Philosophische Fakultät Institut fürfür Philosophie, Lehrstuhl fürfür Theoretische Philosophie, Holm Bräuer M.A. Philosophische Fakultät Institut Philosophie, Lehrstuhl Theoretische Philosophie, Holm Bräuer M.A. 3. Erkenntnistheorie Wissen Der Begriff des Wissens ist der Grundbegriff der Erkenntnistheorie. Auch dieser Begriff ist (wie der der Bedeutung) mehrdeutig: Wissen praktisches Wissen (knowing how) propositionales Wissen (knowing that) Wissen, wie etwas ist (knowing how it is) Fähigkeiten, Fertigkeiten theoretisch, Erkenntnisse Sinnesqualitäten, Eindrücke Erkenntnistheorie SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Philosophie des Geistes Folie 215 1 Wissen Praktisches Wissen (Wissen, wie) Albert weiß, wie man Posaune spielt. Hans und Maria wissen, wie man Fahrrad fährt. Helena weiß, wie man Rührei macht. • Praktisches Wissen besteht in einer praktischen Fertigkeit oder einem Können. • Es besitzt keinen „Inhalt“, d.h. es ist kein Wissen, dass sich etwas so-und-so verhält. • Wer weiß, wie man Fahrrad fährt, kann dieses Wissen nicht sprachlich ausdrücken, sondern eher dadurch, dass er Fahrrad fährt. • Dieser Typ von Wissen ist nicht Thema der Erkenntnistheorie. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 216 Wissen Propositionales Wissen (Wissen, dass) Der Detektiv weiß, dass der Gärtner der Mörder ist. Maria wusste gestern nicht, dass heute schönes Wetter ist. Jetzt weiß sie es. Ich weiß, dass ich zwei Hände habe. Zuschreibungen des Wissens haben die folgende Form: S weiß, dass p. wobei „S“ für eine bestimmte Person (oder irgendeinem Subjekt des Wissens) steht und „p“ für einen propositionalen Gehalt (den Inhalt des Satzes „Der Mörder ist der Gärtner.“ oder „Ich habe zwei Hände.“ usw.) • Theoretisches Wissen ist immer ein Wissen, dass einen Inhalt hat. Man weiß, dass sich etwas so-und-so verhält. • Der Gegenstand der Erkenntnistheorie ist das propositionale Wissen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 217 2 Wissen Wissen, wie etwas ist Albert weiß nicht, wie eine Kiwi schmeckt. Johanna weiß, wie es ist, wenn man einen Sonnenbrand hat. Gegen die Gleichsetzung des „Wissens, wie etwas ist“ mit dem propositionalen Wissen sprechen zwei Argumente. (1) Auf die Frage „Wie ist es denn, eine Kiwi zu essen?“ gibt es keine befriedigende Antwort, die es Albert erübrigen würde, eine Kiwi tatsächlich zu essen, um das zu wissen. (2) Auch wenn man propositional von Kiwis alles weiß, weiß man dennoch nicht, wie eine Kiwi schmeckt, wenn man nie eine probiert hat. • Bei dieser Art von Wissen handelt es sich weder um praktisches noch um propositionales Wissen. • Das Wissen, wie etwas ist, ist u.a. Gegenstand der Philosophie des Geistes (Qualiadebatte). SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 218 Überblick: Erkenntnistheorie Skeptizismus Können wir überhaupt etwas wissen? Was ist Wissen? Wie kann man den Begriff des Wissens definieren? Welche Bestandteile hat der Begriff des Wissens? Was ist Wahrheit? Nur wahre Propositionen können gewusst werden, aber wann ist eine Proposition wahr? Worin besteht Rechtfertigung? Nur Propositionen, die gerechtfertigte Überzeugungen sind, können gewusst werden; aber wann ist eine Proposition gerechtfertigt? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 219 3 Skeptizismus SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 220 Skeptizismus Irrtum und Zweifel Irren ist menschlich! Folgt aber daraus, dass ich mich manchmal irre, die Möglichkeit, dass ich mich immer irre, d.h. vielleicht gar kein Wissen über die Welt um mich habe? • Bei der Feststellung, dass wir uns manchmal irren, wird vorausgesetzt, dass man Irrtümer feststellen kann. Das aber setzt voraus, dass man sich nicht in jeder Hinsicht täuschen kann. • Die Feststellung eines Irrtums kann selber kein Irrtum sein, sonst wäre sie gerade nicht die Feststellung eines Irrtums. • Wenn ich feststelle, mich geirrt zu haben, dann habe ich einen besonderen Grund, der gegen meine frühere Überzeugung spricht. Gegen meine jetzige Überzeugung habe ich keinen spezifischen Grund. Ich habe keinen Grund, sie aufzugeben. Die Tatsache, dass wir uns hin und wieder irren, sollte uns nicht beunruhigen und erst recht nicht zum Skeptiker werden lassen! