Ausgabe I November 2016 Architekturnovember Bund Deutscher

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Architekturnovember
Bund Deutscher Architekten
Baden-Württemberg
1 Stuttgart
Ausgabe I
November 2016
02 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
03 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Wozu gute Architektur
Start in den AN:
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 06
Piero Bruno
Gebaute Gedanken
Kazuyo Sejima
Überfüllter Tiefenhörsaal
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 12
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 15
Farshid Moussavi
Stilfragen
Farshid Moussavi
Was ist die Funktion von Stil?
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 18
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 20
Uwe Schröder
Ins Verhältnis setzen
Alexandre Theriot
The only revolutionary programme …
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 23
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 27
Snøhetta
… und das Gespür für Schnee
John Cranko Schule
Ein genialer Entwurf
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 29
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 31
Die Problematik
der Wohnhochhäuser
Architektur
auf neuen Wegen
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 01
von Dietrich Heißenbüttel
04 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
→ S. 35
Rozana Montiel
Alltagsorte in der Megacity
Was machen junge
Architekten anders?
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 38
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 42
Sara Klomps
Gänge Vorstellungen sprengen
GMP-Architeken
Wir sind keine bildenden Künstler
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 43
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 44
Von nun an
immer im November
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 48
Alexander Schwarz
Von der Schönheit und der Nützlichkeit
von Dietrich Heißenbüttel
→ S. 45
05 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
06 Stuttgart
Wozu gute Architektur?
Start in den Architekturnovember
Mit der Eröffnung des Architekturnovembers gelang dem BDA
Baden-Württemberg ein Coup. Sie fand statt direkt hinter der
Stuttgarter Stiftskirche, im Erweiterungsbau der Commerzbank
am Stiftsfruchtkasten, den die Schweizer Hess Investment Group
erst vor kurzem erworben hat: ein „guter Investor“, wie BDA Landesvorstand Alexander Vohl betonte. 1970 bis 1972 vom Büro
Kammerer und Belz erbaut, stand der Bau seit dem Verkauf an
die Baden-Württemberg Stiftung vor drei Jahren leer, bis auf
temporäre Nutzungen unter anderem für eine Ausstellung des
Architektur-Netzwerks Stadtlücken.
Von einer „quälenden Diskussion um den Abriss“ sprach Vohl,
mit dem Stichwort Mannheim auf Frei Ottos Multihalle anspieGute Architektur gehört
lend und natürlich auch auf das Büro Kammerer und Belz,
zur Baukultur, sie regt an, dessen wenige Jahre später entstandene EnBW -Verwaltung
regt auf und bewegt.
an der Kriegsbergstraße akut bedroht ist. Für die Commerzbank-Erweiterung erhielt das Büro 1972 den Hugo-HäringPreis des BDA -Landesverbands und danach auch noch den
Deutschen Architekturpreis. Hess Investment möchte den
Bau 2017 in Abstimmung mit den Denkmalbehörden sanieren.
Ein Glücksfall für Stuttgart: Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass gute Architektur dieser Zeit gepflegt und erhalten
wird. Wie die EnBW-Zentrale zeigt.
Aber wozu brauchen wir gute Architektur? Das wollte der BDA von
ausgesuchten Gästen der Auftaktveranstaltung wissen, angefangen mit dem Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold.
Architektur ist ein Kulturgut, meinte der: „Gute Architektur gehört
zur Baukultur, sie regt an, regt auf und bewegt.“ Aber wie kommt
man zu guter Architektur, fragte er weiter und gab selbst mehrere
Antworten: dadurch dass man mit Investoren darüber spricht; im
Fall der Stadt Stuttgart häufig durch Wettbewerbe; und seit
neuestem auch durch einen Gestaltungsbeirat. „Gute Architektur
macht einfach Freude“, so Pätzold, sie beschere „ein schönes
Umfeld, ein schönes Leben, eine schöne Welt.“
Ganz so leicht fiel Alexander Schwarz, Partner im Büro von
Gute Architektur macht
David Chipperfield, die Antwort nicht. Er hinterfragte zunächst
einfach Freude, ein schönes die Frage: „Wozu“ frage nach dem Zweck – „dem trivialen
Umfeld, ein schönes Leben, Zweck“, wie Schwarz, Friedrich Schinkel zitierend hinzufügte.
eine schöne Welt.
Es fehle dabei: die Freiheit, das Historische und das Poetische.
Er wollte eher nach dem Warum fragen und verglich gute Architektur mit gutem Essen. Gute Architektur zu beurteilen sei
nicht ganz einfach. Es handle sich nicht um eine Höchstleistung, sondern setze Bildung voraus. Leider hat Schwarz den
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
07 Stuttgart
Verdacht, dass es damit nicht immer weit her ist. Er möchte
daher den Bildungshorizont der Architekten erweitern.
Denn: „Architektur ist immer der Spiegel der Gesellschaft,
in der man lebt.“
„Grüezi mitanand“, salutierte Klaus Morlock, eigentlich „seit 13
Jahren ausgewanderter Exilschwabe“, für den Schweizer Investor
die Anwesenden. „Wir schauen uns erstmal an, was uns da auf
den Tisch flattert“, beschrieb er das Vorgehen der Hess Gruppe:
ein ursprünglich im Textilbereich tätiges Familienunternehmen aus
Amriswil, das sich seit 1990 mit Gewerbeimmobilien beschäftigt.
Morlock sortiert zuerst aus, was ihm nicht gefällt, denn das könne ­
er nicht vertreten. Das Stuttgarter Einkaufszentrum Gerber nannte
er „eine Katastrophe“, zur Commerzbank meinte er: „Dieses
Gebäude ist etwas Besonderes.“ Der Bau von Kammerer und Belz
sei „auch 40 Jahre später ein tolles Gebäude, das reizt mich
einfach.“ Es sei auch wichtig, dass ein Gebäude funktioniert. Die
Zusammenarbeit mit Architekten bringe „angenehme kreative
Prozesse.“
Abschließend bezogen Hanna Noller und Sebastian Klawitter
Architektur ist die
Stellung, die Begründer des Netzwerks Stadtlücken. In ihrer
ästhetische Auseinander- Masterarbeit an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste
setzung des Menschen
haben sie Lücken im Gesamtbild der Stadt Stuttgart ausfin­�
mit dem gebauten Raum -dig gemacht: nicht nur Baulücken, sondern auch Zeitlücken,
soziale Lücken, rechtliche Lücken und Wissenslücken. Über
einen Blog und eine Facebook-Seite wollen sie zur Vernetzung
bestehender Initiativen beitragen.
Wie das die jüngere Generation so macht, haben sie erstmal ge­­­
googelt: „Architektur ist die ästhetische Auseinandersetzung des
Menschen mit dem gebauten Raum“, fanden sie heraus und fügten
hinzu: „Wir freuen uns nun sehr, dass sich der Bund Deutscher Ar­­chitekten dieser Aufgabe in Form des Architekturnovembers annimmt.“
Nur: „Wir wundern uns, wie es sein kann, dass eine Stadt, die schon
über viele Jahrzehnte für ihre Architekturexpertise bekannt ist, ihre
Baukultur nicht mehr richtig wiederfindet.“ Zwischen Theorie und
Praxis klafft eine Lücke: „Nur wenn wir mit unseren eigenen Händen
Materialien erfassen, Stadt/Orte mit unserem eigenen Körper be­gehen und wahrnehmen, sind wir in der Lage angemessen über
Architektur und Stadt zu sprechen.“ Und: „Um Baukultur zu schaffen
muss Architektur, also die Auseinandersetzung mit dem gebauten
Raum, gesamtgesellschaftlich relevant werden, sie muss in das Be­wusstsein aller gerückt werden!“
Wir brauchen
Dies hatte auch Alexander Vohl einleitend hervorgehoben:
Öffentlichkeit
„Wir brauchen Öffentlichkeit“, meinte er. Frankreich habe
seine Fête des lumières, seine Fête de la musique, Stuttgart
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
08 Stuttgart
sein Trickfilmfestival. Damit es künftig auch ein Podium der
Auseinandersetzung mit Architektur gibt, ruft der BDA -Landesverband nun den Architekturnovember ins Leben. Die Veranstaltung­en – Vorträge, Ausstellungen, Diskussionen, Führung­en – finden überall in Baden-Württemberg statt: nicht nur in
Stuttgart, sondern auch in Waldshut, Freiburg, Schwäbisch
Hall oder Heidelberg.
In Tübingen standen in diesem Jahr zwei Architektinnen auf dem
Programm: Pavitra Sriprakash aus Indien und Rozana Montiel
aus Mexiko. In der November Reihe der Uni Stuttgart ebenfalls
zwei Frauen, Kazuyo Sejima vom Büro Sanaa, die in London
tätige Farshid Moussavi sowie Luigi Snozzi und Alexandre Thériot.
Die beiden anderen Stuttgarter Hochschulen, die Architekten
ausbilden, sind ebenfalls vertreten: Der Jour fixe der Kunstakade­mie
fragte Uwe Schröder und Thomas Burlon vom Büro Brandlhuber+
nach der Dauer in der Architektur. In der Punkt 7 Reihe der Hochschule für Technik war der dänische Architekt Torben Østergaard
zu Gast. Stefan Burger führte über die Baustelle der John Cranko
Schule und Thomas Schmidt vom Büro Staab Architekten durch
das Innenministerium und durch den Landtag.
Die Ausstellung „Local Heroes“ der Architekturgalerie am
Weißenhof suchte nach Bauwerken und Architekten, die das
Bild der Stadt Stuttgart geprägt haben. Und natürlich beteiligte sich auch der BDA -Landesverband selbst mit einer
Diskussion im Wechselraum zum Thema Hochhaus und einer
Ausstellung am selben Ort mit 16 jungen Büros aus dem
ganzen Land, von denen vier auch zu einer abschließenden
Diskussionsrunde eingeladen waren. Die berufliche Situation
stellt sich heute gänzlich anders dar als zu früheren Zeiten.
Welche Voraussetzungen Architekten mitbringen müssen,
aber auch welche Chancen sich daraus ergeben, wollte der
BDA von drei ausgewählten Architekten und einer Architektin
wissen.
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
09 Stuttgart
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Kleidungsfarbe an der Eröffnung:
schwarz
farbig
10 Stuttgart
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Mindestanzahl an Besuchern pro Veranstaltung:
11 Stuttgart
AN:FANG | Ehemalige Commerzbank | 07. November 2016
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Die Besucher waren unterschiedlich interessiert:
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016
12 Stuttgart
Kazuyo
Sejima
Bericht von Franziska Bettac
Überfüllter
Tiefenhörsaal
Zum Auftakt der diesjährigen Novemberreihe in Stuttgart zog
die Mitbegründerin von SANAA , Kazuyo Sejima, die Zuhörer
in Scharen an. 1995 von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa
gegründet, steht SANAA für geradlinige und Leichtigkeit
ausstrahlende Architektur, die inzwischen in aller Welt ver­tre­ten ist. In dem komplett überfüllten Tiefenhörsaal sparte
Professor Cheret mit einleitenden Worten und überlies der
Pritzker Preisträgerin alsbald die Bühne.
Eben erst aus Tokio angereist stellte Kazuyo Sejima den an­wesenden Studenten und Architekten drei ausgewählte
Projekte vor, anhand derer Sie ihre Philosophie des Bauens
und architektonische Herangehensweise anschau­lich erläu­terte: Das Rolex Learning Center der École Polytechnique
Fédérale im schweizerischen Lausanne, die Inujima Art
House Projects in Japan sowie die Anlage von Grace Farms
im US-amerikanischen Connecticut. Als beispielhafte Aus­züge aus dem Schaffen von SANAA beleuchten die Bau­ten nicht nur ihre Architekturauffassung und Arbeitsweise
sondern zeigen eine stetige Weiterentwicklung ihrer
Prämissen. Dazu sagte Kazuyo Sejima, dass es anfangs
ihr Ziel war die Bauten in die Landschaft zu integrieren.
Nun ginge es ihr vielmehr darum diese zum Bestandteil
der Umgebung werden zu lassen.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016
13 Stuttgart
Rolex Learning Center, 2014
Um die allgemeine Ideenfindung und den Weg
zum erfolgreichen Wettbewerbsbeitrag näher
zu bringen nahm Kazuyo Sejima die Anwesenden
mit auf eine Reise von der ersten Idee zum
fertigen Campus. Anhand unzähligen, analogen
sowie virtuellen Studien gab Sie Einblick in den
arbeits- und materialintensiven Entwurfsprozess.
In Bild und Wort schilderte die Architektin ihr Ziel,
das geforderte Raumprogramm aus Lehr- und
Aufenthaltsräumen möglichst wenig invasiv
auf dem Grundstück zu etablieren und natürliche
wie auch bauliche Bezüge aus der Umgebung
aufzunehmen. Um dieses Konzept mit dem
gewünschten Raumprogramm in Einklang zu
bringen entstanden unzählige Formstudien. Die
Begebenheit – dass die Architekten anfangs
versuchten den Anforderungen aus Konzept und
konstruktiven Notwendigkeiten mit Hilfe eines
Computerprogramms gerecht zu werden, um
dann festzustellen dass die eigene Auffassung
mit der des Computers nicht vereinbar sei –
sorgte bei vielen Anwesenden für erheiterte
Zustimmung. Mit Bildern und kleinen Anekdoten
aus der Bauphase sowie dem finalen Bauwerk
rundete die Japanerin den umfassenden
Eindruck des Projektes ab.
Inujima Art House Projects, 2010
Aufgrund der massiven Abwanderung der Be­völ­kerung infolge der aufgegebenen Kupfermine
war das Bild der Insel Inujima im Seto Binnenmeer 2010 bestimmt von verlassenen Wohnstätten. Wie schon zuvor auf der nahegelegen
Insel Naoshima sollte das Potenzial des Leerstandes und die eindrucksvolle Landschaft
genutzt werden um einen besonderen Ort für
Kunst und Kultur zu etablieren. Anfangs nur mit
dem Entwurf und Bau weniger Galerien in einem
Dorf betraut, überzeugten SANAA mit ihren
zurückhaltenden, die gewachsene Umgebung
und Natur einbeziehenden Ideen. In einer
zweiten Phase wurden weitere Grundstücke und
verlassene Häuser für das Vorhaben zur Verfügung gestellt, das sich nun auch auf ein weiteres
Dorf und die Umgebung ausweitete. Anhand der
unterschiedlichen Galerien – teils Häuser, teils
skulpturale Ausstellungsobjekte unter freiem
Himmel – beschrieb Kazuyo Sejima ihr Ziel, mit
einer Kombination aus vorhandenen baulichen
Strukturen sowie neuen Materialien Räume und
Orte zu schaffen, die nicht nur das Rezipieren
von Kunst ermöglichen, sondern die Umgebung
Teil der Inszenierung werden lassen. Mit dem
Erfolg des Projekts weiteten die Architekten ihr
Engagement auf der Insel aus und konzipierten
unkonventionelle Übernachtungsangebote und
ergänzende Räume für die zahlreichen Besucher.
