darböte, mit dem jeder
erst lernen muß, richtig umzugehen. 22
Chancen für einen neuen Umgang mit Musik
Ansätze zu einer derartigen Ästhetik der Schallplatte sind erkennbar, in Umrissen zeigt sich bereits
eine umfassendere Diskologie 23, die auch technische, ökonomische und soziologische Aspekte
der Schallplatte und anderer Tonträger mit einbeziehen könnte.
Eine solche Ästhetik müßte sich an den Besonderheiten des technischen Mediums Tonträger
orientieren, ohne auf die illusionäre Nähe zur gespeicherten Musikaufführung zu schielen, sie
müßte also gerade auf die Unterschiede des Plattenhörens zur lebendigen Konzertsituation
abheben. Von diesem Standpunkt ergeben sich unter vielen Aspekten neue, kreative
Möglichkeiten. Aus dem „Betrug“ wird eine Chance für erweiterte Umgangsformen mit Musik. Dies
gilt für den Produzenten ebenso wie für den Hörer.
20
Peter HEYWORTH, a.a.O., S.186
Besonders aufschlußreich die Art, in der SONY für seinen DAT-Recorder wirbt (vgl. z.B. FonoForum
10/1990, S.43): „Der neue DTC-55 ES macht keine Kopie, er macht ein weiteres Original. Demnächst gibt es
den Maestro also haargenau zweimal.“
22
Genauer gesagt geht es eher darum, eine solche Ästhetik, die sich unbewußt sicher seit langem
herausgebildet hat, explizit zu machen.
23
Zu diesem Begriff vgl. Martin ELSTE, Von der Partiturwissenschaft zu einer Klangwissenschaft.
Überlegungen zur Schallplattenforschung, in: Jahrbuch des Staatl. Instituts für Musikforschung Preußischer
Kulturbesitz. 1983/84; ders. in: Elste, Kleines Tonträgerlexikon. Bärenreiter 1989, S.41/42 (Stichwort
Diskologie) m.w.Nachw.
21
5
Die Schallplatte als Produkt
Schon beim rein Äußerlichen könnte man anfangen und etwa die Unterschiede zwischen
Schellack-, Langspielplatte und CD aufzeigen, wie es etwa Konrad HEITKAMP in seinem
„Plädoyer für eine schwarze Scheibe“ 24 nicht ohne Nostalgiegefühle getan hat. Er weist unter
anderem auf die eigenständige künstlerische Bedeutung von Cover und Plattentext hin. Die
Gefahr, daß durch die Miniaturisierung der gestalterische Effekt und der Informationswert der
„Verpackung“ proportional sinkt, ist nicht von der Hand zu weisen (die CD-Booklets vergleicht er
spöttisch mit den „Spickzetteln für die Lateinarbeit“). Man halte sich vor Augen, wie das graphischgestalterische Problem etwa bei DAT-Cassetten gelöst werden soll, die mit ihren 2 Stunden
Spieldauer nur unwesentlich größer als eine Streichholzschachtel sind. Es darf nicht vergessen
werden, daß ein kommerzieller Tonträger immer ein Informationspaket darstellt, welches neben
der Musik auch graphisch-künstlerische, historische, biographische oder aufführungspraktischinterpretatorische Informationen enthält (oder doch enthalten sollte).
Sound Engineering als neue musikalische Kategorie
Abgesehen von diesen externen, „oberflächlichen“ Aspekten einer Schallplatten-Ästhetik bieten
Tonträger für den Produzenten wie den Interpreten musikalische Ausdruckmöglichkeiten, die über
bloße Ersatzfunktionen für fehlende Lebendigkeit hinausgehen. Voraussetzung ist auch hier, daß
man der Platte (ebenso wie dem Tonband) in ihrer Stellung als technischem Medium eine
ästhetisch eigenständige Existenz zubilligt (und sich dessen auch bewußt bleibt!).
Bezeichnenderweise scheiden sich gerade an diesem Punkt wieder die Geister:
Auf der einen Seite verfechten die Puristen den sozusagen platonischen Standpunkt einer
Orientierung am „Original“ und verlangen von der Technik vollkommen neutrale Klangtreue im
Sinne purer Linearität. Auf der anderen Seite stehen die experimentierfreudigen Praktiker, die sich
raffiniertester Methoden des sound engineering bedienen. Auch hier wäre es verfehlt, sogleich
„Betrug!“ zu rufen und derartige Experimente als unmusikalische Manipulationen pauschal zu
verdammen. Denn gerade hier haben sich neue Ansätze ergeben, die auf kreative Weise eine
Loslösung von bisherigen „Original“-Vorstellungen demonstrieren.
Die „Echtheit“ des Synthesizers
Wie sehr die Audiotechnik die Musik verändert hat, zeigt sich nirgendwo deutlicher als in den
verschiedenen Bereichen der aus Verlegenheit so genannten U-Musik 25. Hier hat vor allem der
Synthesizer völlig neue Produktionsmöglichkeiten eröffnet, die von den Musikern als
selbstverständlich empfunden werden. Auf dem Keyboard lassen sich die vielfältigsten Klänge
elektronisch erzeugen, die verschiedenen Aufnahmen auf Mehrspurmaschinen speichern und über
das Mischpult zu einem Musikstück „komponieren“. Dabei können raffinierte Mischungen aus
herkömmlichem (wenn auch elektronisch generiertem) Instrumentenklang und synthetischen
Sound-Effekten entstehen. Und all das kann ein einziger Mensch, der nicht einmal ein virtuoser
Musiker zu sein braucht, mithilfe der Mehrspurtechnik ganz allein gestalten, ohne auf andere
angewiesen zu sein. 26
Der kundige Hörer wird diese Musik als reines Technik-Produkt akzeptieren. Bestimmt macht er
sich keine Gedanken darüber, ob der Klang des Klaviers oder der Gitarre „echt“ ist - er weiß, daß
er im Synthesizer produziert wurde und wird sich kaum den „Mann am Klavier“ dabei vorstellen.
24
ZEITmagazin Nr.39 vom 22.9.1989
Bekanntlich ist die Unterscheidung zwischen U- und E-Musik auf die Praxis der
Verwertungsgesellschaften (AFMA,STAGMA, seit 1945: GEMA)zurückzuführen; es wurden
Unterscheidungskriterien für die ökonomische Bewertung bei der Verteilung von Tantiemen benötigt.
