Sendung vom 6.7.2015, 20.15 Uhr Professor François Leleux Solo-Oboist und Dirigent im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende Leleux: (spielt auf der Oboe) Mende: Herzlichen Dank, François Leleux, dass Sie für uns dieses Stück gespielt haben. Für mich ist das hier ein ganz besonderes Erlebnis, denn ich kenne Sie natürlich von Ihren CDs, von Ihren Aufnahmen, die Sie mit verschiedenen Orchestern gemacht haben. Aber nun stehen Sie eineinhalb Meter von mir entfernt und spielen auf Ihrem wunderschönen Instrument diese wunderschöne Musik. Einen "Oboen-Sänger" hat man Sie mal genannt. Trifft das auch Ihre Vorstellungen? Wollen Sie spielen, wie meinetwegen ein Sopran singen würde? Leleux: Die Musik ist für mich in der Tat wie eine Sprache: Sie ist wie meine Muttersprache. Ich habe schon ziemlich früh mit der Oboe angefangen, nämlich mit sechs Jahren, und natürlich ist es schon so, dass ich, wenn ich im Konzert spiele, das Gefühl habe, dass ich eine Geschichte erzähle oder ein Bild beschreibe. Ich befinde mich bei einem Stück jedenfalls immer in verschiedenen Welten – je nachdem, welchen Komponisten oder welches Stück ich interpretiere. Diese Bilder, diese Geschichten will ich dann auch dem Publikum erzählen, will ich dem Publikum erklären. Es stimmt schon, das hat etwas mit Sprache zu tun in dem Sinne, dass man da quasi singt. Aber es geht schon auch ums Erzählen und nicht nur ums Singen per se. Mende: Was haben Sie soeben gespielt? Was haben Sie uns also soeben erzählt? Was war das für eine Geschichte? Leleux: Das war ein sehr humorvolles Stück, nämlich das Oboenkonzert von Johann Nepomuk Hummel. In diesem Stück ist nicht nur sehr viel Humor, sondern aufgrund der Geschwindigkeit auch sehr viel Virtuosität drin. Dieses Stück stammt ja aus einer Zeit, in der man in den Gesprächen zwischen den Menschen immer sehr viele kleine Witze eingestreut hat. Man war damals jedoch auf gesellschaftlichem Parkett etwas feiner als heute: Man durfte nicht zu viele Worte verschwenden und schon gar nicht so etwas wie Slang oder eine joviale Ausdrucksweise verwenden, sondern man musste den Humor zwischen den Zeilen verstecken. Ich finde, dass Hummel das musikalisch sehr gut umgesetzt hat. Er war darin wirklich ein sehr großer Meister. Nach meinem Dafürhalten ist dieses Stück in F-Dur sehr witzig, sehr positiv gestimmt. Das ist einfach ein strahlendes Stück Musik. Mende: Verstehen wir denn die Sprache der Menschen von damals noch? Es gab damals ja auch solche Symbole, die man auf Briefe gestempelt hat; es gab auch sonst viele, viele Anspielungen, über die jeder Bescheid wusste, ohne dass sie auch nur irgendjemand direkt ausgesprochen hätte. Auch bei Gemälden kennen wir das ja: Wir schauen uns ein Bild an und entdecken darin ein Symbol, das uns heute oft nichts oder nicht mehr so viel sagt. Das heißt, wir müssen sozusagen das ABC, das da dahintersteht, erst wieder neu lernen. Leleux: Es gibt in der Musik oft versteckte Symbole: Mozart hat z. B. in jeder seiner Opern und in wichtigen Symphonien immer wieder Anspielungen auf die Freimaurer drin. Der böhmische Barockkomponist Jan Dismas Zelenka hat z. B. in seinen sechs Sonaten für zwei Oboen und Basso continuo quasi eine Oper versteckt, weil es damals nämlich verboten war, über bestimmte Themen zu sprechen. Es ging ihm eigentlich