Im Rahmen von studentischen Workshops vor
Ort entstanden zusätzlichen Angebote, die das
Bild des Biotops aus Kunst, Natur und gebauter
Tradition vervollständigen.
Grace Farms, 2015
Die gleichnamige Stiftung beauftragte SANAA
mit dem Bau eines Mehrzweckgebäudes auf
einem ehemaligen Trainingsgelände für Pferde
im ländlichen Connecticut. Auf dem weitläufigen
Gelände sollte ein Ort für soziale und kulturelle
Angebote geschaffen werden. Anhand von
Studien und Anekdoten beschrieb Kazuyo Sejima
ihr Bestreben dem anspruchsvollen Raumprogramm sowie der Prämisse, ihre Architektur als
Bestandteil der Umgebung zu entwickeln. Der
finale Entwurf – über das Gelände verteilte
Pavillons, die von einer mäandernden Dachkonstruktion zusammengefasst werden – nimmt die
vorgefundene Topographie auf und fügt sich in
die umgebende Fluss- und Seenlandschaft ein.
Bildreich schildert die Architektin hier das
aufwändige Vorhaben die Gebäude zum Teil der
Landschaft werden zu lassen: Mit dem Entwurfsmodell im Gepäck und der Markierung der
tatsächlichen Grundrissflächen auf dem Grundstück überprüften die Architekten ihr Konzept vor
Ort und legten die endgültigen Positionen fest.
Fazit
Die im Tiefenhörsaal Anwesenden feierten
Kazuyo Sejima, die 2013 die Ehrendoktorwürde
der Universität Stuttgart verliehen bekam, für
ihren eindrucksvollen und unterhaltsamen
Vortrag mit lautem, langanhaltendem Applaus.
Im Anschluss strömten zahlreiche Zuschauer
auf die Bühne um ein Wort mit der Pritzkerpreisträgerin zu wechseln sowie ihrer Begeisterung
Ausdruck zu verleihen und mancher sogar um
ein Autogramm zu bekommen.
14 Stuttgart
November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016
15 Stuttgart
Piero
Bruno
Bericht von Franziska Bettac
Gebaute
Gedanken
Nach dem gelungenen Auftakt der Stuttgarter November
Reihe mit Kazuyo Sejima sprach am zweiten Termin Piero
Bruno von Bruno Fioretti Marquez Architekten mit Stanorten
in Berlin und Lugano. Als würdiger Ersatz für den er­krank­
­ten Luigi Snozzi eingesprungen, bot er dem gebann­t­en
Publikum einen sowohl unterhaltsamen als auch informationsgeladenen Vortrag.
Durch den intellektuellen Ansatz und den daraus resul­
tierenden, außergewöhnlichen Bauten hebt sich das Büro
Bruno Fioretti Marquez deutlich von der Masse des zeit­
genössischen Architekturgeschehens ab. Insbesondere
zwei der von Piero Bruno an diesem Abend vorgestellten
Projekte – das Stellwerk für den Gotthardttunnel in Pollegio
und die Meisterhäuser in Dessau – machten das Büro
bekannt und haben einen fast schon ikonographischen
Charakter. In ihrer Funktion als Professoren an den Uni­-­
versitäten Berlin, München und Weimar geben die Gründer
zudem ihren theoretischen Ansatz und ihre bemerkenswerte Haltung zur Architektur an ihre Studenten weiter.
Mit einem Zitat Goethes – „Es gibt eine zarte Empirie, die sich
mit dem Gegenstand innigste identisch macht und dadurch
zur eigentlichen Theorie wird.“ – läutete Piero Bruno seinen
Vortrag ein. Dieses verdeutlicht klar, dass das prozesshafte
Moment der Architektur - das Architektur wächst – für ihn
von größter Bedeutung ist.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016
16 Stuttgart
Architektur des Spiels
Architektur der Unschärfe
Als Auftakt stellte Piero Bruno den 2014 fertig­
„So eine einmalige Gelegenheit bekommt man
gestellten Kindergarten im Luganer Stadtteil
vermutlich nur einmal im Leben“ – so begann
Casserate vor, der auf dem Grundstück einer
Piero Bruno die Vorstellung seines letzten
bereits bestehenden Schule entstand. Das
Projektes an diesem Abends. Der Neubau von
Quartier ist von heterogener Nachkriegsbebau­
Teilen des Meisterhaus-Ensembles in Dessau
­ung geprägt. Mit dem Ziel die Umgebung neu
stellte die Architekten vor die mehr als schwiezu ordnen und dem unspezifischen Straßenraum rige Frage wie ein Wiederaufbau der im Krieg
ein neues Gesicht zu verleihen traten die Archizerstörten Teilbereiche — dem Gropius Haus
tekten zum Wettbewerb an. Neben dem Bau für
und dem Haus Moholy Nagy – gestaltet werden
den fünfzügigen Kindergarten sollten ein überkönnte. Den Architekten erschien eine imitiedachter Pausenhof sowie Freiflächen entstehen.
rende Rekonstruktion nicht als die richtige
Entscheidend für die Planung war sowohl die
Antwort auf die ereignisreiche Geschichte. Ihre
Frage wie Architektur für Kinder aussehen kann
Haltung keine Imitation zu schaffen, sondern
als auch das komplexe Raumprogramm. Anhand
eine Reparatur des Vorhanden, bei der die
von Bestandsbildern, Zeichnungen und Model­�
Versatzstücke zwar vervollständigt aber das
-len erläuterte Piero Bruno den Anwesenden den
Hinzugefügte ablesbar bleibt - illustrierte er
Entstehungsprozess. Ausgehend von der Prä­
anhand von restaurierten Artefakten, wie einer
misse, dass Kinder durch das Spiel lernen ent­antiken Vase und einem vom Feuer zerstörtem
wickelten die Architekten ein gestalterisches
Gemälde. Die absichtlich unscharfen Bilder des
sowie strukturelles Entwurfsprinzip: Auf einer
Fotographen und Architekten Hiroshi Sugimoto
schachbrettartigen Einteilung des Bauplatzes
von Ikonen der Moderne inspirierten Bruno
platzierten die Architekten die Gebäude und
Fioretti Marquez schließlich zu einer „Architektur
Freiflächen als variierende Bausteine: Aus 56
der Unschärfe“. Anhand von diversen Studien
polygonalen Modulen entwickelten die Archierforschten die Architekten was nötig ist um die
tekten eine spannende Raumfolge die immer
verlorenen Häuser wieder sichtbar zu machen,
wieder neue Raumsituationen und Blickbezüge
ohne jedoch die Originale zu imitieren. Einzig
auf das Volumen und die Öffnungen der ursprüng­bietet. Durch das freie System hatten die Archilichen Häuser reduziert und durchweg monolittekten zudem die Möglichkeit auf die unterhisch konstruiert, vermitteln die entstanden Neu­schiedlichen Anforderungen einzugehen, denn
bauten die Essenz der Architektur von Gropius.
während der überdachte Pausenhof als ein
Von der ersten Recherche bis zur Fertigstellung
monolithischer, rechtwinkliger Betonbau konzipiert ist, prägt die einzelnen Bereiche der Kinder- erläutert Piero Bruno den Anwesenden die pro­gartengruppen eine lebendige, lockere Geometrie. zesshafte Entstehung der wegweisenden Bauten
sowie die Haltung in einzelnen Fragen. BeispielsMonolith in den Bergen
weise entschlossen sich die Architekten dazu
Im Zuge des Wettbewerbs für eines der beiden
Stützen, die Gropius zu verbergen suchte, die
Stellwerke im Gotthardtunnel im Jahr 2006 ent­aus konstruktiven Gründen damals jedoch
wickelten die Architekten einen eindrucksvollen
unerlässlich waren - beim Neubau entfallen zu
Monolithen vor imposanter Gebirgskulisse. Der
lassen. In der Hoffnung, „dass Gropius nun
ungewöhnliche, skulpturale Baukörper akzentuglücklich sei“, wie der Architekt mit einem Augen­iert das artifizielle Moment des Tals und bildet
zwinkern anmerkte. Mit einem passenden Bild
ein Pendant zu den seitlich hoch aufragenden
der zum Ensemble in Dessau gehörenden Trink­Bergrücken. Obwohl die Nutzung eigentlich
halle – Corbusiers Beitrag zu den Meisterhäueinen horizontalen Bau vorgab entschieden sich
sern – verabschiedete sich Piero Bruno unter
die Architekten für die vertikale Ausrichtung, um
begeistertem Applaus von den Stuttgarter
eine signalhafte Wirkung zu erzeugen. Während
Zuhörern.
die sekundären Räume in einem Turm angeord­net sind, bildeten die Architekten das eigentliche
Kontrollzentrum oberhalb des Turmes als raum­greifende Kanzel aus. Neben den funktional­en
Anforderungen konzipierten die Architekten auch
Mehrwerte im Inneren - wie zum Beispiel riesige
Öffnungen mit Blick auf die Berge. Piero Bruno
gewährt auch einen erfrischend ehrlichen Ein­blick
in das fertige Gebäude, das schlussendlich teils
mehr von der Umsetzung der Arbeitsstättenrichtlinie geprägt ist, als vom gestalterischen Ansatz.
Abschließend nimmt er das Publikum mit auf einen
fotographischen Spaziergang um das Stell­werk,
der den ungewöhnlichen Baukörper im Tiefen-­­
hörsaal lebendig werden lässt.
17 Stuttgart
November Reihe | Universität Stuttgart | 16. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016
18 Stuttgart
Farshid
Moussavi
I
Bericht von Franziska Bettac
Was ist die Funktion
von Stil?
Farshid Moussavi, die dritte Referentin der Stuttgarter
No­vember Reihe, lehrt an so renommierten Hochschulen
wie der Architectural Association (AA) in London oder an
der Harvard Graduate School of Design in Cambridge MA.
Sie ist Architekturtheoretikerin und hat soeben ihr drittes
Buch veröffentlicht.
Das ist bemerkenswert für eine Architektin, die auch in der
Praxis Maßstäbe setzt und aktuell ihr zweites erfolgreiches
Büro, Farshid Moussavi Architects leitet. Bekannt wurde
sie mit ihrem 1993 gegründeten Büro Foreign Office Architects – FOA, insbesondere mit dem 2002 fertig gestellte
Fährterminal von Yokohama. Das ungewöhnliche Holzdeck des Infrastrukturprojekts begeisterte die Fachwelt
und ist auch heute noch eine Referenz, die die Architektin
in ihrem Vortrag an der Uni Stuttgart gerne erwähnt.
Doch zunächst gibt sie einen Einblick in ihr neues Buch „The
Funktion of Style“. Sie beschreibt, wie die Frage nach dem
Stil in einer zeitgenössischen Architekturdebatte verloren
ging, weil er scheinbar nur formale Ziele bediene. Eine sich
ständig verändernde Welt – als Beispiel erwähnt die in
London arbeitende Moussavi den „Brexit“, der schlagartig
dazu führt, das Projekte überdacht, bestimmte Produkte
nicht mehr zugänglich sind oder die internationale Zusammenarbeit erschwert wird – verlange danach, dass Konzepte
und Methoden der architektonischen Praxis ebenso ständig
hinterfragt, neu definiert und angepasst werden müssen.
Moussavi wirbt dafür, auch den Begriff des Stils neu zu definieren – sie vermutet in ihm eine Hilfestellung zeitgenössischen Bauens und Entwerfens.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016
19 Stuttgart
Was ist die Funktion von Stil?
In Zeiten von Open Source und Internationalisierung kann Stil nicht mehr ein Ausdruck von
Autorenschaft oder Nationalstaat sein. Selbst
die Benennung eines Stils nach Entstehungszeit
und Epoche hält Moussavi für überkommen.
Stattdessen proklamiert sie die Rückbesinnung
auf das architektonische Grundelement und
unterstreicht die mikropolitische Entscheidung
des Architekten, die er mit jeder Anordnung
dieser Grundelemente vornimmt. Effekte und
Auswirkungen architektonischer Entscheidung­en, wie beispielsweise Flexibilität, Privatheit
oder Transparenz bezeichnet Farshid Moussavi
als Stil, den es bewusst zu gestalten und
zu entwerfen gilt. Mit Akribie und Genauigkeit
analysiert sie daher Wand, Fenster, Balkon,
Decke etc. und untersucht die verschieden­en
Effekte, die die eine oder andere architektonische Entscheidung auf den Nutzer und sein
Verhalten haben könnte. Banal? Mitnichten!
Denn spannend wird es für die Zuhörer, als
die Referentin diese „Grundlagenforschung der
Architektur“ auf ihre Praxis überträgt und an
ausgewählten Details präzise erläutert, welche
Überlegungen und Abwägungen sich hinter der
jeweiligen architektonischen Setzung verbergen.
Sie wirbt für eine Architektur der Assemblage,
des Hinzufügens und im Prozess mit jedem
neuen Bauteil spezifisch entscheiden, um reaktiv
zu bleiben, in einer von der Veränderung bestim­
mten Gegenwart. Diese Art des Entwerfens
scheint ihr nachhaltiger und widerstandfähiger
zu sein, als eine einzige strukturbestimmende
Entwurfsidee, die konsequent bis ins Detail
umgesetzt werden muss. „Daher liebe ich Werk­pläne! Sie sind voller wichtiger architektonischer
Entscheidungen“, schließt Farhid Moussavi ihre
theoretische Einführung um nun an einigen Pro­jekten – meist mit Baustellenfotos illustriert – zu
zeigen, was dieser Ansatz in der Praxis bedeutet.
Wohngebäude in Montpellier
Die Idee des spezifisch zusammengestellten
Gebäudes, der Assemblage erläutert sie am
Beispiel eines neunstöckigen Apartmentturms
im südfranzösischen Montpellier. Zwei Ziele
soll der Bau erfüllen: Flexibilität der Grundrisse
und maximale Privatsphäre im Außenraum.
Während eine grundsätzliche Varianz der blüten­förmigen Grundrisse durch einen innen liegen­­den Servicekern und Stützenfreiheit leicht nach­vollziehbar ist, erklärt Moussavi die maximale
Privatheit der umlaufenden Balkone buchstäblich im Detail. Von jedem der drei vorhandenen
Balkontypen wurden mögliche Sichtbeziehungen
zum Nachbarn genauestens untersucht. Die Aus­richtung der gekrümmten Balkone ändert sich
je nach Geschossebene und läuft in einer sanf­ten Kurve zur Fassade aus, um den Blick in die
Landschaft zu öffnen und Trennwände zum
Nachbarbalkon zu vermeiden. Kritische Zonen,
in denen doch neugierige Blicke auf den Balkon
des Nachbarn fallen könnten, werden mit einer
spezifisch angepassten, engen Rasterung der
Geländer „entschärft“.