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 222 4 Skeptizismus Das Traumargument Rene Descartes Prämisse 1: Wenn ich weiß, dass ich jetzt eine Vorlesung halte, dann weiß ich auch, dass ich jetzt nicht im Bett liege und bloß träume, dass ich eine Vorlesung halte. Prämisse 2: Ich weiß jetzt nicht, ob ich jetzt träume oder nicht. modus tollens Konklusion: Also weiß ich nicht, dass ich jetzt eine Vorlesung halte. Die erste Prämisse ist plausibel; was zur skeptischen Konklusion führt ist offenbar die zweite Prämisse. Diese muss der Skeptiker, der für dieses Argument argumentiert, begründen. Wie kann er das tun? Argument für die zweite Prämisse: Um zu wissen, ob ich jetzt träume, müsste ich ein Kriterium besitzen, das es mir erlaubt, Traum von Wachheit zu unterscheiden. Ich kann kein solches Kriterium besitzen, denn immer wenn ich meine, ein brauchbares Kriterium anzuwenden, könnte es sein, dass ich bloß träume, dass ich ein brauchbares Kriterium anwende! Also: Ich weiß jetzt nicht, ob ich träume oder wach bin! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 223 Skeptizismus Gibt es eine Außenwelt? Rene Descartes Halluzinationen: Wir alle wissen, dass Menschen unter bestimmten Umständen halluzinieren. Nach langer Arbeit an dieser Vorlesung sehe ich aus dem Fenster und erblicke einen rosa Elefanten auf der Strasse. In Wirklichkeit ist kein Elefant in der Nähe. Auf der Strasse ist gar nichts los. In Fällen wie dem der Halluzination besteht die Täuschung darin, dass ich meine, dass meiner Vorstellung ein Gegenstand in der Welt (der rosa Elefant) entspricht. Ich täusche mich aber nicht darin, dass ich meine, einen Elefanten zu sehen. Skeptische Verallgemeinerung • Wie kann ich wissen, dass sich meine Vorstellungen auf etwas beziehen? • Kann es nicht sein, dass ich nur meine Vorstellungen besitze? • Kann ich wirklich wissen, dass es überhaupt eine Welt jenseits oder außerhalb meiner Vorstellungen – eine Außenwelt – gibt? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 224 5 Skeptizismus Gibt es eine Außenwelt? I am plagued by doubts. What if everything is an illusion and nothing exists? In that case, I definitely overpaid for my carpet. Prämisse: Wenn ich etwas über irgendeinen Gegenstand der Außenwelt weiß, dann weiß ich auch, dass es eine Außenwelt gibt. Prämisse: Ich kann nicht wissen, ob es eine Außenwelt gibt. modus tollens Konklusion: Ich kann über keinen Gegenstand der Außenwelt etwas wissen. • Wie das Traum-Argument endet auch das Außenwelt-Argument mit der Konklusion, dass ich kein empirisches Wissen über die Welt haben kann. • Das Außenwelt-Argument bestreitet eine der Voraussetzungen, welche beim Traum-Argument gemacht werden muss; dass es nämlich eine Außenwelt gibt. • Das Traum-Argument kann auch unter der Prämisse geführt werden, dass es eine Außenwelt gibt. Es handelt sich um zwei verschiedene Argumente. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 225 Skeptizismus Sekundäre Qualitäten John Locke Haben Gegenstände Farben? Gegenstände weisen eine Oberflächenstruktur auf, die derart beschaffen ist, dass vorwiegend Licht einer bestimmten Wellenlänge reflektiert wird. Licht einer bestimmten Wellenlänge führt im Normalfall menschlicher Wahrnehmung zu gewissen Farbempfindungen (der Röte, des Gelben etc.). Von den Gegenständen selbst können wir also nur sagen, dass sie eine gewissen Oberflächenstruktur besitzen; wenn wir von den Farben sprechen, dann geht es offenbar um die Wirkungen, die diese Struktur unter bestimmten Umständen (entsprechende Lichtverhältnisse) für den menschlichen Betrachter hat. Primäre Qualitäten: Eigenschaften, die den Gegenständen als solchen zukommen. Sekundäre Qualitäten: Eigenschaften, die von unseren kognitiven und Wahrnehmungsfähigkeiten abhängig sind. Skeptische Schlussfolgerung Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie an sich beschaffen ist! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 227 6 Skeptizismus Unsere epistemische Situation Epistemische Situation: kognitive und sinnliche Fähigkeiten in Bezug auf unsere Umgebung Die skeptischen Fragen sind Ausdruck des Versuchs herauszufinden, ob wir uns überhaupt in einer epistemischen Situation befinden, die Wissen möglich macht. Der Skeptiker zeigt uns, dass durchaus die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen ist, dass uns einige oder die meisten Aspekte unserer epistemischen Umgebung intransparent sind: • Ein Träumer hat, während er träumt, nicht die Möglichkeit festzustellen, ob er träumt oder wach ist. • Wir haben keine (direkte) Möglichkeit festzustellen, ob unseren Vorstellungen tatsächlich Gegenstände entsprechen oder nicht, d.h. wir können die Existenz der Außenwelt nur annehmen, nicht beweisen. • Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass die Welt um uns herum so beschaffen ist, wie wir sie wahrnehmen, denn viele der Eigenschaften, die wir erkennen können, sind keine Eigenschaften der Dinge, sondern Eigenschaften, die von unserer sinnlichen und kognitiven Ausstattung abhängig sind. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 228 Was ist Wissen? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 229 7 Was ist Wissen? Gestern wusste ich nicht, wie heute das Wetter sein wird. Heute weiß ich es. • Wir sind in der Lage, Fälle des Wissens von Fällen des Nicht-Wissens zu unterscheiden. • Wir können den Begriff des Wissens korrekt verwenden. • Wozu also diese Frage? • Was ist das eigentlich für eine Frage? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 230 Was ist Wissen? Die Frage nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen x ist ein Junggeselle, gdw. x (1) unverheiratet ist (2) männlich ist und (3) die meisten Abende allein verbringt. Bedingungen sind nicht notwendig Notwendige Bedingungen sind solche, die für den fraglichen Begriff immer erfüllt sind. Die dritte Bedingung ist nicht notwendig, da es Junggesellen gibt, die die meisten Abende nicht allein verbringen (Partylöwen, die Single sind). x ist ein Junggeselle, gdw. x (1) unverheiratet ist und (2) männlich ist. Bedingungen sind nicht hinreichend Eine Menge von Bedingungen ist hinreichend, wenn die angegebenen Merkmale immer und nur Fälle des fraglichen Begriffs sind. Die beiden angeführten Bedingungen sind nicht hinreichend, da es unverheiratete, männliche Wesen gibt, die keine Junggesellen sind (Knaben). x ist ein Junggeselle, gdw. x SS 2006 Bräuer (1) unverheiratet ist (2) männlich ist und (3) im heiratsfähigem Alter ist. Bedingungen sind notwendig und hinreichend? Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 231 8 Die traditionelle Konzeption Die für viele Jahrhunderte unbestrittene Definition des Wissens stammt schon aus der Antike, nämlich von Platon, und lautet: Wissen = wahre, gerechtfertigte Meinung S weiß, dass p, gdw. SS 2006 Bräuer (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S ist gerechtfertigt, p zu glauben. Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 232 Die traditionelle Konzeption Überzeugungen Eine erste notwendige Überzeugung: Bedingung für Wissen besteht im Haben einer Wenn S weiß, dass p, dann hat S die Überzeugung, dass p. Dass Wissen Überzeugungen voraussetzt, wird plausibel, wenn man versucht sich vorzustellen, dass dem nicht so ist. Hans weiß, dass Dresden südlich von Berlin liegt, aber er glaubt es nicht. Eine solche Beschreibung ist verwirrend und zwar deshalb, weil beides offenbar nicht miteinander vereinbar ist. Also: Das Haben einer Überzeugung notwendige Bedingung für Wissen! SS 2006 Bräuer entsprechenden Einführung in die Theoretische Philosophie Inhalts ist eine Folie 233 9 Die traditionelle Konzeption Wahrheit Überzeugungen sind nicht hinreichend für Wissen, denn Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Falsche Überzeugungen sind keine Fälle von Wissen. Das Vorliegen einer Überzeugung impliziert nicht, dass die Überzeugung wahr ist. Wenn S weiß, dass p, dann ist es wahr, dass p. Diese Bedingung ist die von allen unproblematischste. Wenn etwas falsch ist, dann liegt kein Wissen vor. Hans weiß, dass Berlin südlich von Dresden liegt. Auch diese Beschreibung ist verwirrend und zwar ebenfalls deshalb, weil beides – Falschheit und Wissen – nicht miteinander vereinbar ist. Also: Auch die Wahrheit des Gewussten ist eine notwendige Bedingung für Wissen! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 234 Die traditionelle Konzeption Rechtfertigung Wahre Überzeugungen sind keine hinreichende Bedingung von Wissen, d.h. dass wir Fälle von wahren Überzeugungen finden können, die kein Wissen sind. Betrachten wir folgendes Beispiel: Sabine beobachtet mit Spannung die Wahlen. Sie ist der festen Überzeugung, dass ihr Kandidat gewinnen wird, obwohl sie noch keinerlei Hinweise darauf hat. Später stellt sich heraus, dass Sabines Kandidat tatsächlich gewonnen hat. Sabine hatte also eine wahre Überzeugung vom Ausgang der Wahl. Wusste Sabine, wie die Wahl ausgehen wird? Wissen setzt voraus, dass man mit seiner Überzeugung nicht leicht hätte falsch liegen können. Dass man nicht zufällig recht hat. Was ist darunter zu verstehen? Was könnte mit „nicht zufällig“ gemeint sein? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 235 10 Die traditionelle Konzeption Rechtfertigung Wenn S weiß, dass p, dann ist S‘s Überzeugung, dass p, gerechtfertigt. Was auch immer im Einzelnen unter „Rechtfertigung“ zu verstehen ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Dennoch: Die traditionelle Konzeption des Wissens als wahrer, gerechtfertigter Meinung lässt sich an vielen Beispielen belegen: • Maria weiß nur dann, dass die Bibliothek sonntags geöffnet ist, wenn sie Gründe hat, das anzunehmen. • Eine Frau weiß, dass sie schwanger ist nicht schon, wenn sie es ahnt (und es zufällig stimmt), sondern erst dann, wenn sie eindeutige Evidenzen dafür hat. • Ein Mathematiker weiß erst dann, dass ein gewisser Satz wahr ist, wenn er ihn beweisen kann und nicht schon, wenn er das nur vermutet oder glaubt. • ... SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 236 Edmund Gettiers Problem Schmidt und Müller bewerben sich auf dieselbe Stelle. Schmidt hat aus glaubhafter Quelle erfahren, dass sich die Firma für Müller entscheiden wird. Außerdem hat er zufällig gesehen, dass Müller zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese Daten rechtfertigen seine Annahme: Müller wird die Stelle bekommen. & Müller hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Derjenige, der die Stelle bekommen wird, hat zehn Münzen in der Hosentasche. Nun ereignen sich für Schmidt zwei unerwartete Zufälle. Auch er hat genau zehn Münzen in seiner Hosentasche und er bekommt trotz gegenteiliger Vorinformation selbst die Stelle. • Schmidt hat eine wahre Überzeugung. • Seine Überzeugung ist gerechtfertigt. • Schmidt hat eine wahre und gerechtfertigte Meinung. Wusste Schmidt wirklich, was er glaubte? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 237 11 Edmund Gettiers Problem Zusatzbedingungen? Gibt es eine Lösung für das Gettierproblem durch die Angabe zusätzlicher Bedingungen? Schmidts Rechtfertigung beruhte auf der falschen Prämisse, dass Müller die Stelle bekommt. Vielleicht sollten wir einfach falsche Überzeugungen als Rechtfertigungsgründe ausschließen? S weiß, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) die rechtfertigenden Überzeugungen wahr sind. Angenommen Schmidt erfährt aus seiner Quelle (nämlich von Schulz, einem Mitglied des Auswahlkomitees), dass er die Stelle bekommt und er bemerkt auch die zehn Münzen in seiner Tasche. Dann sind seine rechtfertigenden Überzeugungen beide wahr. Zufälligerweise ist es aber so, dass Schulz etwas verwechselt hat. In der Sitzung des Komitees wurde beschlossen, dass Müller angenommen und Schmidt abgelehnt wird. Schulz war unaufmerksam und hat das durcheinandergebracht. Zu einem späteren Zeitpunkt wird von übergeordneter Stelle angeordnet doch Schmidt und nicht Müller zu nehmen. • Würden wir Schmidts Überzeugung nach der Sitzung und vor der Weisung durch die übergeordnete Stelle als Wissen bezeichnen? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 238 Edmund Gettiers Problem Zusatzbedingungen? Der eben konstruierte Fall beruht darauf, dass die rechtfertigenden Gründe zwar wahr, aber nur zufällig wahr sind. Dies weist darauf hin, dass die vierte Bedingung noch zu schwach war. Ein nichtzufälliger wahrer Grund für eine Überzeugung liegt offensichtlich dann vor, wenn dieser selbst gerechtfertigt ist: S weiß, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) die Rechtfertiger wahr und gerechtfertigt sind. Das führt leider in einen infiniten Regress, denn das Definiens (insbesondere die vierte Bedingung) hat dieselbe Struktur wie das Definiendum. Wir könnten nun fragen, wie es um die rechtfertigenden Überzeugungen der rechtfertigenden Überzeugungen steht usw. Das Problem verschiebt sich statt gelöst zu werden! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 239 12 Internalismus vs. Externalismus internalistische Konzepte externalistische Konzepte S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S ist gerechtfertigt, p zu glauben. (4) ??? S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) ??? Bisher haben wir nur sog. internalistische Wissenskonzepte kennen gelernt. Ihnen zufolge ist Rechtfertigung eine notwendige Bedingung für Wissen. Solche Konzepte suchen im Ausgang von Gettiers Kritik am traditionellen Konzept nach weiteren notwendigen und dann hinreichenden Bedingungen des Wissens. Externalistische Konzepte hingegen halten Rechtfertigung nicht für eine notwendige Bedingung des Wissens. Sie suchen diese durch eine andere zu ersetzen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 240 Die kausale Konzeption Eine besonders nahe liegende Form einer externalistischen Konzeption ist die kausale Konzeption. Auch diese wird in verschiedenen Modifikationen vertreten. Schauen wir uns zunächst die stärkste unter ihnen an: S weiß, dass p, gdw. Alvin I. Goldman (1), (2) und (3) S´s Überzeugung durch die Tatsache, dass p, verursacht wurde. Diese Variante eignet sich besonders für Wahrnehmungswissen: Nehmen wir wieder Schmidt. Im ersten Fall hatte er die wahre Überzeugung, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese jedoch wurde nicht von seinen Evidenzen verursacht, sondern beruhte auf einem logischen Schluss, den Schmidt aus seinen Evidenzen zog. Die dritte Bedingung der kausalen Konzeption ist demnach nicht erfüllt gewesen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 241 13 Die kausale Konzeption Zukunft: Man kann Wissen über zukünftige Tatsachen haben (z.B. weiß ich, dass das Wasser im Teekessel kochen wird, wenn ich diesen auf eine heiße Herdplatte stelle). Zukünftige Tatsachen können aber keine Ursachen für gegenwärtige Überzeugungen sein. Devianz: Die Verursachung der Überzeugung muss von der „richtigen Art“ sein. Nehmen wir an, dass Luise an Masern erkrankt ist und dass die Masern zu