darum, eine Oper über Homosexualität zu machen, aber es war damals strengstens verboten, darüber auf der Bühne zu sprechen. Also hat er diese Geschichte in seiner Musik versteckt. Es gibt natürlich auch sehr viel moderne Musik, in der der Komponist kleine interessante Zeichen für bestimmte Geschichten versteckt hat. Mende: Und Sie erarbeiten sich all diese Hintergründe jedes Mal, wenn Sie ein neues Stück aufnehmen oder für die Bühne vorbereiten? Leleux: Ja, auf jeden Fall. Es gibt nicht immer ein großes Geheimnis, das sich in einem Stück versteckt, es gibt auch nicht immer eine große Geschichte dazu, aber wenn es so etwas gibt, dann eigne ich mir das selbstverständlich an. Ansonsten ist es natürlich so, dass man ein Stück praktisch besitzen muss, bevor man es aufnimmt. Man muss wirklich jede Ecke in einem Stück kennen und sich eine ganz deutliche und souveräne Meinung darüber aneignen, wie man das interpretieren möchte, bis man es auf CD bzw. Schallplatte produziert. Das heißt, man muss wirklich eine fertige Interpretation haben. Aber "fertige Interpretation" heißt eben nicht, dass damit die Interpretationsarbeit an ein endgültiges Ende gekommen wäre, denn die Interpretation entwickelt sich ja immer weiter. Aber für eine Aufnahme mit einem Orchester muss man als Solist genau wissen, wie das alles funktioniert und was man erzählen will von einem Stück. Mende: Solch eine innere Geschichte, die Sie sich zurechtlegen, hilft dabei vermutlich kolossal. Ich bin auch deswegen auf den Ausdruck "OboenSänger" gekommen, weil Sie nämlich auch eine CD mit Mozart-Arien aus der "Zauberflöte" und aus "Don Giovanni" gemacht haben. Wären Sie eigentlich lieber Sänger geworden? Leleux: Nein. Ich habe schon als Kind und Jugendlicher sehr viel Musik gemacht. Ich hatte auch ein Bläseroktett, mit dem wir sehr viel Opernbearbeitungen von Mozart bzw. aus der Zeit von Mozart wie z. B. von Joseph Triebensee gespielt haben. Man hatte damals eben nicht immer das Geld, um ganze Opern auf die Bühne zu bringen. Also hat man sich überlegt, ob man so eine Oper nicht auch mit acht Bläsern und einem Kontrabass spielen kann, also nur mit neun Musikern statt eines ganzen Orchesters mitsamt den Sängern und den Kostümen usw. Daher habe ich mir gedacht, dass ich doch mal all diese schönen Arien, die eben nun einmal vor allem für Opern geschrieben worden sind, auf eine Schallplatte bannen müsste. Also habe ich diese Arien näher angeschaut, die Mozart eigentlich für Sänger und Sängerinnen geschrieben hat. Ich habe das dann auf der Oboe eigentlich genau so gespielt, wie es in der Partitur für die Sänger steht. Es war sehr interessant, dabei mit den Worten dahinter zu spielen. Das gibt dem nämlich eine ganz andere Dimension. Ja, das war ein tolles Erlebnis für mich. Mende: Als ich Sie vorhin gehört habe, hatte ich das Gefühl, im Sommer auf einer Wiese zu liegen, auf der Schafe grasen usw. Man assoziiert ja die Oboe immer mit der Schalmei: Sind diese beiden Instrumente wirklich verwandt? Leleux: Ja, das stimmt, diese beiden Instrumente sind verwandt, denn auch die Schalmei war ein Doppelrohrinstrument. Aber an sich ist die Oboe ein Blasinstrument, das mit dem Aulos verwandt ist, einem Blasinstrument, das noch kein Rohr hatte. Denn die Schalmei hatte dann schon ein Rohr. Es war früher so, dass es quasi in jedem