26
Zum neuesten Stand dieser Technologie, vor allem in Verbindung mit Computer und MIDI-Technik, vgl.
Peter BICKEL, Vom Musiker zum Musik-Operator? Musikmaschinen in der Pop-Musik, in: NZ 3/1990, S.3 ff.
25
6
Und ein Instrument wie die elektrische Gitarre beweist, daß durch die Technik ein altes Instrument
in ein neues, anderes umgewandelt werden soll und kann. Damit ist natürlich nichts über die
künstlerische Qualität der damit produzierten Musik gesagt. Nur darf diese Technikabhängigkeit,
die schon bei der Klangerzeugung einsetzt, nicht dazu verleiten, das Ganze als unmusikalisch
oder minderwertig abzuqualifizieren. Dies tut nur jemand, der sich von seinen eingefleischten
Vorstellungen vom „natürlich“ produzierten „Original“-Klang nicht freimachen kann.
Im Bereich der E-Musik ist auf die Entwicklung der Computermusik mit ihren verschiedenen
Varianten hinzuweisen. Auch hier sucht man, die Elektronik als autonomes kompositorisches und
klangliches Medium nutzbar zu machen. Die Grenzen zwischen Komposition und Aufführung,
Studio und Live, Komposition und Reproduktion beginnen sich zu verwischen. Vor allem ist diese
Musik frei von einer an herkömmliche Instrumente, mithin an die Vorstellung von einem
„natürlichen“ oder „Original“-Klang fixierten Interpretation. Technik und Musik bilden eine Einheit.
Meist handelt es sich um Lautsprechermusik - eine Entwicklung übrigens, die schon in den 20er
Jahren durch das Radio und seine besonderen medialen Anforderungen in Gang gesetzt wurde. 27
Die neue Freiheit des Bandschnitts
Einen Meilenstein auf dem Produktionssektor der E-Musik, der sogenannten „klassischen“ Musik,
bildete aufnahmetechnisch das Tonband, das Mitte der 30er Jahre von der BASF entwickelt,
Anfang der 40er Jahre vom deutschen Rundfunk (RRG) und ab Ende der 40er Jahre auch von den
internationalen Schallplattenfirmen zur Aufnahme eingesetzt wurde. Der Vorteil dieses neuen
Aufnahmeverfahrens bestand nicht nur in verbessertem Frequenz- und Dynamikumfang, sondern
vor allem darin, daß fehlerhafte Passagen herausgeschnitten und durch einwandfreie
Aufnahmeteile ersetzt werden konnten. Bis heute hat sich an diesem „Editing“ im Grundsatz nichts
geändert. Für den Techniker ist es eine große Hilfe, erspart es ihm doch, wie früher die gesamte
Aufnahme wiederholen zu müssen. Auch Interpreten profitieren davon, wiewohl sie vom
musikalischen Standpunkt her dieser „Flickwerk“-Technik eher skeptisch gegenüberstehen, siehe
KLEMPERERs Entrüstung über solchen „Schwindel“.
Nur wenige Künstler nutzen die Vorteile des Zusammensetzens einer Aufnahme aus einzelnen
„takes“ bewußt aus. Herausragendes und bekanntestes Beispiel ist der Pianist Glenn GOULD, der
sich 1964 bewußt aus dem Konzertbetrieb zurückzog, um sich der Arbeit im Studio zuzuwenden.
Sein langjähriger Produzent bei CBS Masterworks, Andrew KAZDIN 28, schildert eingehend die
konsequente Arbeitsweise GOULDs im Studio. Ähnlich wie Leopold STOKOWSKI war GOULD
ausgesprochen technikbegeistert und beschränkte seine Teilnahme keineswegs auf die
künstlerische Seite einer Produktion. So berichtet KAZDIN 29, daß GOULD bei einer technischen
Manipulation mit den Worten „Lassen Sie mal den Meister ran!“ intervenierte - was durchaus in
GOULDs Selbstbild gepaßt haben mag, schrieb er doch einige Artikel für die Zeitschrift High
Fidelity unter dem Pseudonym Dr. Herbert von Hochmeister!. Immerhin gesteht sein Produzent
ihm zu, daß seine Fähigkeiten beim Schneiden der Bänder professionelles Niveau hatten. 30
GOULD selbst berichtet in einem Essay über „Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung“ 31,
wie er mithilfe der Technik zu einer interpretatorisch befriedigenden Aufnahme der a-moll-Fuge
aus dem „Wohltemperierten Klavier“ (1.Teil) gekommen ist: Für die Veröffentlichung kamen Take 6
oder 8 in die engere Wahl. Nach vielem Hören und Vergleichen stellte Gould fest, daß jede dieser
Aufnahmen auf ihre Weise monoton war. Daher entschied sich der Pianist zu einer Montage beider
Versionen: Das „pompöse legato“ von Take 6 wurde für die Fugenexposition und die Reprise
verwendet, während der „mehr überschäumende Charakter“ von Take 8 (ein „übermütiges
staccato“) zur Auflockerung eingefügt und zur Verdeutlichung der episodischen Modulationen des
27
dazu: Radiophonische Musik, hrsg.v. Günther BATEL, Günter KLEINEN, Dieter SALBERT, (Beiträge zur
Gegenwartsmusik, Band I , Edition Moeck Nr. 4031, Celle 1985)
28
Andrew KAZDIN, Glenn Gould.Ein Porträt, Zürich 1990
29
KAZDIN, a.a.O., S.99
30
KAZDIN, a.a.O., S.66
31
in: Glenn GOULD. Vom Konzertsaal zum Tonstudio, hrsg.v. Tim PAGE, Piper, München-Zürich 1987,
S.129 ff.