Museum für zeitgenössische Kunst in Cleveland
In Cleveland entwarf das Büro ein Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst, das MOCA .
Der Wunsch nach Nutzungsflexibilität war hier
der Aus­gangspunkt des Arbeit von FMA . Auf der
Grundfläche eines Hexagons erhebt sich ein
kristallartiger Baukörper, der durch seinen Grund­riss mit mehreren Eingängen verschiedene
Szenarien ermöglicht. Die Räume sind multifunktional. Sie können zusammengeschaltet oder
getrennt vermietet werden, wenige Handgriffe
machen aus dem Museumsshop einen Vorführraum für Tanzperformances. Aus der Not einer
abgeschlossenen Fluchttreppe machten FMA
eine Tugend. Während eine repräsentative und
zur Kommunikation anregende Freitreppe offen
durch die Galerieebenen führt, versteckt sich
direkt darunter eine zweite Treppe, die als
kontemplativer Ort den Besuchern eine visuelle
und akustische Pause zwischen den Ausstellungen gönnen soll. Das Gebäude ist mit einer
spiegelnden Edelstahlfassade verkleidet, allerdings ergeben sich durch leichte Dellen in den
streifenförmig angeordneten Panellen Zerr­bilder: Wie ein Kaleidoskop wird die Umgebung
einerseits reflektiert und doch transformiert.
Büroturm in London
Den Abschluss des Vortrags bildet die Vorstellung eines 17-geschossigen Bürohochhauses
in der Londoner City, mit einem unregelmäßigen
Achteck als Grundfläche. Das Gebäude ist
aufgrund der Nachbarbebauungen immer nur
partiell und ausschnitthaft sichtbar, sollte aber
dennoch als ein markantes Objekt in der Stadt
wahrnehmbar sein. Als besonderes Detail erklärt
die Architektin daher die einheitliche Fassade,
ein Vorhang aus schwarzen Glaspanelen, der
auf einem kleinteiligen Drei-Meter-Raster beruht.
Die konkav gebogenen Scheiben ermöglichen
verschiedene Stufen der Transluzenz sowie des
Ausblicks und erzeugen im Gesamten dennoch
eine geschlossen wirkende Ansicht.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016
20 Stuttgart
Farshid
Moussavi
II
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
Stilfragen
Die Architektin Farshid Moussavi in der November Reihe der
Universität Stuttgart Die erste ästhetische Entscheidung,
die Farshid Moussavi für diesen Abend getroffen hatte, war
in einem grauen, ärmellosen Filz aufzutreten, der je nach
Schrittweite mehr oder weniger von ihren silbern spiegelnden Stiefeletten mit hohen Pfennigabsätzen sehen ließ.
In Shiraz geboren, bietet die Harvard-Studentin und –
Professorin, die den Iran 1979 im Alter von zehn Jahren mit
ihrer Familie verließ, ein Musterbild einer erfolgreichen
Flüchtlingskarriere. Zudem beherrscht die Designerin des
Victoria Beckham flagship store in London den Jargon –
nein Diskurs – amerikanischer Universitäten, den sie, ohne
Rücksicht auf eventuelle Sprachbarrieren und ihre nicht
immer sehr deutliche Aussprache, ihren Zuhörern im gut
besetzten großen Tiefenhörsaal der Stuttgarter Universität
um die Ohren warf.
Ihr erstes – 2006 veröffentlichtes Buch – „The Function of
Ornament“, war natürlich schon vom Titel her eine Provokation: Ornament war das, was in der modernen Architektur, gern mit Verweis auf den Vortrag „Ornament und
Verbrechen“ von Adolf Loos, gar nicht ging. Funktion war
der Gegenbegriff dazu: Form follows function, die Form
hat nicht ornamental, schmückend zu sein, sondern ­den
Funktionen zu folgen. Moussavi mischt die Karten neu
und hat seither zwei weitere Bücher, „The Function of
Form“ 2009 und „The Function of Style“ 2015, nachgelegt.
Zu letzterem hat sie im März einen Vortrag in Harvard
gehalten, den sie nun in Stuttgart in nur leicht abgewandelter Form wiederholte.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016
21 Stuttgart
Ein Gebäude, so Moussavi, sei heute einer Viel­zahl von Anforderungen wie Sicherheit, Klimaschutz oder Brandschutz unterworfen, die oft
über das Gebiet des Architekten hinausreichen.
Es sei zudem in Zeiten des Internet, wo viele
Dinge auch ortsunabhängig getan werden
könnten, anderen Anforderungen unterworfen:
Eine Bibliothek etwa sei heute nicht mehr in
erster Linie ein Aufbewahrungsort für Bücher
als vielmehr ein Ort der Begegnung. Die Funk­tion eines Bauwerks determiniert daher nie­mals seine Gestalt. Sie ist vielmehr von einer
ästhetischen Entscheidung abhängig: eine
Stilfrage. Stil ist für Moussavi nicht eine Zutat,
sondern der wesentliche Antrieb hinter dem
Entwurf. Sie spricht auch von Agency, ein ins
Deutsche schwer zu übersetzender Begriff, unter
den Alternativen, die das Wörterbuch anbietet,
trifft Handlungsmacht vielleicht noch am ehesten.
Allerdings müsse man Stil neu definieren.
Traditionell sei damit eine Wiederholung von
Formmerkmalen gemeint, die sich mit einer
Epoche, einer Nation oder einem Architekten
verbinden. Bei der neueren Architektur seit den
1990er-Jahren lasse sich dagegen nicht von
einem einheitlichen Stil sprechen. Auch der Idee
eines Personalstils erteilt Moussavi in Zeiten von
Open Source eine Absage. Wie sie sich den
Gestaltungsprozess vorstellt, illustrierte sie am
Beispiel des Fahrrads und des M16-Sturmgewehrs der US-Streitkräfte, die ständig weiter
entwickelt wurden. Architektur betrachtet sie als
Assemblage heterogener Elemente, nicht um ein
bestehendes Narrativ nach außen zu tragen,
sondern um bestimmte Dinge zu ermöglichen
oder zu verhindern. Sie stützte ihre Thesen mit
berühmten Gebäuden wie dem Smithsonian und
dem Guggenheim Museum und meinte, die
Agency des Architekten bestehe darin, ausgetretene Pfade zu verlassen: etwa wenn er ein Kino
mit Betten statt Sesseln ausstatte. Besonderen
Wert legt Mousavi auf Blickrichtungen. Mit
Bildern fast nackter Menschen in Hotelzimmern
beleuchtete sie das Wechselverhältnis von
Belichtung, Ein- und Ausblicken.
La Folie Divine und One La Défense
Diese Überlegungen übertrug sie sodann auch
auf vier eigene Gebäude: Das zehngeschossige
Wohnhaus „La folie divine“ in Montpellier besteht
aus versetzt übereinander angeordneten, wellig
runden Scheiben. Die Balkone aller 36 Wohn­
ungen sind so konzipiert, dass sie alle eine
180-Grad-Aussicht genießen, ohne dass man
von einem in den anderen hinein sehen kann.
Das nur eine Etage höhere Wohnhaus „One La
Défense“ in Nanterre ist demgegenüber ein
langer Block, dessen einzelne Geschosse
ebenfalls gegeneinander gedreht sind. Jede
Wohneinheit – unten Studierende, oben Eigentumswohnungen – verfügt über einen offenen
Balkon und eine verschließbare Loggia. Schräg
gestellte Lamellen und spiegelnde Trennwände
lassen erwünschte Blickrichtungen zu und
schließen andere aus.
Museum of Contemporary Art in Cleveland, 2012
Als dritten Bau präsentierte Moussavi das 2012
fertig gestellte Museum of Contemporary Art in
Cleveland: ein unten sechseckiger und oben
quadratischer, funkelnder, in sich geschlossener
Kristall mit schrägen Licht-Schlitzen in der blau
glänzenden Verkleidung, die bei Bedarf den Blick
auf die Außenwelt freigeben. Über den weißen
Wänden der Ausstellungsräume öffnet sich wie
ein Nachthimmel ein dunkelblauer Luft- und
Technikraum, den sie als ein Öffnung des „White
Cube“ betrachtet. Eine offene Treppe, die
erlaubt, sich in alle Richtungen gegenseitig in
den Blick zu nehmen, ist der Ort der Begegnung,
des „Socializing“. Wer sich tatsächlich nur die
Kunst ansehen will, kann aber auch ein geschlossenes, gelbes Treppenhaus benutzen, das
zugleich als Feuertreppe und Sound Gallery
dient. Der vierte eigene Bau, den Moussavi
vorstellte, war ein siebzehngeschossiges Bürohochhaus der Aviva Life & Pensions in der
Fenchurch Street in London, dessen Vorhangfassade aus fast schwarzen, konkaven Doppelglas-Elementen zusammengesetzt ist, die in
einem bestimmten Blickwinkel transparent
werden.
Stil, so definiert Moussavi, wiederholt nicht
etwas, was bereits existiert. Stil ist vielmehr eine
intentionale Entscheidung. Die Frage bleibt
allerdings, ob sich mit der edlen, schwarz
verglasten Fassade eines Bürohochhauses für
den fünftgrößten Versicherungskonzern der Welt
nicht doch auch in hohem Maß repräsentative
Werte verbinden. Bei Moussavis schicken
Wohnungen mit Blick über Nanterre oder Montpellier besteht jedenfalls sehr stark die Gefahr,
dass sie zu Stilmodellen für den gehobenen
Lifestyle werden.
22 Stuttgart
November Reihe | Universität Stuttgart | 23. November 2016
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Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
November Reihe | Universität Stuttgart | 30. November 2016
23 Stuttgart
Alexandre
Theriot
Bericht von Franziska Bettac
The only revolutionary
programme …
Der französische Architekt Alexandre Theriot eröffnet seinen
Vortrag der Novemberreihe mit einem Zitat des amerikanischen Architekturkritikers Jeffrey Kipnis: „The only revolutionary programme that can be proposed today is a total lack
of programme.” Theriot versucht in seinem Vortrag darzulegen, warum sich Raumprogramm und Architektur oftmals
gegenseitig im Weg stehen. Die Architektur seines, gemein­sam mit Stéphanie Bru geleiteten Büros Bruther soll vor allem
dem Leben und den Nutzern nicht im Weg stehen – und da­­für scheint es nötig, Raumprogramme nicht abschließend zu
definieren und damit Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft
offen zu lassen.
Das aufstrebende Büro Bruther wurde von Alexandre Theriot
und Stéphanie Bru 2007 gegründet. Mehrere gewonnene
Wettbewerbe im Kulturbereich sowie jüngst auch einige
Direktaufträge, verzeichnet das Portfolio der beiden Pariser
Architekten. Was bedeutet Architektur für den Referenten
des letzten Vortrags der diesjährigen Novemberreihe in
Stuttgart? Theriot definiert Architektur zunächst nicht
über die Funktion, die Struktur oder die Nutzung. Für ihn
ist Architektur eine Verheißung; ein Versprechen, was
sein könnte. Daher betrachten Bruther Projekte als Teil
eines dynamischen Prozesses: Es gibt eine Vorgeschichte,
es gibt Entwurf und Umsetzung und es gibt die spätere
Nutzung, sowie Umnutzung und Adaptierung. Alle diese
Phasen möchte das Büro bei seiner Definition von Architektur im Blick behalten. Das heiße im Umkehrschluss,
so Alexandre Theriot, dass Bruther Gebäude nur für eine
kurze Zeitspanne begleiten – danach gehe es ohne sie
weiter. An einigen Projekten erläutert der Referent, was
dies für seine entwerfende Praxis bedeutet.
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November Reihe | Universität Stuttgart | 30. November 2016
24 Stuttgart
Sport- und Kulturzentrum in Paris
In einem der dichtesten Quartiere von Paris,
Saint-Blaise im 20. Arrondissement, entwickel­ten
Bruther ein Sport- und Kulturzentrum. Die um­ge­bende Wohnbebauung mit typischen Gebäu­den
der 1980er-Jahre schottet sich mehr­heitlich ab
– ein lebendiges Stadtleben fehlte. Bruther defi­nierten einen Platz mit Sportflächen und ent­warfen einen dreigeschossigen Quader mit leicht
konkav nach innen gebogener Fassade. Bodentiefe Verglasungen in den unteren beiden
Geschossen ziehen die Umgebung ins Innere.
Neben der transparenten Erscheinung ist es
vor allem die Fähigkeit des Gebäudes, einen
urba­nen Kontext zu schaffen, die seinen Erfolg
aus­macht. Im Inneren ist wenig vorgegeben.
Es finden Workshops und Sportangebote statt
– die Grundrisse sind simpel und verständlich,
Leitungen laufen offen über die Sichtbetonwände
und die Möblierung haben Bruther den Nutzern
selbst überlassen.
Forschungszentrum in Caen
In unmittelbarer Nähe der Bibliothek von OMA
wurden Bruther – nach gewonnenem Wettbewerb
– in Caen beauftragt, ein Kultur- und Forschungszentrum für die junge Generation zu bauen. Idea­lerweise hatte der beauftragende Verein (noch)
keine konkrete Vorstellung darüber, welche
Aktivitäten in dem Gebäude stattfinden sollen.
So konnte der Bau ganz nutzungsoffen ent­wickelt
werden. Für den Entwurf stand die Idee eines
vertikalen Kaufhauses Pate: flexible, offene
Flächen und eine transluzente Kuppel als sicht­bare Landmarke auf dem Dach. Entstanden ist
ein aufgeständerter, viergeschossiger Bau mit
multifunktionalen Räumen. Alle Etagen können
einzeln erschlossen oder somit auch separat
vermietet werden – als Konferenzfläche, Ausstellungsraum, FabLab mit 3D-Druckern und Werkstätten oder als Treffpunkt für temporär dort
arbeitende junge Forscher. Die Fassade setzt
sich aus vorfabrizierten Elementen zusammen:
Folienkissen und große Glasscheiben hängen
Wohnhaus in Bordeaux
an einer reduzierten, industriell anmutenden
Das „Super L“ genannte Wohnprojekt in Bordeaux Stahlkonstruktion.
befindet sich im Gewerbegebiet – und in unmittelbarer Nachbarschaft zu mehreren typisch-­
Fazit
französischen Riesensupermärkten. Langfristig
Zum Abschluss unterstreicht Alexandre Theriot
soll sich das Gesicht des Gebietes wandeln –
noch einmal, dass für Bruther ihre Gebäude
kostengünstiger Wohnraum ist hierbei ein erster
mit Schlüsselübergabe nicht fertig sind. Die
Baustein. Bruther reagierten mit einem aufgeArchitekten wollen den Moment abpassen,
ständerten Block, der 150 nahezu identische
an dem sie genug entschieden haben. „Wann
Wohneinheiten beinhaltet. Die Strategie, ein
müssen wir aufhören, um das Gebäude ausreiWohnhaus wie einen standardisierten Bürobau
chend veränderlich und anpassungsfähig zu
zu entwickeln, mutet zunächst brutal an. Die
belas­­sen?“ Dieser Frage versuchen sich Bruther
sehr einfache und reduzierte Struktur ermöglicht undogmatisch zu nähern. Dem Gebäude und
jedoch großzügige Loggien, sowie im Ausbau
dem Prozess die maximale Freiheit lassen, ist
und für spätere Transformationen ungeahnte
das Ziel ihrer Arbeit – eine Arbeit, die sich sehen
Freiheiten.
lassen kann.