Dorf eine Oboe oder ein ähnliches Instrument gegeben hat. In Armenien und Georgien war das die Duduk. Es gab dann in Südwestfrankreich und in Spanien die Gaita. Es gab auch die kleine chinesische Oboe usw. Es gab also überall verschiedene Arten von Oboen. Das war aber immer ein einfaches Instrument, mit dem man die Menschen alle auf dem zentralen Platz zusammenholen konnte. Wenn man nämlich auf diesem Instrument gespielt hat, haben das alle gehört, denn das ist ein sehr starkes Instrument. Mende: Das heißt, die Oboe hört man sehr weit. Das ist auch im Orchester so: Wenn Sie z. B. ein Solo spielen, dann sind Sie weithin gut hörbar. Leleux: Darum gibt auch die Oboe das A vor, weil die Oboe jeder hört. Mende: Das hat etwas mit dem Einstimmen zu tun, oder? Leleux: Ja, im Orchester gibt man beim Einstimmen immer den Ton A vor. Mende: Ist der Ton der Oboe der reinste Ton, sodass man sich darauf verlassen kann? Leleux: Ja, natürlich! Die Oboisten spielen am reinsten und haben die beste Intonation, die es gibt (lacht). Mende: Ja, klar, alle und immer. Leleux: Es ist einfach so, dass sich die Oboe in der Mitte des Orchesters befindet: Die Streicher sind vor der Oboe und die Bläser hinter ihr. Der Oboist ist also genau in der Mitte und das A der Oboe hört man eben sehr gut im Hinblick auf die Tonqualität. Man hat in den USA sogar einmal ausprobiert, wie viele Geigen man braucht, um den Ton der Oboe definitiv nicht mehr hören zu können. Was schätzen Sie? Wie viele Geigen braucht man, damit man die Oboe nicht mehr hören kann? Mende: Sechs Geigen? Leleux: Nein. 400! Man braucht 400 Geigen, damit man den Ton der Oboe wirklich nicht mehr hören kann. Mende: Das ist unglaublich. Daraus resultiert ja auch eine sehr, sehr große Verantwortung, wenn Sie im Orchester spielen. Leleux: Genau. Mende: Wenn ein Geiger mal daneben greift, dann hört man das nicht so genau – außer er spielt ein Solo. Wenn die Oboe jedoch oder auch die Hornisten oder die Trompeter daneben hauen, dann weiß jeder Zuhörer sofort: "Ah, da hat etwas nicht gestimmt!" Leleux: Ja, deswegen muss man als Oboist auch immer ein bisschen aufpassen im Hinblick auf die Lautstärke usw. Oder man spielt eben mit einem fantastischen Geiger oder einer fantastischen Geigerin zusammen, wie meine Frau Lisa Batiashvili eine ist. Wir gehen demnächst in die USA und spielen dort Bach im Duo und ein neues Stück von Thierry Escaich. Sie spielt eine Guarneri del Gesù und sie spielt fantastisch auf dieser Geige. Das geht wunderbar, weil diese Geigen auch sehr laut sind. Aber es stimmt schon, dass die Oboe eine gewisse Lautstärke hat und dass man deswegen aufpassen soll. Mende: Muss man da bessere Nerven haben als andere Musiker, weil man ja weiß, dass es von allen zu hören ist, wenn etwas schiefgeht? Leleux: Ich glaube, in jedem Fach muss man gute Nerven haben, das gilt nicht nur für die Oboe oder die Geige oder für einen bestimmten Auftritt. Nein, man muss immer gute Nerven haben. Es ist sehr wichtig, dass man die Botschaft der Musik weiterbringt. Und diese Botschaft gibt uns diesen Inhalt, der uns an das Wesentliche erinnert oder uns dranhält am Wesentlichen. Damit können wir diese Angstsituation überwinden. Mende: Zeigen Sie uns doch mal ein bisschen was von Ihrem Instrument. Fangen wir ganz oben an: Das sieht, wie der eine oder andere