7
Mittelteils verwendet wurde. GOULD gestand ein, daß ihm eine solche stilistische Diversität weder
im Studio noch im Konzertsaal in den Sinn gekommen wäre und die Lösung sich nur aufgrund der
technischen Produktionssituation im Studio ergeben konnte:
„Indem man sich den Nachgedanken beim Abhören einer Bandaufnahme zunutze macht,
kann man ... sehr oft die Grenzen überschreiten, welche die Aufführung der Imagination
auferlegt“. 32
Ein anderes, gleichermaßen technisch und interpretatorisch aufschlußreiches Beispiel für GOULDs
Studioarbeit:
Bei der Aufnahme von SIBELIUS-Klavierwerken wurden vier Spuren verwendet, deren Mikrophone
in verschiedenen Entfernungen aufgestellt waren. Beim Schneideprozeß wurde die Spur gewählt,
die zum Klangcharakter der jeweiligen Stelle am besten paßte: trockene Staccati also von Spur 1
(nahes Mikrophon mit Direktklang) und weiche Klänge von Spur 4 (weit entferntes Mikrophon mit
mehr Raumklang). Man nannte das Verfahren „akustische Orchestrierung“. 33
GOULDs technische Imagination ging so weit, daß er sogar dem Hörer die Vorteile der
Schneidetechnik empfahl:
„Nehmen wir zum Beispiel an, man findet Gefallen an Bruno Walters Ausführung der
Exposition und der Reprise aus dem 1.Satz von Beethovens Fünfter Sinfonie, neigt aber zu
Klemperers Behandlung des Durchführungsabschnitts. ... Indem man die Korrelation von
Geschwindigkeit und Tonhöhe in der Schwebe läßt, könnte man diese Takte aus der
Klemperer-Veröffentlichung herausschneiden und sie in die Walter-Aufführung einkleben.
... Es gibt in der Tat nichts, das einen Kenner, der sich seiner Sache ganz verschrieben hat,
daran hindern kann, als sein eigener Cutter zu agieren und mit diesen Kunstgriffen jene
interpretatorischen Vorlieben umzusetzen, die ihm erlauben werden, seine eigene
Idealaufführung zu schaffen“. 34
Stereo und „Sonic Stage“
Neben der Bandaufzeichnung brachte vor allem die Stereophonie gegen Ende der 50er Jahre eine
deutliche Verbesserung der Aufnahmequalität. Der Produzent der englischen DECCA, John
CULSHAW 35, nutzte die dadurch geschaffenen Möglichkeiten bewußt für die Erweiterung
musikalischer Ausdruckmöglichkeiten aus. Sein „sonic stage“-Verfahren hatte bei
Opernaufnahmen das Ziel, dem dramatischen Theatergestus auf der Schallplatte zur Geltung zu
bringen. Ein besonders eindrückliches Beispiel schildert CULSHAW im Erfahrungsbericht über
seine wohl bedeutendste Produktion, der ersten Stereo-Gesamteinspielung von Wagners „Ring
des Nibelungen“ unter der musikalischen Leitung von Georg SOLTI. Zu Beginn des 2. Aktes der
„Götterdämmerung“ gibt es eine Begegnung zwischen Hagen und Alberich, an deren Ende
Wagner folgende Regieanweisung gibt: „Von hier ab bedeckt ein immer finsterer werdender
Schatten Alberich. Wie seine Gestalt immer mehr dem Blicke entschwindet, wird auch seine
Stimme immer unvernehmbarer.“
Es handelt sich also offensichtlich um keine reale Begegnung, sondern um ein auf die Bühne
projiziertes Traumbild. Richard Wagner als klangtechnischer Visonär? So hat es CULSHAW
gesehen, den Meister beim Wort genommen und mittels Überblendungseffekten diesen
Traumcharakter akustisch überzeugend dargestellt. Auf der Bühne wäre dies nicht möglich. Erst
die Technik vermag die psychologischen Feinheiten der Wagnerschen Konzeption klanglich zum
Ausdruck zu bringen.
32
GOULD, a.a.O., S. 140
GOULD, a.a.O., S.141/142
34
GOULD, a.a.O., S.152/153
35
Reflections on Wagner's Ring, London 1976
33
8
Ein anderes Beispiel aus dieser wahrhaft historischen Produktion CULSHAW's: In der TarnhelmSzene aus dem 1. Aufzug der Götterdämmerung soll Siegfried Brünnhilde „mit verstellter Stimme“
anreden. Dies wird durch eine rein technisch bewirkte Veränderung der Tenorstimme Wolfgang
Windgassens in Richtung auf eine Baritonstruktur erreicht: das Mikrophon als musikalischer
Tarnhelm, eine sinnvolle Übersetzung szenischer Vorgaben in Klang.
Wie „live“ sind Konzertmitschnitte?
Ein unbestreitbar positiver Aspekt der Bandaufzeichnung ist die Möglichkeit, eine Aufführung im
Konzertsaal direkt mitzuschneiden. Hier ist selbst Maestro CELIBIDACHE gnädiger in seinem
Verdikt. Ein Live-Mitschnitt ist für ihn zwar „auch schlecht“, aber immerhin:
„Er hat vielleicht den einzigen Wert, daß er eine Art Fotografie vom Verlauf der Dinge
zeigt.“ 36
Schon als ein solcherart historisches Dokument wären Konzertmitschnitte von unschätzbarem
Wert. Sie vermitteln mehr als nur nostalgische Erinnerung an oder Reportage-artige Information
über besondere Ereignisse (Eröffnungsvorstellung der Wiener Staatsoper nach dem Krieg,
TOSCANINIs letztes Konzert). Die auf Band festgehaltenen Sternstunden großer Musiker bilden
so etwas wie Eckdaten interpretationsgeschichtlicher Information. An ihnen lassen sich Stand und
Entwicklung der aktuellen Musikkultur ablesen. Wer etwa die Routine und Perfektion heutiger
Klavier-Recitals als interpretatorischen Standard hinnimmt und akzeptiert, wird verunsichert
aufhorchen, wenn er sich mit den ungeheuren Freiheiten konfrontiert, die ein Virtuose vom Range
Josef HOFMANNs sich in den 30er und 40er Jahren noch nahm - die Freiheit zu Fehlern
inbegriffen! Eine letzte lebendige Ahnung davon gaben vielleicht die späten HOROWITZ-Konzerte
der 80er Jahre - auch sie inzwischen historisch gewordene Dokumente.
Abgesehen von ihrem historischen Informationswert sind Konzertmitschnitte auch musikalisch
meistens getreuere Abbilder der Kunst eines Interpreten. Nur wenige Musiker konnten, bzw.
wollten so wie Glenn GOULD ihre Vorstellungen im Studio verwirklichen. Den meisten war und ist
dies eine fremde Welt, manche betraten das Studio eigentlich nur zum Geldverdienen. Mit den
technischen Arbeitsbedingungen konnte sich ein Mann wie Otto KLEMPERER nie recht abfinden.