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November Reihe | Universität Stuttgart | 30. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
26 Stuttgart
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Jour Fixe | ABK Stuttgart | 15. November 2016
27 Stuttgart
Uwe
Schröder
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
Ins Verhältnis setzen
Die Atmosphäre ist gelöst. Es gibt Eintopf
aus Wegwerfgeschirr und Getränke. Wen es
im Glaskasten der Staatlichen Akademie der
bildenden Künste Stuttgart ein wenig fröstelt,
der kann sich auch direkt auf die Heizkörpern
setzen. Die Konzeption der Jour-Fixe-Reihe
„Über Dauer“ wurde von einem StudierendenTeam erarbeitet. Die Veranstaltung beginnt
mit akademischem Viertel.
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Jour Fixe | ABK Stuttgart | 15. November 2016
28 Stuttgart
Über Dauer: Damit ist die Frage angesprochen,
wie es in unserer schnelllebigen Welt um die
Lebensdauer von Bauwerken bestellt sei. Was
ist nachhaltiger: Abriss und Neubau nach
heutigen Standards oder Renovierung? Uwe
Schröder beleuchtet die Frage allerdings noch
einmal anders, nämlich in Bezug auf die Tradition: was die Generationen überdauert. An
sieben eigenen Entwürfen, in der Mehrzahl in
Bonn, zeigt er, wie und woran er sich orientiert:
unter anderem an Karl Friedrich Schinkel,
Leon Battista Alberti, Eugène Viollet-le-Duc
und Gottfried Semper. Also an der klassischen
Baugeschichte. Das nennt er Referenz: sein
erstes Stichwort. Mit einem 1996 bis 2000
erbauten städtischen Wohnhaus bezieht er sich
auf einen Musterentwurf Schinkels. Mit zwei
risalitartigen Vorbauten dunkeln Ziegeln um
einen Atriumhof fügt sich der Bau mit einer Geste
des Empfangs in die Blockrandbebauung ein.
Schröders zweiter Punkt: die Idee. Das Haus
am Cöllenhof gibt durch einen fünfgeschossigen
Turm einer undefinierten städtebaulichen Situ­ation einen Bezugspunkt und umschließt zu­gleich, zweifach abgetreppt, einen Innenhof.
Dazu ist zu sagen, dass Schröder ein Schüler
von Oswald Mathias Ungers ist. Seine Grund­
einheit ist das Quadrat oder der Würfel. Das
Haus auf der Hostert etwa, die außen weiß
verputzte Villa eines Bonner Kunstsammlers,
steigt von einem dreigeschossigen Würfel in
zwei Stufen zum Rheinufer hinab. Alle Proportionen, Schröders Punkt 3, bis hin zu den Möbeln
und Türklinken, sind von einem Modul, der
Pfeilerdicke abgeleitet und entsprechen zugleich
menschlichen Körpermaßen wie dem Fuß oder
einer Fingerbreite.
Auf sehr interessante Weise ging Schröder im
Fall des studentischen Wohnhofs Rom.Hof auf
den Ort ein: Punkt 4 seiner Ausführungen. In
der unmittelbaren Umgebung finden sich wenig
Bezugspunkte. Also orientierte er sich an den
etwas weiter entfernten Bauten der Universität:
Der drei- bis viergeschossige, quadratische
Bau mit zwei Innenhöfen und einem Quertrakt
bildet wie das Hauptgebäude der Uni, das kur­fürstliche Schloss, eine Vierflügelanlage. Im
Material besteht Schröders Bau wie einige Uni­versitätsbauten in Schlossnähe aus Ziegeln
in zwei Farben: unten vorwiegend rot, nach oben
zu­nehmend gelb. Der Bezug ist erkennbar,
die Anmutung schlicht und mit den rundbogigen
Fensteröffnungen doch auch sehr klassisch.
„Porös“ hatte Schröder seinen Vortrag und
seinen Punkt 5 überschrieben. Damit meint er,
in Anlehnung an Walter Benjamins Beschreibung
von Neapel, die Durchdringung von privatem
und öffentlichem Raum. Das Prinzip erläuterte
er an einem Galerie- und Atelierhaus, die mit
dem Bestandsbau einer alten Villa einen Hof
umschließen, sodass in der Mitte eine zu den
angrenzenden Straßen hin offene Piazzetta
entsteht. Dass manchmal äußere Rahme­nb
­ e­-
dingungen, die den Architekten zwingen,
von der Idealform des Quadrats oder Würfels
abzuweichen, durchaus eine Bereicherung sein
können, zeigten seine Entwürfe für die Werkbundstadt auf dem so genannten Tanklager in
Berlin-Charlottenburg. 33 Architekten waren
eingeladen, jeweils drei Entwürfe einzureichen.
Schröder gab seinen drei hoch aufragenden
Ziegelbauten, alle auf unregelmäßigen Grundrissen mit 60-Grad-Satteldächern, verschie­­dene Charaktere – sein Punkt 6: Den vier- bis
sechsgeschossigen niedrigsten Bau mit halb­
runden Thermenfenstern nennt er archaisch.
Im Gegensatz dazu steht ein turmartiger, sieben­geschossiger Bau mit hochformatigen Fensteröffnungen, den er als romantisch bezeichnet.
Der dritte, zehngeschossige Bau, erinnert mit
vertikalen, von flachen Segmentbögen abgeschlos­senen Feldern, die, dreiteilige Fenstergruppen
ädikula-artig zusammenfassen, auf gelungene
Weise an Fabrikbauten des 19. Jahrhunderts.
Nur am deutschen Pavillon der Biennale von
Venedig scheitert Schröder – wie andere vor ihm.
Unter seinem siebten Stichwort, Zeit, fragt er
nach dem Umgang mit diesem problematischen
Bauwerk, das aus nationalsozialistischer Zeit
noch das Stichwort „Germania“ über dem
Eingang trägt. In seiner Auffassung handelt es
sich um den Bautypus einer Villa, also eines
privaten Gebäudes, den er durch eine gemauerte
Ummantelung mit zwei kleinen, seitlichen
Zugängen statt des zentralen Portikus sowie
Umorientierungen im Inneren in ein öffentliches
Gebäude, ein Forum umzuwandeln vorschlägt:
um die Geschichte nicht zu leugnen, aber zu
transformieren. „Seltsam, wie das Gebäude älter
aussieht als das, das vorher da war“, wundert
sich der Architekt über seinen eigenen Entwurf.
In der Tat scheint vor allem ein kassettiertes
Tonnengewölbe auf antike Bauten des Forum
Romanum zu verweisen. Aber das Grundprinzip
des Rationalismus, das Bauen im Quadrat, in
Kombination mit den rundbogigen Fensteröffnungen, erinnert doch an den Palazzo della
Civiltà Italiana, das EUR-Gebäude in Rom. Nicht
ganz zufällig, denn zwischen dem Rationalismus
der Architekten des „Colosseo quadrato“ und der
Ungers-Schule besteht eine enge Verwandtschaft. Nur dürfte es denn doch nicht in Schröders Absicht gelegen haben, den nationalsozialistischen Pomp durch Anklänge an den italienischen Faschismus zu ersetzen.
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Runkt 7 Reihe | HFT Stuttgart | 24. November 2016
29 Stuttgart
John Cranko
Schule
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
Ein genialer Entwurf
„Ein genialer Entwurf“, sagt eine Architektin,
die in einem anderen Büro am Wettbewerb für
die John Cranko Schule in Stuttgart teilgenommen hat: Als vergleichsweise Neulinge
hatten Burger Rudacs aus München 23 andere
Büros, darunter Berühmtheiten wie Zaha Hadid
oder Delugan Meissl, auf die Plätze verwiesen.
Im Rahmen des BDA Architekturnovembers
führten Birgit Rudacs und Stefan Burger zwei
Gruppen gegenläufig durch die recht große
Baustelle, die mittlerweile schon ziemlich weit
gediehen ist: Ungefähr eine Etage des getrep­
pten Gebäudekomplexes zwischen der
Werastraße und dem Urbansplatz fehlt noch,
dann ist der Rohbau fertig. In der Punkt 7
Reihe der Hochschule für Technik erläuterte
Burger am Abend die Konzeption.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Runkt 7 Reihe | HFT Stuttgart | 24. November 2016
30 Stuttgart
Nicht ganz vergessen sind die zahlreichen
Querelen, die das Projekt immer wieder in Frage
gestellt haben: Es ging um den Erhalt einiger
Bäume, die nun wohl doch überwiegend der
Baustelle weichen mussten, sowie eines zwar
nicht mehr genutzten, aber geschützten unterirdischen Wasserspeichers, über den die Konstruktion am Rande hinweg geführt werden muss.
Nachdem die Kosten anfangs zu knapp angesetzt worden waren, war das Vorhaben erst nach
einer Spende des Unternehmens Porsche wieder
in Gang gekommen. Dann wieder mussten sich
die Architekten dagegen zur Wehr setzen, dass
ihre geplante Sichtbetonfassade durch Standard-Verbundplatten ersetzt wurde. All dies ist
Geschichte und findet nun nur noch insoweit der
Erwähnung, wie es auf der Baustelle sichtbar
oder vor Teilnehmern der Führung angesprochen
wird.
Die schlagende Idee des Büros bestand darin,
sowohl oben wie unten ebenerdige Eingänge
vorzusehen und dazwischen den – oder die –
Baukörper stufenweise den Hang hinabsteigen
zu lassen. Oben an der Werastraße schließt die
Ballettschule mit Internat, unten am Urbansplatz
die Probebühne des Stuttgarter Balletts an die
Traufhöhe der Bestandsbauten an. Von der
jahrzehntelang weitgehend unbebauten Freifläche oberhalb des zentralen Verkehrsknotens
der Stuttgarter City ist noch eine schmalere
Frischluftschneise neben dem Gebäudekomplex
geblieben. Der Bau selbst nützt, wie Burger im
Vortrag einräumt, die Restfläche maximal aus.
Die große Schwierigkeit bestand in der Umsetzung des „genialen Entwurfs“. Da war zum einen
das „Bauen am Rutschhang“, wie Rudacs sich
ausdrückt: Von Problemen will der Bauleiter
nichts wissen, doch es hat länger gedauert als
geplant, diesen Hang mit seitlich im Berg verankerten Bohrpfählen zu befestigen. Umso mehr,
als die Baugrube oben unmittelbar neben einem
fünf, die zwei Untergeschossen mitgerechnet
sogar sieben Stockwerke hohen Bestandsbau
senkrecht abfällt. Um die Zeitverzögerung
aufzufangen, wurde im März 2016 an zwei Stellen
gleichzeitig mit dem Bau begonnen. Die obere
Baustelle des Internats und die untere der
Probebühne sind nun seit kurzer Zeit in der Mitte
zusammengewachsen. Dazwischen schieben
sich zwei mal vier Ballettsäle übereinander, die
kleineren jeweils 12 mal 12, die größeren 15 mal
15 Meter groß.
Rudacs hat auch den Tragwerksplaner mitgebracht, der sogleich die rhetorische Frage stellt:
„Wo sehen Sie hier ein Tragwerk?“ Die Antwort
heißt: nirgends. Um die sieben Etagen in einem
Höhenunterschied von 21 Meter unterzubringen,
musste die Deckendicke auf das absolute
Minimum beschränkt bleiben. Und das bei
Decken, die bis zu 24 mal 30 Meter große Räume
überspannen: dies sind die Maße der Probebühne. Genau aus diesem Grund stehen immer
noch Baustützen dicht an dicht in dem dreige-
schossigen Saal, dessen Decke zum Zeitpunkt
der Führung schon seit zwei Wochen fertig
betoniert ist. Sie müssen stehen bleiben, bis
auch der Beton der darüber befindlichen Säle
und Raume ausgehärtet ist. Denn die Träger der
Decke sind die Wände der darüber befindlichen
Räume. Dadurch kommt aber am Auflager auf
einer kleinen Fläche von nur 35 mal 35 Zentimetern das gesamte Gewicht an: eine Last von
2 000 Tonnen, wie Burger im Vortrag ausführte.
Um dies zu bewältigen, haben die Tragwerksplaner ein eigenes Knotenblech entwickelt, das
nach Abschluss der Arbeiten hinter der leicht
aufgehellten grauen Sichtbeton-Oberfläche
verschwunden sein wird.
Gern hätten Burger Rudacs eine Bretterschalung
verwendet, mussten sich aus ökonomischen
Gründen jedoch mit Dreischicht-Schaltafeln
begnügen, die sich glücklicherweise als so
qualitativ hochwertig erwiesen, dass sie öfter als
veranschlagt verwendet werden können und
dabei sogar jedes Mal etwas mehr von ihrer
Maserung auf die Betonoberfläche übertragen.
Sichtbeton dominiert den Bau innen und außen.
In den Ballettsälen ist wie üblich eine Wand voll
verspiegelt, die anderen schon aus akustischen
Gründen verkleidet, und der Boden besteht aus
einem hellen, glänzenden Belag. Die Belichtung
erfolgt durch Nord- oder Oberlichter, die auch die
Flure mit Tageslicht versorgen. Von der oberen
Ebene fällt der Blick jeweils in den zweigeschossigen Saal, so dieser nicht durch einen Vorhang
geschlossen wird. Auf der Baustelle war zu
spüren, dass sich die Beteiligten mit viel Engagement den zum Teil schwierigen Herausforderungen stellen und auf das Erreichte stolz sind.
Burgers Vortrag am Abend ging allerdings zu
großen Teilen nicht sehr viel über das hinaus, was
sich schon auf den ersten Blick den Grundrissen
und Schnitten entnehmen lässt: die Einfügung
ins Stadtbild, die Rhythmik der Baukörper, die
Höhenstaffelung, die Ausrichtung. Teilweise
musste er gar mit Beschreibungen nachhelfen,
wo sein Bildmaterial offenbar auf der Leinwand
viel heller erschien als auf seinem Bildschirm.