einer zusätzlichen allergischen Reaktion geführt haben, welche Ursache für die kleinen roten Flecken ist, welche dann in Luise die Überzeugung verursachen, dass sie Masern hat. In diesem Fall ist zwar die Tatsache, dass Luise Masern hat, die Ursache für Luises Überzeugung, dass sie Masern hat, doch auch hier würden wir nicht von Wissen sprechen, denn die allergische Reaktion und ihre Masernerkrankung sind zwei unterschiedliche Phänomene. Abschwächung der kausalen Konzeption S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S´s Überzeugung mit der Tatsache, dass p, in angemessener Weise kausal verbunden ist. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 242 Die kausale Konzeption Angemessenheit: Was genau besagt die Bedingung, dass es sich um eine angemessen kausale Verbindung handelt? (selbst-erfüllende Prophezeiung; Wissen über die Zukunft; deviante Kausalketten usw.) Negative Tatsachen: Ich weiß, dass es in der Sahara keine Eisberge gibt. Gibt es nun auch „negative Tatsachen“, die Ursache für meine Überzeugung sein können, dass es keine Eisberge in der Sahara gibt? Mathematisches Wissen: Ich weiß, dass 7+5=12 ist. Welche Tatsachen könnten Ursache für dieses Wissen sein? Modales Wissen: Welche Tatsache könnte Ursache meines Wissens sein, dass der Wahlverlierer die Wahl akzeptiert hätte, wenn er sie gewonnen hätte? Es gibt keine solche Tatsache, denn er hat die Wahl ja verloren! SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 243 14 Die reliabilistische Konzeption S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S´s ist auf eine verlässliche Art und Weise zu seiner Überzeugung gelangt. Frank P. Ramsey 1903-1930 • Schmidt ging im ersten Fall von der falschen Information aus, dass Müller die Stelle bekommt. Falschinformationen stellen keine verlässliche Weise des Erwerbs für eine Überzeugung dar. • Im modifizierten Fall schloss Schmidt aus zufällig wahren Informationen auf seine Überzeugung. Auch dies ist kein verlässlicher Fall des Meinungserwerbs. • Ein anderer Fall: Wenn mir eine Wahrsagerin prophezeien würde, dass ich den Hauptgewinn bei einer Tombola ziehe und dies tatsächlich geschieht, dann kann man nicht sagen, ich wusste, dass ich gewinnen werde, weil Wahrsagerei kein verlässlicher Prozess des Überzeugungserwerbs ist. • usw. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 244 Die reliabilistische Konzeption Die Verlässlichkeit einer Methode des Meinungserwerbs ist relativ zu einem gegebenen Zweck: Wahrnehmung ohne technische Hilfsmittel: ist eine verlässliche Methode, wenn man an Informationen über mittelgroße Gegenstände in der näheren Umgebung interessiert ist (z.B. ob jetzt ein ein Stück Kreide vor mir liegt). Sie ist keine verlässliche Methode, wenn wir etwas zur Mikrostruktur eines Metalls oder über die Oberfläche eines entfernten Planeten wissen möchten. Wahrnehmung unter Zuhilfenahme komplizierter Instrumente: ist eine verlässliche Methode, wenn der Meinungserwerb durch Gebrauch des entsprechenden Instruments (Mikroskop, Teleskop) zustande gekommen ist. Der Gebrauch eines Teleskops oder eines Mikroskops ist unverlässlich, wenn wir etwas von den mittelgroßen Gegenständen in unserer Umgebung wissen wollen (das Stück Kreide z.B.) oder wenn das Instrument selbst unzuverlässig arbeitet. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 246 15 Die reliabilistische Konzeption Methoden des Wissenserwerbs Wahrnehmung: reliabel in Bezug auf Wissen von mittelgroßen Gegenständen. Wahrsagerei: nicht reliabel. Schlussfolgern aus wahren Prämissen: reliabel Schlussfolgern aus falschen Prämissen: nicht reliabel Raten/Münze werfen: nicht reliabel Expertenwissen: reliabel in Bezug auf das entsprechende Fachgebiet Alltagserfahrung: reliabel in Bezug auf die entsprechenden Alltagsthemen Träumen: nicht reliabel Zeugenbefragung: Reliabilität abhängig von verschiedenen Umständen (Glaubwürdigkeit etc.) SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 247 Die reliabilistische Konzeption Unbestimmtheit der Methode Anna sieht ein Flugzeug in weiter Ferne vorbei fliegen. Weiß sie, dass ein Flugzeug vorbei fliegt? Visuelle Wahrnehmung allein ist dafür nicht zuverlässig genug, da das fragliche Objekt zu weit entfernt ist. In diesem Fall aber bestanden besondere Umstände: die Sicht war außergewöhnlich klar; Anna hatte gerade Augentropfen genommen, die die Fernsicht verstärken; Anna war besonders aufmerksam usw. Alles in allem hat dies zu einem zuverlässigen Wissenserwerb geführt. Wie sollen wir die hier angewandte Methode korrekt beschreiben? Maximal: Bei der Spezifikation der Methode werden alle besonderen Umstände mit einbezogen. Das führt im Extremfall zu detaillierten Beschreibungen von Einzelfällen. Einzelfälle aber haben keine probabilistischen Eigenschaften. Minimal: Bei der Spezifikation der verwendeten Methode werden nur die allgemeinsten Merkmale einbezogen, z.B. dass es sich in einem gegebenen Fall um visuelle Wahrnehmung ohne Hilfsmittel handelt. Das führt allerdings zu einem unbrauchbaren Verhältnis zwischen Reliabilität und Wissen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 248 16 Die kontextualistische Konzeption Die Standards des Wissens hängen vom Kontext ab! Bert ist Laien-Meteorologe. Am Freitag Nachmittag schließt er aus der Art der Wolken, dem Westwind und noch einigem Anderen mehr darauf, dass es am Samstag regnen wird. Und Bert hat Recht: Am Samstag fällt der erwartete Regen. Als Laien-Meteorologe hat Bert eine reliable Methode entwickelt. Er weiß am Freitag, dass es am Samstag regnen wird. Erna ist professionelle Meteorologin. Auch sie stellt dieselben Überlegungen wie Bert an. Sie hat aber noch nicht die aktuellen Wetterdaten durchgesehen und antwortet am Freitag Nachmittag auf die Frage, ob sie schon wüsste, ob es am Samstag regnen wird, korrekt, dass sie das noch nicht sagen kann, da sie die entsprechenden Informationen noch nicht hat. Dasselbe Verfahren liefert in Bezug auf Berts und Ernas Kontext unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Feststellung darüber, ob Bert und Erna am Freitag wissen, dass es am Samstag regnen wird. Die Standards einer professionellen Wettervorhersage sind anspruchsvoller als die einer Laienvorhersage. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 249 Die kontextualistische Konzeption Die kontextualistische Konzeption des Wissens liefert den folgenden Definitionsvorschlag: S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S die im gegebenen Kontext einschlägigen Standards erfüllt. Wodurch wird bestimmt, was die einschlägigen Standards sind? Konventionen: Es gibt keine von uns unabhängige Tatsache, die den Standard für Wissen festlegt. Vielmehr legen wir ihn konventionell fest. Es gibt zum einen Konventionen, die die professionellen Meteorologen untereinander teilen, zum anderen Konventionen, die die meteorologischen Laien im Alltag miteinander teilen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 250 17 Die kontextualistische Konzeption Was legt den Kontext fest? Erna sitzt am Freitag über ihren meteorologischen Daten und schaut aus dem Fenster. Sie kommt aufgrund ihrer Beobachtungen wie Bert zu der (wahren) Überzeugung, dass es am Samstag regnen wird. Diese Überzeugung stellt Wissen dar, wenn wir Erna als LaienMeteorologin betrachten; sie stellt kein Wissen dar, wenn wir Erna als professionelle Meteorologin betrachten. In welchem Kontext befindet sie sich? Was der entsprechende Kontext ist, hängt ebenfalls nicht von objektiven Merkmalen der Welt ab, sondern ist betrachterrelativ bzw. perspektivengebunden. Wissen ist relativ zu einem Zuschreiber, d.h. derjenigen Person, die beurteilen muss, in welchem Kontext sich jemand befindet, wenn er eine Überzeugung erwirbt. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 251 Die Relativität des Wissensbegriffs Die Grundfrage für alle Wissensbegriffs lautete: Konzeptionen der reduktiven Definition des Unter welchen Bedingungen gilt eine wahre Überzeugung als Wissen? Verlässlichkeit: Die Beurteilung der Verlässlichkeit des Meinungserwerbs hängt davon ab, wie detailliert wir die verwendeten Methoden beschreiben. Standards: Die Zuschreibung von Wissen ist zudem abhängig von den zugrundegelegten Standards. Welchen Standard wir wählen, hängt davon ab, in welchem Kontext wir den Wissenserwerb betrachten. Kontext: Die Wahl perspektivengebunden. des Kontexts ist nicht objektiv, sondern Vielleicht sollten wir den Versuch einer reduktiven Definition des Wissensbegriffs ganz aufgeben? Zumindest ist das Wissen oder Nicht-Wissen einer Person keine Tatsache, die unabhängig vom Kontext und insbesondere von der Perspektive des Betrachters ist. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 252 18 Was ist Wahrheit? SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 253 Was ist Wahrheit? Was kann überhaupt wahr oder nicht wahr (falsch) sein? Sätze (abstrakte sprachliche Formen) Äußerungen (konkrete sprachliche Handlungen) Urteile (konkrete psychische Ereignisse) Überzeugungen (konkrete psychische Zustände) Propositionen (abstrakte semantische Objekte) Diese Kandidaten stehen in einem engen, wechselseitigen Zusammenhang: • Urteile und Überzeugungen sind psychischer Natur, lassen sich aber prinzipiell durch Sätze oder Äußerungen ausdrücken, die sprachlicher Natur sind. • Sätze und Äußerungen wiederum dienen primär dazu, Urteile und Überzeugungen auszudrücken. • Propositionen lassen sich als die Inhalte sowohl von psychischen als auch von sprachlichen Entitäten auffassen. SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 254 19 Eigenschaften der Wahrheit Objektivität: Die Wahrheit einer Proposition hängt nicht davon ab, ob sie irgendjemand für wahr hält oder nicht. Es besteht eine Differenz zwischen „Wahr-Sein“ und „Für-WahrHalten“. Zeitlosigkeit: Eine Proposition, im Unterschied zum Für-Wahr-Halten (Überzeugung), Erkenntnis oder Wissen, kann nicht ihren Wahrheitswert mit der Zeit verändern. Wahrheit hat keine Geschichte, Glauben und Wissen hingegen schon. Wahrheit ist sprachübergreifend: Wenn der Wahrheitsbegriff nicht in allen Sprachen derselbe wäre, dann ließen sich die Sätze der verschiedenen Sprachen nicht ineinander übersetzen. Transzendenz (Realismus): Wahrheit ist unabhängig von Erkennbarkeit. Es ist prinzipiell möglich, dass es Wahrheiten gibt, die wir nicht erkennen können. Zu wissen, was Wahrheit ist (eine Definition der Wahrheit zu kennen), hat nur mittelbar etwas damit zu tun, dass ich weiß, wie ich herausfinden kann, was wahr ist (d.h. ein Kriterium der Wahrheit zu kennen). Immanenz (Anti-Realismus): Wahrheit und Erkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn ich weiß, was Wahrheit ist (wenn ich die Definition der Wahrheit kenne bzw. den Begriff der Wahrheit anwenden kann), dann weiß ich notwendig auch, wie ich herausfinden kann, was wahr ist (d.h. dann kenne ich zugleich ein Kriterium der Wahrheit). SS 2006 Bräuer Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 256 Die Korrespondenztheorie Die Korrespondenztheorie der Wahrheit ist ungefähr so alt wie die Philosophie selbst. Ihre Grundidee findet sich schon bei Aristoteles explizit formuliert: Etwas ist wahr, wenn es mit der Welt im Einklang steht. Eine Proposition ist wahr, gdw. es eine Tatsache gibt, mit der sie übereinstimmt. Was heißt „Übereinstimmung mit einer Tatsache“? Lässt sich diese Redeweise noch weiter präzisieren? Bildtheorie (Wittgenstein) SS 2006 Bräuer semantische Theorie (Tarski) Einführung in die Theoretische Philosophie Folie 257 20