vielleicht schon wahrgenommen hat, wie ein Zahn aus. Leleux: Ja, das sieht wie ein Zahn aus, ist aber unser Mundstück, das Rohr: Das ist ein Doppelblatt. Alleine damit kann man eigentlich bereits etwas spielen. Mende: Das Rohr ist also gespalten, d. h. das sind zwei Teile. Leleux: Das sind zwei Rohre, die zusammen vibrieren. Das Mundstück ist natürlich ein sehr wichtiges Bauteil für einen Oboisten. Viele Oboisten verbringen sehr viel Zeit mit ihrem Mundstück. Ich selbst habe dafür aber nicht die nötige Geduld: 15 Minuten müssen genügen. Mende: Das heißt, die Oboisten schnitzen dieses Blättchen hier selbst. Leleux: Genau, das muss man mit einem Messer selbst machen. Ohne dieses Mundstück käme aus der Oboe kein einziger Ton (bläst in die Oboe ohne Mundstück). Aber wie gesagt, alleine mit dem Mundstück kann man schon etwas spielen (spielt die ersten Takte von "Frère Jacques"). Wenn man das Mundstück auf die Oboe steckt, dann klingt das natürlich schon viel besser (spielt dieselben Takte noch einmal auf der Oboe). Mende: Ja, das gefällt mir wesentlich besser. Leleux: Mir auch. Mende: Man könnte sich also aus einem Stück Stroh bereits so eine Art Mundstück basteln, wenn man dieses Stück teilt und dann zusammenfasst. Leleux: Ja, fast. Mende: Wie geht das dann weiter? Dieses Hölzchen ist ja auch umwickelt. Leleux: Das ist hier am Mundstück eine 47 Millimeter lange Hülse. Das Rohr, aus dem das Mundstück gemacht wird, wird zunächst einmal der Länge nach geteilt. Die eine Hälfte eines Rohres wird dann umgebogen und zusammengefaltet und auf diese Hülse gebunden. Anschließend wird dieses Stück noch geschnitten und ganz genau präpariert. Mende: Jeder Oboist macht also seine Mundstücke selbst, d. h. die kann man nicht irgendwo im Zehnerpack kaufen. Leleux: Doch, das könnte man schon, aber es ist besser, wenn man das selbst macht. Denn man muss einfach selbständig sein, man muss in jeder Situation zurechtkommen können: Wenn man irgendwo auf der Welt spielt, dann ist es nicht möglich, sich innerhalb von zwei Tagen von einem weit entfernten Geschäft Mundstücke liefern zu lassen. Deshalb muss man sich seine Mundstücke selbst bauen können. Aber es gibt schon auch Geschäfte, die darauf spezialisiert sind. Mende: Ist das eigentlich ein spezielles Holz? Leleux: Ja, das ist Pfahlrohr, das in Südfrankreich besonders gut wächst. Viele Rohre für uns Oboisten kommen daher aus einer bestimmten Gegend dort. Diese Rohre werden in einzelne Abschnitte zerteilt und dann ausgehobelt. Bis so ein Mundstück fertig ist, ist also sehr viel Handarbeit aufgewendet worden. Mende: Die Mundstücke sind ja als Naturwerkstoff immer ein bisschen unterschiedlich im Hinblick auf Größe und Elastizität. Verwenden Sie unterschiedliche Mundstücke, ja nachdem, welches Stück Sie spielen, welche Farbe Sie dem Stück geben wollen? Leleux: Ja, genau. Mende: Oder kommt die Farbe doch eher über den Mund und den Ansatz? Leleux: Mit dem Ansatz kann man schon auch den Ton ändern. Man spielt entweder mit sehr gespannten Lippen oder mit weniger angespannten, weicheren Lippen. Gleichzeitig ist es auch so: Wenn ich ein OboenKonzert von Richard Strauss spiele, dann ist das einfach eine andere Art von Musik als die Musik von Mozart, Haydn oder Hummel, die ich vorhin gespielt habe. Strauss verlangt einen dunkleren Ton und deswegen nehme