Der Zwischenstand zeigt die Architekten zugleich
von ihrer größten Stärke und Schwäche. Die
Klarheit der Raumkonzeption, die Einfügung ins
Stadtbild, das Belichtungskonzept und die
reduzierte, schlichte Sichtbeton-Ästhetik sind
an dieser Stelle wohl kaum zu übertreffen. Doch
ohne die gewaltigen Substruktionen hätte sich
der Entwurf an dieser Stelle niemals realisieren
lassen. Und ohne die Materialschlacht der Sta­ti­ker wäre die Idee der 24 Meter weiten stützenlosen Decke über der Probebühne ungefähr so
viel wert wie ein Kartenhaus.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Vortragsreihe Architekturforum | Freiburg | 15. November 2016
31 Freiburg
Snøhetta
Artikel von Gisela Graf
… und das Gespür für Schnee
Patrick Lüth von Snøhetta spricht im Freiburger
Konzerthaus über die Bedeutung von Landschaft für das norwegische Architekturbüro.
Die Snøhetta ist einer der höchsten Berge
Norwegens. Besonders markant sind die drei
fast immer schneebedeckten Gipfel. Das
Osloer Architekturbüro Snøhetta hat sich nicht
nur mit Namen und Logo dem Berg verschri­
eben, sondern er ist auch identitätsstiftendes
Motto für das Team, das ihn jedes Jahr
gemeinsam besteigt. Das ist nicht so nebensächlich wie es klingt, zumal die Landschaft
bei Snøhetta eine große Rolle spielt. Die in
Skandinavien ausgeprägte Liebe zur Natur
und den starken Gemeinschaftssinn durften
die 340 Zuhörer im Freiburger Konzerthaus
nun zum zweiten Mal – nach C.F. Möller aus
Aarhus im Jahr zuvor – erleben. Dieser Vortrag
war Teil einer Veranstaltungsreihe, die das
Architekturforum Freiburg e.V. in Kooperation
mit der Stadt Freiburg, der FWTM, dem BDA
und der Architektenkammer Baden-Württemberg und mit Unterstützung der Firmen
Caparol und Jung einmal im Jahr durchführt.
Eines der bekanntesten Bauwerke ist sicherlich
das Opernhaus in Oslo, das 2008 fertiggestellt
wurde. Wie eine Eisscholle, die an der Nordseeküste gestrandet ist, ragt der Bau flach aus dem
Wasser und faltet sich mit einer breiten begehbaren Rampe hinauf bis zum Dach. Der massive,
weiße Carrara Marmor unterstreicht diesen
winterlichen Eindruck, kleine Unebenheiten
machen den Boden ähnlich unregelmäßig wie
in der Natur. Damit haben die Architekten aus
einem Gebäude eine künstliche (Schnee-)
Landschaft mitten in der Stadt geschaffen: Man
kann der Oper buchstäblich aufs Dach steigen,
und das ist willkommen. Snøhetta wollte damit
die Oper zu einem öffentlichen Ort für alle
machen, und nicht nur für ein paar wenige Opernbesucher. Im Innern überzeugt der Bau mit einer
eindeutigen Materialwahl: es dominiert massive
Eiche.
Vortragsreihe Architekturforum | Freiburg | 15. November 2016
„Wir versuchen immer, soziale Landschaften aus
unseren Projekten zu machen und diese auch bei
Investoren durchzusetzen“, betonte Patrick Lüth,
der die Innsbrucker Dependance leitet. So wird
Snøhetta in Bozen die Seilbahnstationen auf den
Virgl zu einer zwar über den Bergrand hinaus­
kragende, begehbare Rotunde gestalten, die
sich trotz der auffälligen Form in die Landschaft
integriert und einen weiten Panoramablick ins Tal
freigibt.
Klein und fein ist wiederum der Norwegian Wild
Reindeer Centre Pavilion mitten im Dovrefjell
Nationalpark, der die sagenumwobene Snøhetta
umgibt. Von hier aus können Wanderer wilde
Rentiere und Moschusochsen beobachten, den
grandiosen Ausblick genießen und sich zugleich
in einem geschützten, höhlenartigen Raum auf­halten und wärmen. Von außen ist der Pavillon
ein rechteckiger Körper mit klaren Linien, der sich
von der kargen Landschaft abhebt, im Innern
wirken die von einer Schiffbaufirma ins Kiefernholz gefrästen organischen Formen wie von Wind
und Wetter geschliffen.
32 Freiburg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Ebenso erlebbar war, wie sich diese Werte in
der Arbeitsweise und damit im Werk des Osloer
Büros ausdrücken. Die kreativen Prozesse
verlaufen interdisziplinär und interaktiv – auch
Landschaftsarchitekten und Designer arbeiten
im Büro mit, das im Übrigen gerade die neuen
norwegischen Banknoten gestaltet. Entscheidungen werden kollektiv getroffen. Zur Diskussion – und nicht erst zur Präsentation für den
Auftraggeber – dienen selbst hergestellte
Modelle. Das ist aufwändig, aber kommunikationsstark und wirkungsvoll, wie die vorgestellten
Projekte belegen.
Die Freiburger hätten übrigens beinahe „einen
Snøhetta“ vor der Haustür gehabt: Für den Ent­wurf des Hotel Belchenhaus erhielt das Büro den
2. Preis. Ein Hochhaus auf dem Belchengipfel
wäre freilich wagemutig gewesen, gab Lüth selbst
zu, schwärmte aber doch von der Aussicht auf
den Schwarzwald, die man von dort gehabt hätte.
Wer nach diesem Bericht den Eindruck hat,
Snøhetta hätten eine Vorliebe für mächtige
Bergmassive und raue Winterlandschaften, der
sei daran erinnert, dass sich das Büro auch aufs
Bauen in der Wüste versteht: So nähert sich
gerade das King Abdulaziz Centre for World
Culture in Saudi-Arabien seiner Fertigstellung im
Jahr 2017.
33 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELRAUM Ausstellung | 24. Oktober — 28. November 2016
34 Stuttgart
Architektur auf
neuen Wegen
Im BDA -Wechselraum präsentieren sich
16 junge Büros.
Das soll es in Zukunft regelmäßig geben:
16 junge Büros stellen sich im BDA-Wechselraum
vor, gefördert – nomen est omen – von der Firma
Jung. Jung definiert sich als nicht über 45. Um
keinen zu bevorzugen, präsentieren alle ihre
Arbeit auf 35 postkartengroßen Feldern, kurz
gefasst in der Formel: 35 × DIN A6 ≤ 45. Hinter
dem einheitlichen Format verbirgt sich natürlich
eine große Vielfalt. Gleich zwei Duo-Partnerschaften haben sich aus dem Büro Behnisch
heraus selbständig gemacht: Das Büro Yonder
ist aufgefallen durch schräge graue Holzhäuser
in Vorarlberg und im Allgäu. Reichel Schlaier ist
es gelungen, bei Kärcher in Winnenden nicht nur
einen großen Auftrag zu ergattern, sondern auch
mit dem Kamin der ehemaligen Ziegelei ein Stück
Ortsgeschichte zu erhalten. Das Studio LTA
machte sich dagegen, gefördert durch ein
Gründerstipendium, direkt nach dem Studium
am Leichtbau-Institut bei Werner Sobek selbständig. Von M gewannen ohne jegliche vorherige Referenz den Wettbewerb zum Luther-Sterbehaus in Eisleben und durften dann auch
bauen. MoRe, das sind Fee Möhrle und Tobias
Martin Reinhardt, haben beide in Stuttgart
studiert, sind dann in Freiburg und Hamburg
getrennt marschiert, um nach Wettbewerbserfolgen im Geschosswohnungsbau fürderhin
vereint zu schlagen.
Bei Franke Seiffert liegt der Schwerpunkt auf
Kindertagesstätten und anderen öffentlichen
Bauten, bei Danner Yildiz aus Tübingen auf
Artikel von Dietrich Heißenbüttel
Stuttgarter Zeitung, 09.11.2016
Wohnbauten. Wer sich wie Seyfried Psiuk in
Schwäbisch Gmünd etablieren will, muss
dagegen flexibel bleiben. Unterschiedliche
Herangehensweisen zeigen sich auch in der
Präsentation. Steimle Architekten bringen
auf den Postkarten elf kleine Modelle unter.
Andere wie Coast oder Somaa, beide spezialisiert auf Innenarchitektur aber nicht nur,
ironisieren den Gedanken der Kleinformat-Leistungsschau und präsentieren sich
mit einer Kuckucksuhr oder im Kurzvortrag
zur Eröffnung mit einer „Peep Show“, die
Blicke hinter die Kulissen gewähren will.
Gegensätze auch hier: Die beiden Architekten
von Raumspielkunst, die unter anderem ganz in
schwarz das Restaurant „noir“ am Marienplatz
eingerichtet haben, legten eine überzeugende
Spoken-Word-Präsentation hin, während das
durchaus Performance-erfahrene Studio
Umschichten mit dem durchgetakteten Format
weniger gut zurecht kam. Mit dem ständigen
Recyceln vorgefundener Materialien geht das
Duo aus Peter Weigand und Lukasz Lendzinski
jenseits konventioneller Architekturvorstellungen
ganz eigene Wege. Auf ganz andere Weise tun
dies auch Ferdinand Ludwig und Daniel Schönle,
die mit Konstruktionen aus lebenden Bäumen
das Verhältnis von gebauter und natürlicher
Umgebung neu definieren. Darüber was jung
heißt, reflektierte am Ende der Vorstellungsrunde
Stephan Birk, der mit Liza Heilmeyer und Martin
Frenzel 2010 bereits die Auszeichnung „Europe
40 under 40“ gewann.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELGESPRÄCH | 14. November 2016
35 Stuttgart
Wechselgespräch
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
Die Problematik
der Wohnhochhäuser
In Stuttgart fehlt bezahlbarer Wohnraum. Die Einen
wollen neue Baugebiete ausweisen, die anderen
beharren auf Innenentwicklung. Aber lassen sich
durch Nachverdichtung genügend Wohnungen bereitstellen, ohne sehr viel mehr in die Höhe zu bauen?
Auf diese aktuelle Frage kam Jörg Weinbrenner beim
37. BDA Wechselgespräch über Wohnhochhäuser
zu sprechen, nachdem er zuerst an die Konkurrenz
zwischen der Bank of Manhattan und dem Chrysler
Building 1937 sowie an den Wettlauf der Giganten
heute zwischen Dubai, Saudi-Arabien und China erinnert hatte. finden, ist eine entscheidende Frage: für
den Berufsstand und seinen Verband, für die weitere
Entwicklung der Architektur und damit auch für die
Welt, in der wir leben.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELGESPRÄCH | 14. November 2016
36 Stuttgart
Moderator Thomas Jocher rückte die Dimensionen zurecht. Die drei wichtigsten Hochhäuser
in Stuttgart sind für ihn der Tagblattturm, die
Zwillings-Hochhäuser Romeo und Julia von Hans
Scharoun und die Universitätsgebäude im Stadtzentrum, wo er auch lehrt. Ein Hochschullehrer
stelle immer eine Definition an den Anfang, bemerkte er selbstironisch: Als Hochhaus gelte in
Deutschland ein Gebäude, das höher sei als 22
Meter: Da bleibt bis 500 Meter noch viel Luft
nach oben. Seine Doktorandin Yi Li hat Ultra-­
Wohnhochhäuser, wie sie es nennt, vorwiegend
im asiatischen Raum untersucht: das sind
Gebäude über 100 Meter. Sie zeigte dazu das
geschwungene, zwischen 1957 und 1966 erbau­te Edificio Copan in São Paulo, das bis heute
größte Wohngebäude der Welt: 140 Meter hoch,
Heim für 5000 Bewohner.
Von solchen Superlativen und von der Stadt
Hongkong abgesehen, wo die meisten Ultra-­
Wohnhochhäuser stehen, lässt sich die Diskussion, ohne dem Gesprächsverlauf im Detail zu
folgen, so zusammenfassen: Wohnhochhäuser
haben einige strukturelle Probleme, können aber
auch Vorteile bieten. Li nannte zwei Gründe,
Hochhäuser zu bauen: Bodenknappheit und
Prestige. Hochhäuser seien Symbol der erfolgreichen Teilnahme am kapitalistischen Wirtschaftssystem. Sie sind allerdings grundsätzlich teuer:
nicht nur im Bau, sondern auch im Unterhalt.
Aufzüge, Sicherheitsvorkehrungen, Apparaturen
zur Erhöhung des Drucks im Wasserleitungssystem, damit die Dusche auch ganz oben noch
funktioniert: Der technische Aufwand ist hoch.
Hochhäuser sind oftmals reinste Gated Communities, wie der Stadtplaner Franz Pesch kritisch
anmerkte. Die oberen Etagen sind immer Luxus
– aber wie sieht es weiter unten aus?
Hochhäuser fordern viel von ihrer städtischen
Umgebung, stellt Li fest. Dies lässt sich in zwei
Richtungen verstehen. Erstens: sie dominieren
ihre Umgebung – und es gibt „Beispiele, die an
Banalität nicht zu übertreffen sind“, wie Jocher
einwarf. In der Tendenz nach oben sieht Pesch
allerdings kein grundsätzliches Problem.
Europäische Städte seien immer auf die Skyline
hin erbaut worden, bemerkte er mit Verweis
auf den Kölner Dom. Eine bewusst kalkulierte
Höhenentwicklung ist für ihn ein „klassisches
städtebauliches Mittel.“ Wie bereits Theodor
Fischer, der Ahnherr der Stuttgarter Architekturschule, setzt er auf eine Steigerung der Topografie durch die Bebauung. Als Gegenbeispiele
nannte er den gerade in Bau befindlichen GewaTower in Fellbach sowie vier weitere Hochhäuser
in Reutlingen, aber auch asiatische Städte, wo
eine monotone, gleichbleibende Gebäudehöhe
ein „stadträumliches graues Rauschen“ hervorbringe. Jocher hatte allerdings ein Gegenbeispiel
parat: Auf einer Exkursion mit Li hat er eine
5-Millionen-Stadt nördlich von Hongkong
besucht, wo gerade ein riesiges Stadtmodell
ausgestellt war, das von den Bürgern eifrig
diskutiert wurde.
Zweitens fordern Hochhäuser viel von ihrem
unmittelbaren Umfeld. Sie sind von außen nicht
immer schön anzusehen. Die unteren Etagen
sind oft wenig attraktiv, der Eingangsbereich
abweisend und auch vom Mikroklima her unwirtlich. Pesch wünscht sich, im Vorbeigehen immer
etwas zu erleben, ob sich im Erdgeschoss ein
Café, Läden oder andere öffentlich zugängliche
Räume befinden. Jocher fragte, ob sich vom
Wohnumfeld etwas in das Gebäude hinein holen
ließe, etwa ein Schwimmbad oder Kindergarten.