Auf die Frage, ob er gerne Schallplattenaufnahmen mache, erwiderte er:
„Nein, ich hasse das. Ich mache ganz gerne eine Aufnahme vor einer Konzertaufführung,
weil ich dann Zeit habe, das Werk richtig vorzubereiten. Aber ich hasse das ewige Gerenne
in den Kontrollraum, um abzuhören, was ich aufgenommen habe.“ 37
Kein Wunder, daß die konzertierenden Musiker, wenn sie gefragt würden, wohl in der
überwiegenden Mehrzahl der Live-Aufzeichnung einer Studioproduktion den Vorzug gäben. Auch
die Plattenkonzerne haben dies in jüngster Zeit erkannt und dem Bedürfnis ihrer Künstler nach
Konzertpublikum Rechnung getragen. Man fand dabei einen Kompromiß zwischen dem
Sicherheits- und Perfektionswunsch der Techniker und dem Bestreben des Künstlers nach freier
Entfaltung ohne Rücksichtnahmen auf technische Zwänge: dasselbe Werk wird in mehreren
Konzerten gespielt und jedesmal aufgezeichnet 38. Aus den verschiedenen Mitschnitten wird das
Mastertape zusammengestellt. Alfred BRENDEL berichtet über seine Erfahrungen bei der
Einspielung der fünf Beethoven-Klavierkonzerte im Rahmen mehrerer Konzertserien mit dem
Chicago Symphony Orchestra unter James LEVINE :
36
zitiert nach FISCHER/HOLLAND/RZEHULKA, a.a.O., S.133
Peter HEYWORTH, Gespräche mit Klemperer, a.a.O., S.184
38
Von einer ähnlichen „Art Live-Mitschnitt“ berichtet Claudio ARRAU, als er das Es-dur-Konzert von Liszt mit
dem Philadelphia Orchestra unter Eugene ORMANDY einspielte: „Wir hatten es eine ganze Woche
zusammen gespielt, und dann wurde es aufgenommen, in einem Zug. Es gelang; wir waren beide zufrieden,
und es konnte so herausgebracht werden. Aber so etwas gelingt nur sehr selten.“ Grundsätzlich zieht Arrau
die Studioaufnahme vor. Die Schallplatte hat für ihn „den Sinn eines Dokumentes, einer Festlegung“ (Jürgen
MEYER-JOSTEN, Musiker im Gespräch. Claudio Arrau. Henry Litolff's Verlag/C.F.Peters, Frankfurt/New
York/London 1980, S.10)
37
9
„Für mich ist da ... der hohe Reiz überlisteter Einmaligkeit. ... Die Vertrautheit aller
Beteiligten war der Sicherheitsfaktor, der das Risiko dieser Live-Produktion
ausnahmsweise kalkulierbar machte. Es wäre dennoch, schon aus aufnahmetechnischen
Gründen, höchst unklug, ja geradezu tollkühn gewesen, sich auf den Seiltanz einer
einzigen Serie von Aufführungen zu verlassen. Das Vorhandensein von zwei Durchgängen
gab die Möglichkeit, Qualitäten des Konzerts mit denen des Studios zu verbinden; die
Frische des Moments mit dem Vorteil, auswählen zu können. Ich gebe kein Geheimnis
preis, wenn ich ausspreche, daß Live-Produktionen fast stets in dieser Weise operieren
und eine Synthese oder einen Kompromiß beider Welten anstreben.“ 39
Bei dieser Art von „Pseudo-Live“ hat RZEHULKA eine „künstlich geschaffene Überrealität des
Musizierens“ konstatiert. Das muß kein Fehler sein, wenn solche Art von neuer „Realität“ nur als
neue Möglichkeit begriffen wird, die uns die moderne Aufnahmetechnik ermöglicht. Das sollten
nicht zuletzt die PR-Abteilungen der Schallplattenkonzerne bedenken und gerade diese durch die
Technik gebotene neue Qualität des Mediums betonen, also abrücken von der bislang üblichen
Formel vom Konzertsaal im Wohnzimmer. Einen technikgewohnten, bewußten Hörer kann man in
diese „Identitätsfalle“ nicht mehr locken. Und bei der jungen Generation zieht das Argument schon
lange nicht mehr.
Eine Ästhetik des HiFi-Hörens?
Gerade die Zwitterstellung der oben beschriebenen „Pseudo-Live“-Aufnahmen - einerseits
„abfotografierte“ Konzert-Realität, andererseits auf Perfektion hin geplante Audio-Produktion - zeigt
die Notwendigkeit eines neuen, adäquaten Umgangs mit Tonaufzeichnungen 40. Letztendlich
müßte es so etwas wie eine Ästhetik des HiFi-Hörens geben, die uns Hinweise gäbe, Schallplatte
oder Tonband musikalisch sinnvoll zu nutzen. Einige Aspekte, die vornehmlich die
Produzentenebene betreffen, klangen bereits an.
Beim Versuch, die verschiedenen Kriterien zusammenzufassen, zeigt sich, daß es auch für den
Hörer immer wieder darum geht, technische Aspekte in die „rein musikalischen“
Wahrnehmungsmuster einzubinden. Darin liegt die einzige Möglichkeit, der durch die HiFi-Technik
geschaffenen und stets raffinierter ausgestalteten „Identitätsfalle“ zu entgehen. Was nicht heißen
soll, daß Platte oder Band n u r als Medium, gewissermaßen als technische Krücke, gehört
werden könnten: Eine Platte ist durchaus auch eine Illusions-Maschine, und es wäre falsch, diese
Illusion einer Reproduktion vergangener Ereignisse zu leugnen. Nur: Es handelt sich um eine
lediglich gebrochene Illusion, genauso wie jede noch so lebhaft wachgerufene Erinnerung immer
nur Erinnerung bleibt und nicht neue Realität werden kann - jedenfalls nicht im Sinn einer identisch
duplizierten Wirklichkeit.
Vor dem Hintergrund dieses Grundwiderspruchs sei der Versuch unternommen, konkreten
Aspekten einer Ästhetik des HiFi-Hörens nachzuspüren.