ich dann auch ein anderes Mundstück. Mende: Sie wechseln also je nach Stück das Mundstück. Leleux: Ja. Mende: Ich sehe im Orchester immer die Oboisten auf ihrem Mundstück herumkauen. Das hat aber nichts mit Nervosität zu tun? Leleux: Das Mundstück muss einfach nass bleiben, um die Vibration weich zu halten. Wenn es ganz trocken ist, dann vibriert es nicht mehr und wird manchmal ganz unspielbar. Das heißt, es muss immer nass sein, weil das für den Ton einfach besser ist. Mende: Das Fagott hat ja ein ganz ähnliches Mundstück. Jedenfalls ist der Gesichtsausdruck der Fagottisten und der Oboisten sehr ähnlich. Leleux: Ja, genau. Auch das Fagott hat ein Doppelrohrblatt als Mundstück. Das heißt, man muss auch hier mit beiden Lippen, die die Zähne umschließen, das Mundstück umfassen und so diese Vibration durch Hineinblasen von Luft erzeugen. Klar, man muss da bei beiden Instrumenten sozusagen immer ein bisschen auf dem Mundstück beißen. Mende: Sie beißen mit den Lippen? Leleux: Die Lippen kommen auf die Zähne! Mende: Und damit beißen Sie dann zu. An welcher Stelle beißen Sie denn auf das Mundstück, denn die Luft muss ja auch noch schwingen können im Mundstück? Leleux: Genau, man muss in der Mitte des Mundstücks zubeißen. Mende: Und dann müssen Sie heftig Druck erzeugen. Leleux: Die Oboe braucht nicht so viel Luft wie meinetwegen die Flöte oder die Klarinette. Mende: Es sieht aber oft so aus, als ob da unglaublich viel Luft hindurchginge. Leleux: Das liegt daran, dass in diesem kleinen Rohr, in diesem Mundstück, das noch nicht zerbissen ist, ja nur sehr wenig Platz ist: Das sind nur 0,1 Millimeter – und 0,05 Millimeter am Gebrauchsende! Damit muss man eine große Dynamik erzielen. Deshalb ist es wichtig, dass man ruhig bleibt und dass man tief einatmet. Das ist ein bisschen wie beim Apnoetauchen, also beim Tauchen mit der Luft eines einzigen Atemzugs, also ohne Sauerstoffflasche. Deswegen kann man auch sehr lange Phasen spielen mit der Oboe. Mende: Sie brauchen also einen relativ hohen Druck im Mund. Leleux: Ja, das stimmt. Mende: Es gibt ja auch Oboisten, denen man diesen Druck wirklich ansieht: Sie laufen an bestimmten Stellen immer knallrot an. Deswegen denkt man sich als Zuhörer oft, dass es schrecklich ungesund sein muss, auf der Oboe zu spielen, denn die Oboisten sehen immer so aus, als stünden sie kurz vor dem Kollabieren. Leleux: Nein, nein, bis jetzt ist noch kein Oboist kollabiert. Mende: Gibt es denn Messungen, wie viel Druck ein Oboist erzeugen muss? Leleux: Ja, das wurde schon gemessen und man fand heraus, dass im Kopf eines Oboisten genau so viel Druck herrscht wie beim Piloten eines Kampfjets, wenn er mit doppelter Schallgeschwindigkeit bestimmte Kurven fliegt. Mende: Das ist also so, als würde man einen widerspenstigen Luftballon aufblasen? Leleux: Genau, das ist ungefähr so, als würde man für einen Kindergeburtstag eine ganze Reihe von Luftballons aufblasen, die alle sehr, sehr widerspenstig sind. Da muss man dann schon richtig kräftig hineinblasen, damit sie auseinandergehen. So ungefähr ist das mit dem Druck bei der Oboe auch. Aber wenn man tief einatmet und diesen Druck schön tief hält, dann ist das sehr einfach. Mende: Wie lange können Sie denn so einen Ton aushalten? Bei der Oboe ist ja der Luftverbrauch nur sehr gering, weil dieses Mundstück eben