Er warnte aber zugleich, wenn der Bau nicht auch
„für Penner zugänglich“ wäre, gehe öffentlicher
Raum verloren.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELGESPRÄCH | 14. November 2016
37 Stuttgart
Zu all diesen Punkten hatte Jakob Dunkl aus
Wien einiges beizutragen, der dort mit dem Büro
querkraft einige sehr interessante Wohnhochhäuser gebaut hat. Ohne hohen Aufwand
gelangt das Büro zu pfiffigen Lösungen: 4
Kilometer Gartenzäune aus dem Baumarkt
verbinden sich im 100 Meter hohen Citygate
Tower zu einer am Bildhauer Tony Cragg orientierten, rauen Außenhaut, die zugleich die
Fallwinde bremsen soll. Im Sockel befinden sich
ein mehrgeschossiges Foyer, ein Einkaufszentrum mit begrüntem Dach und ein Kindergarten.
Nur die obersten acht der 35 Etagen enthalten
frei finanzierte Eigentumswohnungen, die
übrigen zum Teil geförderte Mietwohnungen. Ein
auf farbpsychologischen Untersuchungen
basierendes Farbkonzept des Künstlers Heimo
Zobernig erleichtert die Orientierung im großzügig belichteten Erschließungskern. „Vertikales
Dorf“ nennen die Architekten das. Der Bau steht
direkt an der U-Bahn-Haltestelle. Dass ein Haus
mit 200 Wohnungen 200 Stellplätze im Keller
brauche, hält Dunkl für Unsinn: „Was gibt’s
dümmeres als stehendes Blech?“ fragte er und
forderte: „Altes Denken weg!“
Die Bewohner seien nach Umfragen alle sehr
zufrieden, behauptete er. Das wollte Jocher so
nicht stehen lassen. Anfangs sei dies immer so,
dies hätten Untersuchungen ergeben. Dunkl
hatte aber auch ein historisches Beispiel parat,
die Wohnanlage Alt-Erlaa von Harry Glück aus
den 1970er-Jahren. Um die 80 Meter hoch sind
die drei 400 Meter langen 23- bis 27-geschossigen Blöcke. In den unteren Etagen terrassenartig angeschrägt, sind sie bis heute sehr
beliebt. Dies liegt, ebenso wie im Fall des Citygate Tower und weiterer Wohnhochhäuser von
querkraft, nicht allein an den Architekten. Dunkl
machte deutlich, dass die Baubestimmungen der
Stadt Wien wesentlichen Anteil am Erfolg haben.
Die Stadt hält genügend Bauland in eigenem
Besitz. Sie fördert sozialen Wohnraum. Sie
schreibt bei Hochhäusern Wettbewerbe vor. Und
sie verlangt, dass diese über die reine Wohnoder Bürofunktion hinaus auch etwas für die
Gemeinschaft leisten und gewährt dafür im
Gegenzug kleine Vergünstigungen.
Zum Erfolg von Alt-Erlaa hat allerdings auch der
hervorragende Service der Hausverwaltung.
maßgeblich beigetragen. Was Dunkl nicht
erwähnte, ist, dass die Diskussionen um Fallwinde und Orientierungslosigkeit, wie sie in
seinen Bauten Berücksichtigung finden, sich
gerade an Alt-Erlaa entzündeten. Der geplante
73 Meter hohe Wohnturm am Heumarkt in
Sichtweite des Belvedere, der das historische
Zentrum Wiens den Weltkulturerbe-Titel kosten
könnte, kam ebenfalls nicht zur Sprache. Offen
blieb auch, trotz Fragen aus dem Publikum, was
die Erkenntnisse aus dem Gespräch für Stuttgart
bedeuten. Dass die städtebauliche Anbindung
des Hochhaus „Cloud 7“ im Europaviertel
gelungen sei, wollte niemand behaupten. Jocher
resümierte, beim Bau von Hochhäusern müsse
man „saubere Forderungen stellen.“
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELRAUM Ausstellung | 24. Oktober — 28. November 2016
38 Stuttgart
Nicht älter
als 45
Bericht von Dietrich Heißenbüttel
Was machen junge Architekten anders?
Zur Finissage der Ausstellung 35 × DIN A6 ≤ 45 im
BDA-Wechselraum diskutiert BDA-Bundesgeschäftsführer Thomas Welter mit drei jüngeren Architekten.
In der Ausstellung 35 × DIN A6 ≤ 45, die im Rahmen
des BDA -Architekturnovembers im frisch renovierten
Wechselraum im Stuttgarter Zeppelin Carré zu sehen
war, hatten 16 junge Büros ihre Arbeiten vorgestellt:
jeweils auf 35 Postkarten, eine davon zum Mitnehmen.
Jung bedeutete in diesem Fall nicht älter als 45: So
erklärt sich die Arithmetik des Titels. War die Ausstellung zur Vernissage proppenvoll und auch während
der Laufzeit gut besucht, so waren zur abschließenden Diskussion nicht mehr ganz so viele Gäste
gekommen. Und auch einer der angekündigten Teilnehmer, Wolfram Putz vom Büro Graft aus Berlin, war
verhindert. Das hielt Thomas Welter, den Geschäftsführer des BDA -Bundesverbands, keineswegs davon
ab, die drei anwesenden Diskutanten gut gelaunt
mit Fragen zu löchern. Denn die Antworten interessierten ihn selber. Wie sich jüngere Büros in der
heutigen Welt zurechtfinden, ist eine entscheidende
Frage: für den Berufsstand und seinen Verband, für
die weitere Entwicklung der Architektur und damit
auch für die Welt, in der wir leben.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELRAUM Ausstellung | 24. Oktober — 28. November 2016
39 Stuttgart
Vom Alter her waren die Gesprächspartner alle
zwischen 40 und 50. Nur zwei leben in
Baden-Württemberg. Alexander Poetzsch, der
jüngste der Runde, ist 40, hat aber erst vor einem
Jahr in Dresden ein Büro gegründet: genauer
gesagt sein erstes Büro unter eigenem Namen.
In der Initiative „Zeitgenossen“ engagiert er sich
schon länger für Baukultur und ist in der
Dresdner Architekturszene bestens vernetzt. Die
Bürogründung war insofern ein geplanter, fast
logischer Schritt. Als der Bauherr eines
Gebäudes am Neumarkt, für das er den Wettbewerb gewonnen hatte, eine historisierende
Fassade davor hängen wollte, weigerte sich
Poetzsch sogar, dieses zu bauen. Trotzdem ist
das Büro schon im ersten Jahr von vier auf elf
Mitarbeiter angewachsen.
Die fast gleich alte Elke Reichel hat ihren Büropartner Peter Schlaier im Büro Behnisch kennengelernt, wo sie unter anderem das Oceaneum in
Stralsund geplant haben. Sich selbständig zu
machen, hieß einerseits, wieder ganz klein
anzufangen: Der erste Bau war eine schlichte,
allerdings viel publizierte Garage. Andererseits
wollten die beiden auf eigenen Füßen stehen und
alle Entscheidungen selber fällen. Der große Wurf
war dann die Neuordnung des Kärcher-Firmenareals in Winnenden. Reichel Schlaier trotzten
dem Bauherrn selbstbewusst den Erhalt eines
stadtbildprägenden ehemaligen Ziegelei-Kamins
ab und erreichten damit, dass anstelle eines
anonymen Neubauareals ein Gebäudekomplex
mit starkem Ortsbezug entstand. Reichel ist
zudem jüngstes Mitglied im BDA -Präsidium.
Alexander Rieck hat die 45 schon hinter sich.
Was ihn qualifizierte, an der Runde teilzunehmen,
war weniger die Zahl der Lebensjahre. Das Büro
LAVA hat er mit Tobias Wallisser und Chris Bosse
bereits vor neun Jahren gegründet. Aber LAVA ,
ausgeschrieben Laboratory for Visionary Architecture, steht in hohem Maße für innovative
Ansätze an der Grenze zur Forschung: Nicht
umsonst nennen sie sich Labor – und Rieck
arbeitet weiterhin auch im Fraunhofer Institut für
Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO ).
Besonders deutlich geworden ist der innovative
Ansatz an den Planungen für das Stadtzentrum
von Masdar in Abu Dhabi, die erste CO 2-neutrale
Wissenschaftsstadt in der Wüste nach dem
Generalplan von Norman Foster. Wenn es dort
wie bei vielen anderen Projekten von LAVA nur
schleppend voran geht, so kann Rieck mit Blick
auf die KACST Headquarters der King Abdulaziz
City for Science and Technology in Saudiarabien
doch sagen: „Inzwischen bauen wir auch.“
Nahezu einzigartig ist auch die von vornherein
globale Ausrichtung. Die allermeisten Büros
arbeiten ausschließlich in Deutschland, wie
Welter ausführte, nur 5 Prozent international und
die meisten davon in Europa.
Diese ungewöhnliche Position bringt es mit sich,
dass Rieck in vielen Dingen etwas anders denkt
als andere Architekten. Er ist beim Fraunhofer
IAO gelandet, nachdem er sich mit seinen
Interessen und Kenntnissen in digitalen
Planungsprozessen vergeblich in vielen Büros
beworben hatte. Gleich das erste LAVA-Projekt
war eine Skihalle in Abu Dhabi. Rieck plädiert
dafür, seinen Bauherren selbstbewusst gegenüber zu treten und entsprechende Honorare zu
verlangen. Dies mag bei Ölscheichs noch gut
gehen, doch schon beim Kärcher-Gelände von
Reichel Schlaier sieht es wieder anders aus. Der
Reinigungsgeräte-Hersteller verzeichnet zwar
durchaus Milliardenumsätze und hat offenbar ein
fähiges Büro beauftragt. Allerdings liegt der
Verdacht nahe, dass das Unternehmen absichtlich keine großen Namen beauftragt hat, sondern
Neulinge – was wohl auch mit der unverbesserlichen schwäbischen Sparsamkeit des Bauherrn
zu tun hat.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
BDA WECHSELRAUM Ausstellung | 24. Oktober — 28. November 2016
40 Stuttgart
Welter fragte nach Idealismus. Es ging um
Haltung, Anspruch, Baukultur: wo solche Werte
zu finden seien und wie gerade ein junges Büro
sich für sie einsetzen könne. Poetzsch vermutete
ein Gefälle zwischen dem Südwesten und dem
Nordosten Deutschlands. Welter korrigierte
entschieden: Ein Nord-Süd-Gefälle gebe es,
zwischen Ost und West nicht. Rieck berichtete,
Auftraggeber aus der Golfregion seien empfänglich für moderne Entwürfe. Seine Tätigkeit beim
Fraunhofer Institut gebe ihm Credibility, wenn es
um Innovationen geht. Welter hob die Rolle des
BDA hervor, der die meisten Architekturpreise
vergebe. Worin besteht nun aber das Besondere
des Architektenentwurfs? Und wie können
gerade junge Büros ihre Ansprüche verteidigen?
Den Begriff Schönheit meiden die Architekten,
stattdessen sagen sie zumeist qualitätvoll. Was
aber ist Qualität? Wenn es dem Architekten
gelingt, alle Ansprüche an ein Bauwerk vom
Flächenbedarf bis hin zum Klimaschutz auf
besonders gelungene Weise unter einen Hut zu
bringen? Oder doch auch eine gelungene formale
Gestaltung?
Solche Fragen sind schwer zu beantworten und
bedürften, um die Argumentation zu schärfen,
einer eingehenderen Diskussion. Ob es dabei
zwischen älteren und jungen Büros einen Unterschied gibt, kann jedenfalls Poetzsch nicht
beantworten. Er hielt sich an die Aussage des
BDA -Landesvorsitzenden Alexander Vohl, der
einleitend sein Credo so formuliert hatte: jung
– jung bleiben. Elke Reichel meint, die heutige
Zeit sei für Nachwuchsbüros zweifellos
schwierig. Diejenigen, die sich durchsetzen,
bezögen daraus aber auch eine besondere Kraft.
Beim Thema, wie sich Bau- und Entwurfsprozesse in den nächsten zwanzig Jahren verändern
würden, hatte Rieck wieder einiges beizutragen.
Er plädiert dafür, Digitalisierung und Wandel der
Bauprozesse nicht als Problem zu betrachten,
sondern selbst aktiv zu gestalten. Ein Zuhörer,
der mit Building Information Modeling (BIM)
arbeitet, meinte, der Architekt sei nicht nur
Gestalter, sondern derjenige, „der im Team den
größten Überblick hat.“ Für die Rolle des Moderators im Planungsprozess sei er daher am besten
geeignet.
41 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architektur Heute | Universität Tübingen Kupferbau | 17. November 2016
42 Tübingen
Rozana Montiel
Alltagsorte in der Mega City
Artikel von Ulrike Pfeil
Schwäbisches Tagblatt, 19.11.2016
Die mexikanische Architektin Rozana Montiel
zeigte im Kupferbau, wie Planungsprozesse mit
den Bewohnern vernachlässigte Stadtquartiere
beleben.
Hörsaal 25 des Kupferbaus: erst die amerikanische Poetik-Dozentin Siri Hustvedt; dann,
am Donnerstag, die mexikanische Architektin
Rozana Montiel. Trotz der unterschiedlichen
Disziplinen scheint es eine Verknüpfung zu
geben: die Bedeutung von Kommunikation
und Vermittlung für die eigene Arbeit.
Rozana Montiel, eine vielfach ausgezeichnete,
international bekannte Architektin, zeigte als
Gast in der Tübinger Reihe „Architektur heute“
keine spektakulären Bauten. Sie konzentrierte
sich auf die Prozesse der Erkundung und
des Dialogs mit den späteren Nutznießern ihrer
stadtplanerischen „Interventionen“. Es ist in
der Tat ein eingreifendes Vorgehen – in die gleich­gültige Ödnis von Stadtquartieren am Rand
einer Megastadt wie Mexico City, aber auch in
die Wahrnehmung und das Selbstgefühl der
Bewohner.
Am Anfang steht immer eine Art ForschungsExpedition in den Ist-Zustand. Die kann ganz
konkret so aussehen, dass die interdisziplinären Teams, die Montiel um sich schart, die
Bewohner eines Stadt-viertels auffordern,
doch mal gemeinsam den kleinen Vulkan zu
besteigen, der gleich hinter ihren Häusern
aufragt. Die gemeinsame Wanderung („sie
haben so etwas noch nie gemacht“) und der
Blick von oben schaffen die Nähe untereinan­der und die nötige mentale Distanz zu dem Ort,
den sie gemeinsam neu gestalten wollen.
In solchen Straßen-Workshops erfahren die Stadt­planer nicht nur von Bedürfnissen und Defiziten.
Sie schulen umgekehrt das Laien-­Empfinden für
Raum und Licht, Geräusche und das Unverwechselbare der eigenen Umgebung.
Kriminalität und Sicherheit sind ein großes
Thema in Riesenstädten. Mexico City ist mit
knapp 21 Millionen Einwohnern die viertgrößte
der Welt. Gegen die Gefahr aus unbelebten,
dunklen Zonen schützen sich die Einwohner
mit Zäunen – und machen damit den knappen
öffentlichen Raum vollends unbenutzbar.