HiFi als Hör-Medium
Schon der äußere Rahmen des Plattenhörens gibt Anlaß zu Überlegungen. Diese müssen
durchaus nicht immer in die bekannte negative Richtung gehen (Stichwort „regressives Hören“), so
berechtigt solche Kritik auch sein mag. Bedenken wir einige positive Aspekte, die sich daraus
ergeben, daß das Wohnzimmer eben gerade nicht der Konzertsaal ist:
39
DIE ZEIT vom 20.1.1984
Schon vor 20 Jahren (musica 1970, S.291/292) hat Nikolaus HARNONCOURT erkannt, daß die
Schallplatte „ein besonderes Musizieren und nicht zuletzt ein besonderes Hören erfordert, ja es geradezu
erzwingt“! - Und Peter GÜLKE (Musik und Gesellschaft 4 (1973) S.218-225) konstatierte mit Recht: „Zu der
kaum überschätzbaren Rolle, die die Produktion und das Hören von Schallplatten heute spielen, stehen
Mängel und Verzögerungen im ästhetischen Verständnis des technischen Mediums in einem eigentümlichen
Missverhältnis“.
40
10
Der Hörer kann sich auf Platte die Musik dann anhören, wann er dazu wirklich bereit ist. Und er
kann sich das Stück auswählen, das ihn gerade interessiert. Beim Hören ist er nicht an einen
engen Sitzplatz gefesselt, eingezwängt zwischen Mitmenschen, die ihn durch ihre Unruhe, ihren
Schnupfen oder ihren Mundgeruch zu konzentriertem Hören nicht gerade stimulieren. Und er kann,
ohne einen Skandal auszulösen, beim Hören seinen Emotionen durch Zuruf oder Ablehnung
beredten Ausdruck verleihen. (Wie anders war er es doch noch in der ersten Hälfte des letzten
Jahrhunderts, als ein Konzert mehr vom Charakter eines Gesellschaftsabends hatte als dem eines
Weihe-Festes und man sich über die gehörte Musik wirklich strittig auseinandersetzen konnte!). So
gesehen verschafft die Platte dem Hörer eine neue Freiheit bzw. gibt ihm verlorene Freiheiten
wieder.
„Und wo bleibt das Besondere, die Aura des Konzerterlebens?“ wird man fragen. In der Tat, diese
Aura scheint verloren zu sein 41. Doch sei die Gegenfrage erlaubt: Ist das denn so schlimm?
Natürlich kann nichts über den lebendigen Augenblickseindruck gehen. Aber wenn man nun
einmal nicht das Glück oder das Geld hat, die großen Konzertereignisse mitzuerleben, ist es doch
wohl ein akzeptabler Kompromiß, wenigstens die Aufzeichnung am Lautsprecher nacherleben zu
können. Und bei herausragenden Interpretationen kann es durchaus vorkommen, daß auch etwas
von der „Aura“ des Konzerterlebens mit überspringt:
„Warum beeindrucken uns die alten, akustisch oft miserablen Mitschnitte von großen
Aufführungen auch heute noch so sehr, obwohl wir doch an Ort und Stelle nicht dabei
waren: weil sich die geistige Substanz der Interpretation auch über den Lautsprecher
mitteilt. Und nur darum geht es.“ 42
"
HiFi als Lern-Medium
Schallplatte, Tonband und Cassette sind für uns seit langem zur Selbstverständlichkeit geworden.
Wir machen uns viel zu wenig bewußt, in welch ungeheurem Maß die Audio-Medien zur
Erweiterung unseres Wissenshorizontes beigetragen haben. Auch ohne gesicherte statistische
Daten läßt sich wohl zu Recht vermuten, daß ein gebildeter Schallplattenhörer heute mühelos so
viele Werke kennenlernen kann wie ein aktiver Musiker des letzten Jahrhunderts. Abgesehen vom
Konzert, das heute wie damals wohl eine ähnliche Rolle spielt (jedenfalls quantitativ) bestand für
den Musikfreund des 19. Jahrhunderts die einzige Möglichkeit, neue Werke kennenzulernen, darin,
sie selber zu spielen. Orchesterwerke wurden zu diesem Zweck in großem Umfang für Klavier
gesetzt. Das heute ganz aus der Übung gekommene vierhändige Klavierspielen war damals eine
Notwendigkeit, um größere Werke kennenzulernen, erfüllte also den gleichen Zweck wie heute
gezieltes Plattenhören mit Partitur.
Tonträger werden allgemein als „Unterhaltungs“-Medien gesehen. Darauf gründet zwar ihr
ökonomischer Erfolg, doch sind sie damit bei weitem unterbewertet. Daß vor allem die Schallplatte
auch ein Bildungsmedium sein kann, wird zwar durchaus gesagt, aber in der Regel nur in
Festreden oder Hochglanzbroschüren unter Berufung auf ihre Eigenschaft als „Kulturträger“ - was
immer das auch sein mag. Dabei könnte gerade die Schallplatte im Bildungswesen viel besser und
gezielter eingesetzt werden. Es gibt sicher kein Medium, das zusammen mit der Partitur in ähnlich
umfassender, unmittelbarer Weise die Kenntnis musikalischer Werke vermitteln kann. Und das
keineswegs nur im Wege einer unverbindlichen „Unterhaltung“; denn dank der steten Verfügbarkeit
der musikalischen Information besteht die Möglichkeit zu einem vertieften, gezielten Eindringen in
die Materie. Werkanalyse kann hörbar gemacht, kompositorische Gestaltung nachvollzogen
werden. Der Musikwissenschaft, aber auch der musikalischen Praxis bieten sich didaktische
Möglichkeiten, die bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Einige Beispiele:
41
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, zuletzt veröffentlicht in edition
suhrkamp 28, 1963 (1977)
42
Attila CSAMPAI: „Magie des Hörens“, in: nmz 12/88, S. 64
11
-
Ein Dirigent, der sich mit Problemen von Strichen in Sinfonien oder Opern
auseinandersetzt, kann seine Ideen durch Überspielung auf Band (gegebenenfalls durch
Herausschneiden der fraglichen Passagen) und durch direkten Vergleich mit der
ungekürzten Platte praktisch erproben. Beim Stand der heutigen Technik braucht man
dafür kein professionelles Tonstudio mehr.