nicht sehr viel Luft hindurch lässt. Leleux: Ich würde sagen, ich kann einen Ton 30 Sekunden bis eine Minute lang halten. Mende: Da wird es dann bei Sängern tatsächlich schon ein bisschen schwierig. Leleux: Ja, das stimmt. Es gibt bei Bach eine sehr schöne Stelle, bei der der Ton der Oboe wirklich unendlich ist. Das ist wunderbar und man kann das bei der Oboe wirklich gut mit nur einem Atemzug machen. Das geht bei keinem anderen Instrument, nicht beim Fagott, nicht bei der Flöte, nicht mit der Klarinette usw. Nur die Oboe kann wirklich diese ganz langen Linien ziehen. Das ist wunderbar. Mende: Können Sie denn auch während des Spielens Luft holen? Es gibt ja auch Trompeter, die dabei so eine Art Luft-Kreislauf herstellen. Leleux: Das ist die Permanentatmung, die Zirkularatmung. Man muss in den Backen die Luft praktisch speichern und sie von dort aus in das Rohr hineinblasen, während man gleichzeitig mit der Nase einatmet (demonstriert das kurz). Haben Sie gehört, wie ich geatmet habe? Mende: Das ist ein bisschen so wie beim Dudelsackspielen. Leleux: Auf diese Weise kann man sehr lange auf der Oboe spielen (demonstriert das). Mende: Und Sie sind immer noch nicht rot geworden – was aber nicht an unserer guten Maskenbildnerin liegt. Leleux: Ja, das tut mir leid. Mende: Das liegt einfach an Ihrer perfekten Technik. Und herauskommt dabei ein wunderschöner Klang. Leleux: Danke. Mende: Wann haben Sie sich denn als Kind in die Oboe verliebt? Denn es gibt ja viele Kinder, die den Klang der Oboe sehr, sehr gerne haben. Ich stelle das immer wieder fest, wenn ich mit Kindern in Konzerte gehe. Leleux: Ja, bei mir war es auch so, dass dieses Instrument meine Aufmerksamkeit erregt hat, als ich gerade einmal vier Jahre alt war. Ich war damals in einer Orff-Schule für Musik. Es war nämlich so, dass mein älterer Bruder Musik studieren wollte und deswegen ein Instrument gelernt hat. Weil ich noch so klein war, schickte man mich in diese Schule, in der man mit der Methode von Orff an die Musik herangeführt wird. Uns wurde dort die Trompete vorgeführt, die Flöte, die Geige usw., und eben auch die Oboe. Ich war sofort verliebt in das Aussehen der Oboe, in diese schönen silbrigen Schlüssel auf dem dunklen Ebenholz. Ich fand auch die Technik dieses Instrument sofort faszinierend. Aus dem Grund wollte ich bereits mit vier Jahren unbedingt auch eine Oboe haben und auf ihr spielen. Mende: Warum ist das so kompliziert mit der Mechanik bei der Oboe? Das ist wesentlich komplizierter als z. B. bei einer Klarinette. Sie könnten doch eigentlich wie bei einer Schalmei auch nur mit den Löchern spielen, die Sie mit den Fingern verschließen. Leleux: Ja, genau, das wäre auch möglich. Aber mit mehr Technik vergrößern sich eben auch die Möglichkeiten der Oboe. Das hat einfach mit Effektivität, mit Intonation usw. zu tun. Aber die Oboe hat sich im Laufe der Geschichte wirklich sehr entwickelt, vor allem in den letzten 150 Jahren. Und erst seit Kurzem gibt es nun eine ganz neue Entwicklung: Es ist ganz neu, dass man hier den Kopf des Instruments abnehmen und tauschen kann wie bei einer Flöte oder einer Klarinette. Man kann einen längeren oder kürzeren Kopf verwenden, einen aus einem anderen Holz, einen mit einem ganz anderen Bogen usw. Das ist wirklich eine ganz neue Entwicklung. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ich wollte also unbedingt dieses Instrument besitzen und spielen und es all meinen Freunden zeigen. Mit fünf Jahren habe ich dann ein paar Töne darauf gespielt, denn für mehr waren meine Finger noch zu kurz. Aber mit sechs Jahren habe ich richtig angefangen damit. Es ging dann ziemlich rasch vorwärts, sodass ich schon mit 14 Jahren in Paris an die Musikhochschule kam. Mit 15 Jahren habe ich angefangen, mit dem Orchestre National de France zu spielen: Damals war dort Lorin Maazel der Dirigent. Mit 18 Jahren hatte ich dann meine erste Soloposition in der Pariser Oper. Und dann kam ich nach München zum Bayerischen Rundfunk. Das war fantastisch! Mende: Auch mit Lorin Maazel. Das heißt, er hat sich wohl an den kleinen Kerl von damals erinnert? Leleux: Ja, er hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Er war ein großer Meister – launisch zwar, aber ein wirklicher Meister. Mende: Lassen Sie uns noch ein wenig über das Instrument selbst sprechen. Ich stelle mir vor, dass bei dieser vielen Mechanik, bei diesen vielen Klappen an diesem Instrument auch durchaus mal etwas undicht werden kann. So eine Oboe kann sehr schnell kaputt gehen, weswegen man sehr vorsichtig umgehen muss mit ihr. Leleux: Es gibt unter jedem dieser Schlüssel – so heißen diese Klappen – ein Polster, das aus Kork gemacht wird. Es gab auch schon andere mit Leder z. B., aber Kork ist besser. Dieser Kork kann sich aber z. B. bei großer Hitze verändern, verschieben, sodass er nicht mehr richtig schließt. Deswegen muss man die Polster dieser Schlüssel immer sehr fein justieren. Obwohl die Oboe ja einen runden Körper hat, müssen die Polster sehr flach aufliegen. Das heißt, das ist eine wirklich unglaublich feine Arbeit. Mende: Basteln Sie denn vor jedem Konzert mit dem Schraubenzieher usw. noch ein bisschen herum an Ihrem Instrument und schauen Sie, ob auch alles dicht ist? Leleux: Ja, man muss da schon recht geschickt sein als Instrumentalist, denn man kann ja nicht immer einen tollen Handwerker ins Konzert mitschleppen. Das geht schon mal gar nicht, wenn man in einer Woche in den USA spielt und anschließend auf einer Tournee in China. Man muss also sehr wohl selbst an seinem Instrument etwas reparieren und einstellen können. Aber demnächst fahre ich z. B. nach Paris und lasse mir dort meine Oboe ganz genau anschauen von einem Handwerker. Man muss also als Oboist selbst etwas machen können, aber man sollte sein Instrument auch mindestens einmal im Jahr sozusagen zur Inspektion bringen. Mende: Kann eigentlich jeder auf der Oboe spielen? Könnte ich, wenn Sie mir ein neues Mundstück gäben, auch auf der Oboe spielen? Leleux: Ja, das glaube ich schon. Mende: Sie meinen also, dass ich da einen vernünftigen Ton herausbekomme? Leleux: Ja, doch. Mende: Wie viele Stunden muss man denn üben, bis man es so kann wie Sie? Leleux: Ach, das kann man nur schwer ausrechnen. Bei mir ist es so, dass ich ganz regelmäßig übe, seit ich sechs Jahre alt bin. Das ist doch schon eine Weile her. Ich übe jeden Tag. Damals als Kind habe ich natürlich noch nicht so viele Stunden geübt wie später. Heute ist das ebenfalls wieder ein bisschen weniger geworden. Aber damals, als ich an den internationalen Wettbewerben wie dem ARD-Wettbewerb in München teilgenommen habe … Mende: Das war 1991. Leleux: Ja, das ist