In einem Fall konnten Montiel und ihre Mitstreiter
die Eigentümer der kleinen Hausparzellen davon
überzeugen, die Zäune abzubauen und Raum zu
gewinnen für ein Nachbarschaftszentrum: einen
Platz, der von einer Galerie vielseitig nutzbarer
Räume umgeben ist. Dort spielen nun Kinder, oder
sie besuchen die integrierte Bücherei, es finden
Open-Air-Filmvorführungen statt, RecyclingWorkshops, jede Menge Begegnung. Das Unheim­liche ist weg, die Kriminalität gebannt.
Das Neue an der Arbeit von Montiel ist, dass
die Architekten nicht immer in einem Auftrag
handeln. Sie decken aus eigenem Antrieb
stadträumliche Missstände auf, recherchie­r­en Ursachen und Bedingungen, entwickeln
Lösun­gen, die nicht viel kosten müssen.
Manchmal hilft ihnen dann eine Projektfin­
anzierung (auch aus internationalen Töpfen)
oder ein Stipendium bei der Verwirklichung.
Montiel räumt aber ein, dass sie ihre Stadt­
reparatur-Tätigkeit auch querfinanziert über
die Honorare aus individuellen Bau-Aufträgen.
Wenn sie vom Bauen spricht, meint Montiel nicht
nur Häuser. „Wir bauen Vertrauen“, sagt sie über
ihre Arbeit mit den Stadtteil-Bewohnern. Der
Beitrag der Architekten zum Projekt ist für sie vor
allem „die Fähigkeit, über Räume strategisch
nachzudenken“.
Die 44-Jährige vertritt eine neue Architektengeneration, die den sozialen Zusammenhalt
als Grundlage des Urbanen nicht aus den
Augen verliert. Sicher kein Zufall, dass dieses
Planen „von unten nach oben“ und dieses
neue Selbstverständnis der Architekten vor
allem in den Mega Cities der aufstrebenden
Länder gedeiht. Aber die alte Welt kann
davon lernen. Auch in Tübingen ließe sich so
mancher Planungskonflikt entkrampfen,
wenn die Betroffenen rechtzeitig und ohne
fertiges Projektpaket einbezogen würden.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Heidelberger Schlossgespräche | Königssaal | 15. November 2016
43 Heidelberg
GMP-Architekten
Wir sind keine
bildenden Künstler
Artikel von Volker Oesterreich
Rhein-Neckar-Zeitung, 17.11.2016
Architekten erläuterten Entwurf für Mannheimer
Kunsthallen-Anbau. Erst die Form, dann die
Funktion: „Wir sind keine bildenden Künstler“
Wer hat schon die Chance, in einer Filmkulis­se zu arbeiten? Auch noch in einer selbst
entworfenen. Meinhard von Gerkan und
Volkwin Marg, die beiden Gründungsväter
des in Hamburg ansässigen, aber international agierenden Architekturbüros Gerkan,
Marg und Partner (gmp), haben ihr Hauptquartier für die Dreharbeiten „Schtonk!“ zur
Verfügung gestellt. So bekam Helmut Dietls
Satire über die gefälschten Hitler-Tagebücher
ein besonders geschmackvolles Ambiente:
funktional, gläsern, stylish. Ein Ort der Krea­tivität, der auch sein konstruktives Konzept
verdeutlicht.
Jetzt waren die beiden Architekturstars Meinhard
von Gerkan (Jahrgang 1935) und Volkwin Marg
(Jahrgang 1936) zu Gast bei den zwei Mal pro
Jahr stattfindenden, immer erfolgreicher wer­den­den „Heidelberger Schlossgesprächen“.
Im Zentrum der Debatte: der gmp-Entwurf für
den Erweiterungsbau der Mannheimer Kunsthalle, bestehend aus großflächig „bespielbaren;
Kuben, die Bezug nehmen auf die QuadrateStruktur der Innenstadt und gleichzeitig selbst
eine Stadt der Kunst innerhalb der Stadt bilden
sollen. Drumherum ein halbtransparentes
Metallgeflecht, das für die Einheit der Vielfalt
sorgen soll. Ende 2017 will die KunsthallenDirektorin Ulrike Lorenz „diesen großen Wurf“
eröffnen: „als Ort der Kommunikation und des
Miteinanders, der sich zur Stadt hin öffnet.“
Man soll hineinflanieren können in diese Welt
der Kunst, ohne gleich auf die Barriere des Kas­senbereichs zu stoßen.
Aber steht diese kühn modernistische Ergän­zung zum Kunsthallen-Altbau aus der Zeit
des Jugendstils in einem fruchtbaren Dialog
zum direkten Umfeld rund um den Wasser­
turm oder könnte der Erweiterungsbau als
Störfaktor empfunden werden? Die beiden
Architekten und die Kunsthallen-Direktorin,
aber auch die weiteren Podiumsgäste,
Moderator Wolfgang Riehle (Ehrenpräsident
der Architektenkammer Baden-Württemberg)
und der Publizist Falk Jäger, strecken mit
ihren Argumenten die Daumen eindeutig
nach oben. Die Museums-Erweiterung, für
die knapp 70 Millionen Euro veranschlagt
sind, werde zu einer „Neuerfindung der
Mannheimer Kunsthalle“ führen, sagt Ulrike
Lorenz.
Die Kunsthalle fügt sich ein in ein atemberaubendes architektonisches Gesamtwerk, das
Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg
zusammen mit ihren rund 500 Mitarbeitern in
fünf Jahrzehnten geschaffen haben. Sie sind
wahre Global Player der Baukunst, die Stadien
für Fußball-Weltmeisterschaften in Südamerika
und Südafrika ebenso entworfen haben wie den
noch immer mustergültigen, obwohl zu klein
gewordenen Flughafen Berlin-Tegel mit seiner
Waben-Struktur. Der neue Berliner Hauptbahnhof
gehört zu ihren Bauten, das gigantische neue
Nationalmuseum direkt am Tian’anmen-Platz in
Peking ebenso wie ein Opernhaus in der Form
eines leuchtenden Dampfers in der chinesischen
32-Millionen-Metropole Changquin, die größte
Stadt der Welt.
Nur in Andeutungen wurde vom derzeit
schlagzeilenträchtigsten gmp-Projekt
gesprochen: dem immer noch nicht eröffneten Flughafen-Neubau in Berlin-Schönefeld und den dort explodierenden Kosten.
Wobei anzumerken wäre: Der Schlamassel
wurde in anderen Büros verursacht, nicht in
denen der Architekten.
„Wir sind keine bildenden Künstler“, formulierte
Volkwin Marg das Credo seines gesamten
Teams. Bei jedem Projekt frage man sich, wie
man in sich verändernden Zeiten trotzdem noch
modern sein könne. Funktion und Konstruktion
sollen einander entsprechen und sichtbar sein.
Damit grenzen sich die gmp-Architekten von
jenen Kollegen (wie Frank O’Gehry, Daniel
Libeskind oder Zaha Hadid) ab, für die Gebäude
wie Riesenskulpturen sind. Bei ihnen gilt: erst die
Form, dann die Funktion. Gerkan und Marg
halten’s umgekehrt.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architektur Apéro | Volksbank Hochrhein | 14. November 2016
44 Waldshut
Sara Klomps
Gängige Vorstellungen
sprengen
Artikel von Ursula Freudig
Südkurier, 15.11.2016
Sara Klomps stellt beim Architektur-Apéro in
Waldshut-Tiengen das Werk der verstorbenen
Zaha Hadid vor.
Beim Architektur-Apéro der Kammergruppe
Waldshut spricht Referentin Sara Klomps
aus der Region und gibt eine Retrospektive
auf Zaha Hadid.
Gängige Vorstellungen von Architektur sprengte
ein mit zahlreichen Bildern untermauerter
Vortrag in der Volksbank Hochrhein: Die aus der
Region stammende Architektin Sara Klomps war
die Referentin beim Architektur-Apéro der
Architektenkammer Waldshut und des Bundes
Deutscher Architekten. Sie ist beim weltweit
bekannten, für innovative Architektur stehenden
Büro der kürzlich verstorbenen Zaha Hadid in
London als stellvertretende Direktorin tätig. Dort
ist sie eine von rund 350 Mitarbeitern, die jetzt
unter neuer Führung das Büro weiter betreiben.
Sara Klomps sprach vor rund 150 Besuchern,
mehr als jemals zuvor bei einem Architektur-Apéro, und hat nicht nur den Vorsitzenden
der Kammergruppe Waldshut, Gerold Müller,
beeindruckt. „Ich habe einigermaßen
gestaunt, was man alles machen kann“,
sagte er am Ende ihres Vortrags, der mit
großem Beifall gefeiert wurde.
Sara Klomps Eltern leben in Horheim. Dort und
zuvor in Gurtweil, ist sie aufgewachsen. 1992
legte sie am Klettgau Gymnasium in Tiengen ihr
Abitur ab. Nach ihrem Architekturstudium in
Dortmund und Karlsruhe bewarb sie sich 1998
erfolgreich bei dem damals rund 15 Mitarbeiter
zählenden Londoner Büro von Zaha Hadid, die in
der Welt der Architektur neue Maßstäbe setzte
und mit den Worten von Sara Klomps „komplett
etwas Neues“ wollte. Zum Anlass des Todes von
Zaha Hadid präsentierte Klomps in der Volksbank eine Retrospektive: Sie stellte die auch
heute noch oft geradezu futuristisch anmutenden Projekte vor, mit denen das Londoner
Büro sich nach und nach etablierte.
In unserer Region finden sich in Weil am
Rhein mit dem Feuerwehrhaus und der für die
Landesgartenschau „Grün“ gebauten
„Landscape Formation 1“ Gebäude des
Londoner Büros. In der abschließenden
Fragerunde machte Sara Klomps auch auf
das Spannungsfeld zwischen Entwurf und
Verwirklichung aufmerksam. Sie nannte sich
selbst eine Ausführende, die mit einem im
Studium erworbenen soliden Ingenieurwissen immer auch die praktische Umsetzung im Blick hat. Für Sara Klomps schafft
gute Architektur Räume, die etwas aus­strahlen und zum Nachdenken anregen.
„Das kann auch ganz einfach und gerade
sein“, sagt sie.
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
45 Schwäbisch Hall Heilbronner Architekturgespräche | Kunsthalle Würth | 09. November 2016
Alexander Schwarz
Von der Schönheit
und der Nützlichkeit
Artikel von Maya Peters
Haller Tagblatt, 29.11.2016
Prof. Alexander Schwarz von ChipperfieldArchitekten berichtet in Schwäbisch Hall von
Projekten auf der Berliner Museumsinsel und in
Hohenlohe.
„Die Wahrheit ist das gebaute Haus. Es ist
entweder besser oder schlechter als auf den
Bildern. Und es befindet sich an einem Ort.
Den kann man nur ganz anachronistisch
besuchen, nicht downloaden“, beginnt
Architekt Alexander Schwarz seinen unterhaltsamen Vortrag im Adolf-Würth-Saal in
Schwäbisch Hall.
Der groß gewachsene Mann mit zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren wirkt wie eine
Mischung aus Handwerker und Künstler. Der
49-Jährige berichtet, nein, philosophiert im
Rahmen der Heilbronner Architekturgespräche
über Projekte der weltweit renommierten
David-Chipperfield-Architekten. Seit 1996
arbeitet er für sie, deren Partner ist er seit 2011.
Gute Architektur müsse verständlich sein,
erläutert Schwarz, der eine Professur an der Uni
Stuttgart hat.
„Er kennt den Tatort, kennt das Revier“, meint
Sylvia Weber, Direktorin der Kunsthalle Würth,
zur Begrüßung. Denn beim 1997 ausgerufenen Wettbewerb zum Bau war Schwarz mit
einem Entwurf von David-Chipperfield-Architekten beteiligt. Damals ging Henning
Larsen als Sieger hervor.
Chipperfield baut Würth-Forum
Alexander Schwarz hat bis heute Verbindungen
in die Region: Derzeit baut er das Carmen-WürthForum in Künzelsau. „Dort haben wir dann den
Architekturwettbewerb gewonnen“, ergänzt er.
Das sei bereits zehn Jahre her, doch das
Konzept habe Gültigkeit.
Das Carmen-Würth-Forum ist für Veranstaltungen gedacht. Es thront an der B 19 auf
dem höchsten Punkt der Landschaft.
„Schönheit und Nützliches widersprechen
sich nicht“, betont Architekt Schwarz. Auf
einer Zeichnung ist die verglaste Halle über
den Hügeln und der Vorplatz mit Panorama
zu sehen. Beton mit Lagerschichten und Glas
sind verbaut. Der Erdaushub wird zur Modulation der Landschaft genommen. Der
Kammermusiksaal liegt unter der Erde, das
nach oben gläserne Veranstaltungsgebäude
verbirgt seine wahre Größe. „Ist das nur eine
Halle oder doch ein Tempel?“ fragt er in die
Runde.
Wichtig sei nicht, ob ein Gebäude „modern“ sei,
meint Schwarz. Vielmehr müsse man sich fragen:
„Ist mein Gebäude die richtige Antwort auf den
Ort und die Bauaufgabe?“ Architektur sei das
Gegenteil von Design. Eine bekannte Idee,
angewandt auf einen anderen Ort, schaffe
trotzdem etwas Neues.
Ein weiteres im Bau befindliches Projekt, die
James-Simon-Galerie auf der Berliner
Museumsinsel, vergleicht Alexander Schwarz
von der Funktion her mit der Glaspyramide
des Pariser Louvre. „Zunächst ist es ein sehr
utilitaristisches Gebäude“, erläutert er das
Eingangsgebäude. Mit Schließfächern,
Toiletten und Museumsshop. „Doch das ist
nicht sein einziger Zweck“, betont er. Die
schlanke Säulenkolonnade auf dem neun
Meter hohen Sockel oberhalb des Wassers
führt Motive der Museumsinsel weiter. „Oben
ist die James-Simon-Galerie ein schöner
Schwan, unten muss es sehr arbeiten“, so
der Architekt über das Gebäude.
Fünf Freunde an einem Tisch
Mit dem Neubau trage man städtebauliche
Verantwortung. „Auf der Museumsinsel stehen
fünf prototypische Museen aus über 100 Jahren
Geschichte“, erläutert er die Situation „Wie fünf
Freunde, die mit dem Rücken zueinander am
Tisch sitzen.“ Die Galerie wird direkt ans Pergamonmuseum gebaut und ist eine der neuen
Verbindungen der Museen. Auf der Insel gebe es
keine Zentralachse, dafür mehrere diagonale
Einsichten und eine Staffelung der Baukörper.
„Unserer Ansicht nach kann man dort gut bauen“,
verdeutlicht der Architekt.
46 Stuttgart
November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
47 Stuttgart
November Reihe | Universität Stuttgart | 09. November 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Fazit
48 Ausgabe I
Von nun an
immer im November
Der BDA-Landesverband zieht aus dem Architekturnovember eine
positive Bilanz. 21 Veranstaltungen und zwei Ausstellungen: Im
Architekturnovember des BDA Baden-Württemberg war fast jeden
Tag etwas geboten. Und das nicht nur in Stuttgart, sondern auch
in Tübingen, Waldshut, Heidelberg, Freiburg und Schwäbisch Hall.