-
Strukturell oder thematisch miteinander zusammenhängende Stellen - etwa in Exposition
und Reprise oder in verschiedenen Sätzen - lassen sich durch Überspielen auf mehrere
Tonbandspuren (2 x Mono oder 2 x Stereo) im direkten A/B-Hörvergleich analysieren.
-
Auch ohne Überspielung auf Band läßt sich ein Werk in seinen Themen, Überleitungen,
Durchführungen und strukturellen Bezügen hörbar nachvollziehen. Ausreichend exakte
Möglichkeiten bietet hier bereits die CD: Dank Echtzeit-Codierung lassen sich mit so gut
wie jedem Player bestimmte Stellen gezielt aufsuchen. Man muß sich beispielsweise nur
notieren, daß die Reprise bei 10:32 einsetzt und kann dann diese Stelle mit dem Suchlauf
schnell und exakt auffinden, Komfortablere Geräte bieten die Möglichkeit des
vorprogrammierten Abspielens, also einer Wahl der Abspielreihenfolge der einzelnen
Stücke. Wirklich kreativ kann diese Möglichkeiten nutzen, wer ein digitales Cassettengerät
(DAT) besitzt; damit lassen sich ganz individuelle Sub-Codes an jeder beliebigen Stelle
(auch mitten in einem Satz) fixieren, auf die man dann per Knopfdruck zusteuern kann.
Didaktisch werden all diese „features“ in dem einen oder anderen privaten Seminar für klassische
Musik genutzt. Daß Musikhochschulen oder musikwissenschaftliche Institute auf dem gleichen
Stand sind, sei generell bezweifelt. Oftmals sind ihre Plattenarchive magerer bestückt als viele
private Sammlungen. Die Musikwissenschaft ist eben immer noch weitgehend
Partiturwissenschaft. Den Weg zur Klangwissenschaft scheint sie selbst im didaktischen Bereich
noch nicht gefunden zu haben. 43
HiFi als Medium zur Interpretationsanalyse
Ein Musikwerk kann man allein mit der Partitur kennenlernen, eine Interpretation läßt sich nur
hörend beurteilen. Hier haben Tonträger eine unersetzbare Funktion.
Die Schallplattengeschichte zeigt, daß es meist die Kunst des Interpreten war, die festgehalten
werden sollte. Mit Schallplatte und Tonband haben wir erstmals die Möglichkeit einer
umfassenden, gezielten Interpretationsanalyse anhand nachprüfbarer Kriterien.
Im 19. Jahrhundert und noch bis in die 30er Jahre unseres Jahrhunderts beruhte eine
Interpretationsbewertung von den äußeren Bedingungen her mehr oder weniger auf Zufall. Man
stelle sich vor: Wann hatte ein Konzertbesucher schon die Gelegenheit, kurz hintereinander zwei
bedeutende Interpreten zu hören, und dazu noch mit sich überschneidenden Programmen? Ein
vergleichendes Urteil mußte zwangsläufig extrem subjektiv ausfallen. Entscheidend war letztlich
wohl der allgemeine Gesamteindruck, einschließlich solcher Imponderabilien wie dem
augenblicklichen Wohlbefinden von Hörer und/oder Interpret. Man mußte schon im Berlin der 20er
Jahre gelebt haben, um beispielsweise Arrau, Backhaus, Cortot, Horowitz, Kempff, Rubinstein
oder Casals, Feuermann und Piatigorsky in einer Saison zu hören. Oder die gleiche BrucknerSinfonie von Furtwängler und Klemperer, den beiden Antipoden unter den Dirigenten des
damaligen Berlin. Selbst im günstigsten Fall aber gab es immer eine Zeitdifferenz, mag sie auch
nur wenige Tage betragen haben. Diese Zeitdifferenz zu überbrücken ist allein mit Schallplatte
oder Tonband möglich. Aufgrund der ständigen Verfügbarkeit besteht obendrein die Gelegenheit,
sich auf bestimmte Passagen zu konzentrieren und diese vergleichend zu wiederholen, was durch
die oben beschriebenen technischen Vervollkommnungen digitaler Abspielgeräte ebenso einfach
wie perfekt realisiert werden kann.
43
vgl. Martin ELSTE, a.a.O. (oben Anm. 23)
12
Freilich bleibt die Unwägbarkeit, daß die zum Vergleich ausgewählten Interpretationen nicht
unbedingt die Referenzaufnahmen des betreffenden Künstlers sind. Doch auch hier helfen
Tonträger, denn von vielen Künstlern gibt es weit mehr - und oft durchaus interessantere Aufnahmen, als es der aktuelle Plattenkatalog vermuten läßt. Allein das Material der
Rundfunkarchive gäbe Veranlassung, das Interpretationsprofil eines Musikers, gewissermaßen
seine klingende Biographie, hörend neu zu erforschen 44. Aus der Summe solcher Einzelvergleiche
sollte sich dann auch methodisch so etwas wie eine nach sachlichen Kriterien fundierte
Interpretationsanalyse herausschälen, ein notwendiges Pendant zu einer ebenso notwendigen
Werkanalyse 45. Auch hier also böte die Audio-Technik wissenschaftliche
Innovationsmöglichkeiten, von denen schließlich auch die Praxis - Interpret wie Plattenproduzent profitieren könnte.
Es sei nicht verkannt, daß die permanente und mannigfaltige Präsenz von Platte und Band die
Interpreten in eine schwierige Lage gebracht hat. Sie sind praktisch auf allen Seiten von
Konkurrenten umzingelt: von ihren konzertierenden Kollegen ebenso wie den Großen der
Vergangenheit - und nicht zuletzt von den Maßstäben, die sie selbst in ihren Aufnahmen gesetzt
haben und denen sie gerecht werden müssen. Oft kommt der Hörer bereits durch die Schallplatte
präformiert ins Konzert und sein höchstes Lob besteht in der Feststellung, der Künstler habe so
gut wie auf der Platte gespielt 46. Dies mag ein Mißstand sein, der obendrein vielleicht eine der
Ursachen für den oft beklagten routinemäßigen Perfektionismus des heutigen Konzertlebens 47 ist,
es ändert nichts daran, daß es sich beim erdrückenden Einfluß des Medien-Standards um eine
Realität handelt, der nicht durch Verdrängung auszuweichen ist, sondern aus der ein Ausweg
gefunden werden muß. Vielleicht kann auch hier gerade die Technik (die ja „an allem schuld“ ist)
einen hilfreichen Wink geben:
Wer oft historische Aufnahmen hört, wird überrascht sein über die geradezu erschreckend
spontanen Freiheiten, die sich Künstler damals selbst vor dem Studio-Mikrophon erlaubten.