Dabei gab es Vieles schon vorher: die November Reihe der Stuttgarter Universität etwa oder die Tübinger Reihe Architektur, und
natürlich auch die Ausstellungen im BDA-Wechselraum und in der
Architekturgalerie am Weißenhof. Der BDA musste nicht bei Null
anfangen, wollte aber die bestehenden Veranstaltungsreihen
besser vernetzen, um so mehr Aufmerksamkeit auf die vielen
verdienstvollen Aktivitäten zu lenken. Studierende kennen die
Vortragsreihen an ihrer jeweiligen Hochschule, etwa den Jour fixe
oder die Punkt 7 Reihe. Aber wer sonst findet den Weg dorthin? Und
wissen sie auch von den Diskussionen und Vorträgen anderswo?
Im Überblick zeigt sich, wie vielseitig Architektur heute ist:
Das Spektrum reicht vom 1965 gegründeten, mit mehr als 500
Mitarbeitern wohl größten deutschen Architekturbüro von
Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg, die zum Heidelberger
Schlossgespräch gekommen waren, bis hin zu den sechzehn
jungen Büros, die im Wechselraum ausgestellt waren: Zum Teil
erst vor kurzem gegründet, vertreten einige von ihnen ganz
neue Ansätze. Große Namen wie die Pritzker-Preisträgerin
Kazuyo Sejima vom Büro Sanaa, das durch Sara Klomps
vertretene Büro von Zaha Hadid oder der 84-jährige Luigi
Snozzi, der leider aus gesundheitlichen Gründen absagen
musste, sind bei weitem nicht alles. Auch weniger bekannte
Architektinnen und Architekten, nicht nur aus Deutschland,
sondern auch aus Paris, London und Kopenhagen, aus Indien,
Japan und Mexiko stießen auf großes Interesse.
Wobei die Tübinger Reihe gleich in dreierlei Hinsicht hervorzuheben
ist: weil sie einen Blick über den europäischen Tellerrand wagt;
dabei Architektinnen in den Mittelpunkt stellte; und dazu noch
solche, die nicht nur Stilfragen behandeln wie Farshid Moussavi aus
London, die den Victoria Beckham Flagship Store gestaltet ­hat,
sondern wegweisend an konkreten sozialen Problemen arbeiten:
Pavitra Sri Prakash ist die Tochter der Architektin, die 1979 im indischen Chennai das Büro Shilpa Architects gegründet hat, das heute
als eines von sechzehn Büros das Weltwirtschaftsforum in Genf
berät, mit dem Ziel die Welt zu verbessern. Rozana Montiel greift mit
ihrem vor acht Jahren gegründeten Büro auch ohne Auftrag in
vernachlässigte Gebiete des Millionen-Molochs Mexiko City ein,
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Fazit
49 Ausgabe I
um zum Beispiel aus einem als bedrohlich empfundenen Areal ein
Begegnungszentrum für die Nachbarschaft zu machen.
Montiel ist mit einem ihrer Projekte in dem Buch „Architecture
Activism“ des Büros Graft vertreten, das im August in der
Architekturbiennale von Venedig vorgestellt wurde. Mit dem
Begriff Aktivismus ist ein anderes Verständnis von Architektur
angesprochen, das nicht auf statische Bauwerke, sondern auf
Veränderung abzielt. In diesen Bereich lassen sich auch die
Aktivitäten von Ferdinand Ludwig und dem Studio
Umschichten von Lukasz Lendzinski und Peter Weigand
einordnen, die in der Ausstellung im Wechselraum vertreten
waren. Beide haben ihr Büro an der Wagenhalle in Stuttgart.
Ludwig ist Pionier der Baubotanik, des Bauens mit lebenden
Bäumen. Umschichten verstehen ihre architektonische Praxis
als Pre-cycling, also ständige Wiederverwertung von Materialien, die sie aus Spenden oder von Baumärkten beziehen, ohne
jeden Ressourcenverbrauch. Das Thema für welche Zeitdauer
geplant wird, zieht sich als ein Faden durch den ersten Architekturnovember. Explizit in der Punkt 7 Reihe der Kunstakademie, in der Thomas Burlon vom Büro Brandlhuber+ aus Berlin
über unterschiedliche Nutzungsdauern reflektierte, während
der Ungers-Schüler Uwe Schröder, ganz der rationalistischen
Architekturauffassung verpflichtet, Dauer als Verhältnis zur
Tradition und baulichen Umgebung begreift. Ähnlich Alexander
Schwarz vom Büro Chipperfield, der in der Kunsthalle Würth in
Schwäbisch Hall seine Architekturauffassung erläuterte.
Alexandre Thériot vom Büro Bruther aus Paris wiederum meint,
auch wenn sich die Nutzungen ändern, können die baulichen
Strukturen erhalten bleiben.
Erhalt oder Abriss: dies ist in Stuttgart, wie sich spätestens mit der
Ausstellung „Stuttgart reißt sich ab“ in der Weißenhofgalerie im
Sommer gezeigt hat, ein virulentes Thema. Auch darauf nahm der
Architekturnovember Bezug: Die Eröffnungsveranstaltung fand
statt im Commerzbank-Anbau am Fruchtkasten unmittelbar neben
der Stuttgarter Stiftskirche, dem mehrfach preisgekrönten Bau des
Büros Kammerer & Belz aus den 1970er-Jahren, der durch das
Engagement eines Schweizer Investors ganz aktuell vor dem Abriss
gerettet werden konnte. Im Fall der ehemaligen EnBW-Zentrale in
der Jägerstraße steht immer noch das Gegenteil zu befürchten,
auch wenn sich die Zeichen mehren, dass zumindest die ebenfalls
mehrfach preisgekrönte, zwei Jahrzehnte jüngere Erweiterung des
Büros Lederer, Ragnarsdóttir & Oei erhalten bleibt.
Moderne, auch hervorragende Architektur der Nachkriegszeit
hat es schwer. Im Vergleich zu historischen Bauten findet sie
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Fazit
50 Ausgabe I
wenig Aufmerksamkeit. Dem versuchte die Ausstellung der
Weißenhofgalerie zum Architekturnovember entgegen zu
wirken, in der Masterstudentinnen und -studenten von Peter
Cheret eine sehr konsistente Auswahl von Gebäuden in Stuttgart zusammengetragen haben, die trotz ihrer herausragenden architektonischen Qualität in der öffentlichen
Aufmerksamkeit ein Schattendasein fristen. Die beginnt schon
mit der Heusteigschule von Theodor Fischer, dem Ahnherrn der
Stuttgarter Architekturfakultät, und hört mit dem Feuerbacher
Hallenbad, einem der der wenigen, immer erstrangigen
Gebäude von Manfred Lehmbruck, noch lange nicht auf.
Das zweite derzeit sehr brisante Thema in Stuttgart ist bezahlbarer
Wohnraum. Hier konnte eine Diskussion im Wechselraum über
Wohnhochhäuser zumindest insofern Klarheit schaffen, als deutlich
wurde, dass Hochhäuser in den oberen Etagen immer dem Luxussegment angehören. Der Wunsch nach Geld und Prestige kann
trügerisch sein: Nur vier Tage nach dem Wechselgespräch meldete
der Bauherr des Gewa-Towers in Fellbach Insolvenz an. Nur unter
strengen Rahmenbedingungen können Hochhäuser dagegen auch
im sozialen Mietwohnungsbau nützlich sein, wie der Wiener Architekt Jakob Dunkl zeigte.
Von hohem Interesse für Stuttgart waren auch die Führungen
von Thomas Schmidt durch den frisch renovierten Landtag
und das Innenministerium sowie von Stefan Burger und Birgit
Rudacs durch die Baustelle der John Cranko Schule. Für das
Innenministerium an der Neckarstraße von Staab Architekten
wurden denkmalgeschützte Gründerzeitbauten abgerissen.
Einen Landtag reißt man nicht ab, auch wenn sich die Vorstellungen wandeln. Das Büro Staab hat einen sorgsamen
Umgang mit der Substanz sicher auf bestmögliche Weise mit
dem Wunsch nach Änderungen wie nach Tageslicht im
Sitzungssaal verbunden.
Die Ballettschule, erst im März begonnen, liegt trotz Verzögerungen
aufgrund des schwierigen Geländes im Zeitplan. Der Neubau der
Technischen Fakultät der Dualen Hochschule an der Hegelstraße
erhielt dagegen erst im November die Baufreigabe, obwohl das
dänische Büro 3xn bereits 2013 den Wettbewerb gewann. Dies lag
nicht an den Architekten, für die Torben Østergaard an der Hochschule für Technik sprach, sondern an den finanziellen Problemen
der Hochschule. Aufschlussreich hätte für Stuttgart angesichts der
bevorstehenden Sanierung des Opernhauses sicher auch der
Vortrag von Patrick Lüth in Freiburg sein können. Lüth leitet die
österreichische Dependance des Büros Snøhetta, von dem das
2008 eröffnete Opern- und Balletthaus von Oslo stammt. Umge-
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Fazit
51 Ausgabe I
rechnet rund 550 Millionen Euro hat der Bau gekostet, ein großflächiger Neubau, belegt mit weißen Platten aus Carrara-Marmor, die
allein mehr als 6 Millionen Euro verschlungen haben.
Der BDA-Landesvorsitzende Alexander Vohl ist mit dem ersten
Architekturnovember zufrieden: „Mit der Premiere des Architekturnovembers ist es dem BDA gelungen, den unterschiedlichsten Veranstaltungen, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und Vorträgen eine gemeinsame, klar wahrnehmbare
Plattform zu geben“, unterstreicht er. „So kann die Relevanz,
aber auch die Attraktivität und der Wert guter Architektur auch
über die Fachkreise hinaus deutlich besser vermittelt werden.
Ich glaube das ist uns ganz gut geglückt: Das Feedback war
durchweg positiv, worüber ich mich sehr freue. Letztlich
beschäftigt die Frage, was qualitätvolle und weitsichtige
Gebäude- und Stadtplanung leisten kann, doch alle, überall.
Allein das ist Grund genug, alljährlich ein Architekturfestival zu
haben.“
Fazit von Dietrich Heißenbüttel
52 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Heidelberg
Schwäbisch Gmünd
Stuttgart
Tübingen
Freiburg
Waldshut-Tiengen
Waldshut-Tiengen
53 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Tokyo
Chennai
Hamburg
Berlin
Bonn
München
Oslo
Kopenhagen
Locarno
Paris
London
Mexiko City
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Der Architekturnovember ist eine Initiative des Bund
Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
21 Vorträge, Diskussionen und Ausstellungen fanden
im Laufe des Novembers 2016 in Stuttgart, Freiburg,
Tübingen, Heidelberg, Schwäbisch Hall und Waldshut
statt. In der Festivalzeitung sind Texte und Fotos
zu einigen der Veranstaltungen zusammengestellt.
Wir danken allen Veranstaltern und Förderern für die
gute Zusammenarbeit.
Architektur Heute
Women in Architecture
Tübingen
Dr. Ursula Schwitalla
Tübinger Kunstgeschichtliche Gesellschaft
Förderer
BDA Neckar/Alb
Architektenkammer Baden-Württemberg
Partner
Sto Stiftung
09. November – 02. Dezember 2016
FSB
DLW -Flooring
Sto-Stiftung
Architekturforum Freiburg
Vortragsreihe im Konzerthaus
Architekturforum Freiburg
Förderer
Stadt Freiburg
Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH
BDA Freiburg/Breisgau/Hochschwarzwald
Architektenkammer Baden-Württemberg
Partner
Caparol
JUNG
54 Ausgabe I
Jour Fixe
Stuttgart
Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Fachgruppe Architektur
Prof. Mark Blaschitz und Prof. Tobias Wallisser
mit Jour Fixe Studierenden Team
Partner
Nimbus Group
architekturgalerie am weißenhof
Stuttgart
Förderer
Architektenkammer Baden-Württemberg
Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
Kulturamt der Stadt Stuttgart
Partner
InformationsZentrum Beton
optiplan
eicher werkstätten
erco
heinrich schmid maler ausbauer dienstleister
Heidelberger Schlossgespräche
Vermögen und Bau Baden-Württemberg
Amt Mannheim und Heidelberg
Förderer
Stadt Heidelberg
Architektenkammer Baden-Württemberg
BDA Heidelberg
SRH Hochschule Heidelberg
Partner
Volksbank Kurpfalz
November Reihe
Stuttgart
Universität Stuttgart
Fakultät für Architektur
und Stadtplanung
Institut für Baukonstruktion
und Entwerfen ibk1
Prof. Peter Cheret und Marc Remshardt
Partner:
Sto-Stiftung
Punkt 7 Reihe
Stuttgart
Hochschule für Technik Stuttgart
Fakultät Architektur und Gestaltung
Prof. Michel Roeder, Claudia Bullmann
Partner
Knödler-Decker-Stiftung
Waldshuter Architektur Apéro
Waldshut-Tiengen
Gerold Müller
Architektenkammer Baden-Württemberg
Kammergruppe Waldshut
BDA Baden-Württemberg Kreisgruppe Hochrhein
WECHSELRAUM
Stuttgart
Bund Deutscher Architekten BDA
Baden-Württemberg
Partner
InformationsZentrum Beton
Duravit
Heilbronner Architekturgespräche – In der Region
Hochbauamt der Stadt Heilbronn
Daniela Branz und Cornelius Krähmer
Förderer
Architektenkammer Baden-Württemberg
BDA Heilbronn Franken
IHK Heilbronn-Franken
Stadt Heilbronn & Stadt Neckarsulm
Stadt Bad Mergentheim & Stadt Schwäbisch Hall
Weitere Informationen erhalten Sie unter:
www.architekturnovember.de
FSB
Hansgrohe
Jung
Siedle
Strähle Raum-Systeme
Architekturnovember Bund Deutscher Architekten BDA Baden-Württemberg
09. November – 02. Dezember 2016
Impressum
Herausgeber
Bund Deutscher Architekten BDA
Landesverband Baden-Württemberg
Friedrichstraße 5, 70174 Stuttgart
[email protected]
www.bda-bawue.de
Redaktion
Eva Weinmann, Antonia Terhedebrügge
und Steffen Knöll
55 Ausgabe I
Gestaltung, Layout und Satz
üö – visuelle Kommunikation
AN:tonia Terhedebrügge
Steffen HermAN:n Knöll
© bei Bund Deutscher Architekten BDA,
den jeweiligen Autorinnen/Autoren und
den jeweiligen Fotografinnen/Fotografen.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved
Mit freundlicher Unterstützung von
ALBRECHT JUNG GMBH & CO. KG
56 Ausgabe I
09. November – 02. Dezember 2016
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