Spieltechnische Perfektion schien zweitrangig zu sein. Alfred CORTOT beispielsweise spielte
Hunderte von Platten ein mit Tausenden von kleinen (und großen!) „Patzern“ und galt doch als
einer der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit. Und kein musikverständiger Hörer wird sich der
Faszination von Josef HOFMANNs Konzerten aus den 30er Jahren entziehen können - trotz ihrer
klangtechnischen Unvollkommenheiten und manchmal geradezu riskanten interpretatorischen
Freiheiten. Aber wer kennt heute - trotz Platte, Band und Radio! - schon Josef HOFMANN? (Im
Bereich der Orchestermusik hat die Hinwendung zu historischer Aufführungspraxis in einem
gewissen Sinn durchaus zu einer Befreiung vom Perfektionszwang geführt: Falsche Noten etwa
der Naturhörner werden vom Publikum wissend und tolerant in Kauf genommen, einem Publikum
übrigens, das, seinerseits historischer Konzertpraxis folgend, spontaner seine Reaktion zeigt und
auch zwischen den einzelnen Sätzen applaudiert. Kein Wunder, daß auch hier die Live-Mitschnitte
fast durchweg überzeugender ausfallen als die kommerziellen Studioproduktionen).
Sound Engineering: HiFi als Klang-Medium
Seltsamerweise hat ausgerechnet die CD zu einer unerwarteten Renaissance gerade historischer
Aufnahmen geführt 48. Interpretationsgeschichte läßt sich hörbar nachvollziehen, die wichtigsten
Aufnahmen (fast) aller großen Sänger, Dirigenten und Instrumentalisten unseres Jahrhunderts sind
zugänglich, ohne daß man zum Schellack-Sammler werden muß.
44
vgl. Harald HECKMANN, Schallaufzeichnungen als musikgeschichtliche Quellen, FAM 27 (1980), S. 5-12
Grundlegend Helmut HAACK, Die Bedeutung der historischen Schallaufnahmen für die
Musikwissenschaft, ÖMZ 1975, S. 148 ff., 234 ff.
46
Auf dieses Phänomen der Fixierung auf eine bestimmte Interpretation durch „Präformierung“ des
Plattenhörers hat meines Wissens zuerst Joachim KAISER aufmerksam gemacht: vgl. Große Pianisten in
unserer Zeit, Gütersloh o.J. (Stand: Juni 1965), S. 32
47
Bezüglich Orchesteraufführungen vgl. neuerdings Martin ELSTE, Die musikalische Megamaschine, in:
FonoForum 3/1990, S. 24/25
48
Noch in den 60er Jahren war das anders: Aufnahmen von Furtwängler, Bruno Walter oder Edwin Fischer
interessierten nur die ältere Generation. Heinrich SIEVERS (NZ 9 (1966), S. 366, formulierte es drastisch:
„Auch konservierter Klang zerfällt in Verwesung“.
45
13
Diese Rückwendung liegt sicher im nach wie vor ungebrochenen Nostalgietrend, der Grund für
diese Rückbesinnung läßt sich aber auch den faszinierenden Möglichkeiten der Digitaltechnik
finden. Hier haben Pop- und Disco-Musik eine - durchaus ungewollte - Vorreiterrolle gespielt. Daß
dort der Technik-Einsatz für die musikalische Produktion unabdingbar ist, wurde schon dargestellt.
Ein Teil dieser Technik läßt sich mit oft überraschenden Ergebnissen bei alten Aufnahmen auch
auf der Hörer-Seite einsetzen; einige der im Pop-Bereich entwickelten und perfektionierten EffektGeräte haben sich als sinnvolle Hilfsmittel beim Hören historischer Aufnahmen erwiesen:
Equalizer dienen dazu, bestimmte Frequenzbereiche anzuheben oder abzusenken. Eine Korrektur
der Frequenzgänge ist angezeigt, wenn eine Aufnahme - wie fast immer im historischen Bereich bestimmte Frequenzen überbetont, andere unterdrückt oder ausgesprochene Störfrequenzen
aufweist. So läßt sich beispielsweise das auf Band festgehaltene Netzbrummen der
Aufnahmegeräte leicht eliminieren, indem der entsprechende Frequenzbereich (ca. 60 Hz)
herausgefiltert wird. Gleiches gilt für dröhnende Eigenresonanzen im mittleren Tiefenbereich (300600 Hz), welche die Klangbalance vor allem einer Orchesteraufnahme empfindlich stören können.
Hörner und Celli beispielsweise erhalten ein unangemessenes Übergewicht, wichtige Stimmen im
angrenzenden Oberbereich, bei Holzbläsern oder Bratschen etwa, gehen unter. Der sinnvolle (und
vorsichtige!) Einsatz eines Equalizers führt auf diese Weise zwangsläufig auch zu einer
musikalischen Auseinandersetzung mit Werk und Interpretation, ist also durchaus mehr als nur
technische Spielerei.
Gleiches gilt für Geräte, die psychoakustische Phänomene ausnutzen und einer dumpfen MonoAufnahme Klangfarbe, Dynamik und räumliche Tiefe verleihen. Dies geschieht entweder durch
eine gezielt gesteuerte Korrektur im Verhältnis hoher und tiefer Frequenzanteile eines Klanges,
z.B. mittels sogenannter Exciter, die künstlich Obertöne generieren, durch Erweiterung des
Dynamikumfangs zwischen lauten und leisen Stellen mittels Dynamik-Expandern oder durch
unterschiedliche Beeinflussung der beiden Stereokanäle, z.B. mittels unterschiedlicher
Frequenzzuweisungen per Equalizer und/oder minimaler Zeitverzögerungen zwischen rechts und
links (time delay).
Bereits in den 60er Jahren hatte man versucht, mit ähnlichen Mitteln alten Monoaufnahmen einen
Stereoeffekt zu verleihen, ist dabei aber zu weit gegangen; der Klangeindruck wurde absolut
künstlich. Das spricht indes nicht gegen die prinzipielle Richtigkeit des Ansatzes. Daß es sich
damals um mehr handelte als um bloße Klangspielerei, mag die Tatsache zeigen, daß kein
Geringerer als Hermann SCHERCHEN, einer der wenigen großen Musiker mit lebendigem Bezug
zur Technik, einen „Stereophoner“ konstruierte und sich dieses Gerät auch patentieren ließ 49. In
der Patentschrift 50 heißt es:
„Es hat allerdings nicht an Versuchen gefehlt, auch bei nur einkanaliger Übertragung oder
Speicherung räumliche Wiedergabeeigenschaften zu erzielen. Diese unter der
Bezeichnung Pseudostereophonie bekannt gewordenen elektroakustischen Wiedergaben
haben aber den Nachteil, daß sich nur die Illusion einer undeutlichen Staffelung der
Schallquellen nach der Tiefe vermitteln läßt, eine Lokalisierung der übertragenen
Schallquellen nach den Seiten ist dabei nicht möglich.
...Bei der Einrichtung nach der Erfindung (d.h. beim Stereophoner, W.U.) wird eine der
Erfahrungswirklichkeit im Konzertsaal sehr angenäherte Klangwirkung erzielt. Gemäß der
natürlichen Aufstellung eines Orchesters werden von links nach rechts die Höhen zu den
Tiefen wiedergegeben, etwa von links beginnend die ersten Geigen, Bratschen, Violoncelli
bis zu den Kontrabässen. Diese Klangfläche hat eine ausgeprägte Vordergrundpräsenz,
dahinter folgen, sozusagen auf einer zweiten Klangfläche, Flöten bis Fagott und weiter in
der Tiefe des Raumes die Blechbläser und das Schlagzeug. Es entsteht akustisch einmal
eine deutlich erkennbare Aufteilung von links nach rechts und ausserdem eine
Tiefenaufgliederung der verschiedenen Schallquellen.“
49
Kürzlich wurde ein solches Gerät, das nach Scherchens Tod und der Auflösung seines
Experimentalstudios in Gravesano als verschollen galt, vom Hermann-Scherchen-Verein (CH-4143 Dornach
2) wieder aufgefunden.
50
vom 4.8.1958 -Az: Sch 24153 VIIIa/21a2-
14
Heute wird vor allem versucht, mit digital erzeugtem Hall den alten Aufnahmen neues Leben
einzugeben. Leider geschieht hier des Guten zuviel. Zwar gibt es mittlerweile die raffiniertesten
Geräte, mit denen man die Akustik selbst bestimmter Konzertsäle simulieren kann, doch darf nicht
vergessen werden, daß die meisten Aufnahmen bereits einen natürlichen Hallanteil besitzen.
Zusätzlicher Hall führt hier oft zu Verfälschungen. Doch bei akustischen Aufnahmen etwa, bei
denen der Trichter nur die stärksten und direktesten Impulse an die Nadel verstärkend
weitergeben konnte, vermag eine vorsichtige Zufügung von Hall das Timbre einer Stimme deutlich
besser zur Geltung zu bringen.
Ein anderes Beispiel: Die Geigerin Jenny ABEL hat die Bachsche Partita Nr.2 für Violine solo in
d-moll (BWV 1004) aufgeführt. Das Konzert in der Karmeliten-Klosterkirche Springiersbach vom
16.9.1984 wurde mitgeschnitten und auf LP veröffentlicht 51. Bei der Aufnahme wurde auf
ausdrücklichen Wunsch der Künstlerin der volle natürliche Hall des Kirchenraums mit erfaßt. Der
Hörer gewinnt den Eindruck, daß auch in der Komposition selbst, ihren Melodiebögen und
Phrasierungen dieses räumliche Element innewohnt.
Dasselbe Werk hatte Nathan MILSTEIN im November 1956 in einem absolut trockenen Studio der
EMI aufgenommen 52. Hier hätte der Hörer von heute die Möglichkeit, durch Zumischung von Hall
sich „seine“ Interpretation so zu gestalten, daß der raumbezogene Charakter der Musik zum
Ausdruck kommen könnte.
Das Beispiel mag bedenklich sein. Sicher wäre es unverantwortlich, eine derart bearbeitete
Fassung kurzerhand als MILSTEINS Interpretation auszugeben. Auf der Produzentenseite sind
solche technischen Manipulationen daher prinzipiell abzulehnen, es sei denn, der Künstler hat
ausdrücklich eingewilligt, oder die technischen Effekte -siehe CULSHAW's sonic stage-Verfahrensind Teil des musikalisch-künstlerischen Konzepts. Am besten wäre es also, der Hörer bekäme auf
seiner Platte eine völlig unbearbeitete 1:1-Überspielung des Masterbandes 53. Danach aber ist es
seine Sache, was er damit macht. Ihm müssen alle Gestaltungsfreiheiten zugestanden werden.
Auch klangtechnische Experimente gehören m.E. zur Ästhetik des Plattenhörens und können ein
kreatives Mittel in der Auseinandersetzung mit Werk und Interpretation sein. Dies wird nur der
entrüstet ablehnen, der in der Schallplatte ein heiliges, unantastbares Dokument sieht 54 und nicht
einen Tonträger, der nur den Wert haben kann, den ihm sein Benutzer gibt. Oder, um es noch
einmal mit Otto KLEMPERER zu sagen: „Schließlich ist 'ne Platte 'ne Platte“. - Immerhin!
51
EDITION PODIUM WOW-003
EMI Electrola C 187-81 814/15
53
So beispielsweise EMI bei Überspielung ihrer Aufnahmen aus der Schellack-Zeit im Rahmen der
Références-Serie. Keith HARDWICK, der bisherige Toningenieur, erhielt für diese Arbeit 1989 den
englischen Schallplattenpreis.
54
Für bedenklich halte ich die Meinung Peter COSSÉs, der die Problematik historischer Konzertmitschnitte
darin sieht, daß sie „nicht für die Nachwelt und schon gar nicht für die Ewigkeit bestimmt“ waren (NZZ vom
10./11.3.1990).
52
15
Herunterladen