lange her. Mende: Es gibt davon sogar noch eine Aufnahme im Internet. Damals waren Sie noch ein ganz junger Mann. Leleux: Das stimmt, ich war damals 19 Jahre alt. In dieser Zeit damals habe ich wirklich sehr viel geübt. Man macht das auch deswegen, um sich ein gewisses Repertoire aufzubauen. Und bis heute ist es so, dass ich mir jedes Jahr ein bis zwei neue Stücke erarbeite. In diesem Jahr ist das z. B. das neue Stück von Thierry Escaich, dieses Doppelkonzert, das ich zusammen mit meiner Frau spiele. Es ist fantastisch, wenn man jedes Jahr sein Repertoire erweitert: Man muss sich immer wieder neu erfinden, wenn man ein neues Stück erarbeitet, denn man muss sich dabei ja jedes Mal erneut infrage stellen können. Nichts ist für immer, man muss immer wieder alles neu machen! Auch die neue Musik ist für mich eine tolle Inspirationsquelle. Für die Gesellschaft, für das Publikum muss man immer wieder etwas Neues anbieten. Das ist sehr wichtig. Mende: Man muss auch immer wieder neue CDs herausbringen. Leleux: Ja, genau. Mende: Gibt es denn überhaupt genügend Literatur für die Oboe? Ich sehe nämlich, dass viele Oboisten auch Stücke bearbeiten, weil es für die Oboe keine Originalbearbeitung gibt. Oder ist die Originalliteratur für die Oboe verloren gegangen wie z. B. bei Bach, bei dem unendlich viel verloren gegangen ist. Viele Stücke von ihm kennen wir nur mehr als Cembalokonzert und hören daraus, dass diese Stücke ursprünglich mal für die Oboe geschrieben worden sein müssen. Leleux: Das stimmt. Mende: Gibt es also genügend Stoff? Leleux: Ja, es gibt sehr, sehr viel Literatur, ich glaube, unsere Sendezeit dafür würde nicht genügen. Ich habe z. B. das komplette Werk für Oboe von Richard Strauss auf CD aufgenommen. Ich habe auch den kompletten Mozart aufgenommen und den kompletten Bach. Die CD "Der Charme der Oboe" ist mit italienischen Stücken von Marcello, Bellini, Cimarosa, Vivaldi, Pasculli usw. Pasculli hat fünf, sechs wunderbare Konzerte für Oboe geschrieben, Vivaldi hat 20 Oboenkonzerte geschrieben. Bohuslav Martinu hat mehrere Oboenkonzerte geschrieben. Dazu kommen noch all die Stücke von Hummel und Haydn usw. Es gibt sechs Doppelkonzerte, die wir mit Oboe und Flöte aufnehmen. Es gibt also wahnsinnig viel Repertoire. Ich staune selbst immer wieder, was es alles gibt. Denken Sie an das Capriccio, das Oboenkonzert von Penderecki, an das Stück von Sándor Veress, Passacaglia Concertante. Mende: Die große Zeit der Oboe war ja im Barock; in der Wiener Klassik und in der Romantik ist es dann etwas stiller geworden um die Oboe. Leleux: In der Romantik hat es im Gegensatz zu heute leider nicht genügend große Oboisten gegeben. Im 20. Jahrhundert sind dann wieder fantastische Oboenkonzerte geschrieben worden: von MacMillan, Qigang Chen, Albert Schnelzer, Gilles Silvestrini, Nicolas Bacri usw. Es gibt aber auch von Ligeti, von Lutoslawski, von Penderecki Stücke für die Oboe. Das sind fantastische Stücke von fantastischen Komponisten. Das hat aber auch mit so fantastischen Oboisten wie Heinz Holliger zu tun, mit Maurice Bourgue, Lothar Koch, Pierre Pierlot usw., die alle so gut waren … Mende: … dass die Komponisten wieder auf die Idee gekommen sind, etwas für die Oboe zu schreiben. Leleux: Ja, sie waren sozusagen die Musen. Mende: Früher war es ja ohnehin ganz oft so gewesen, dass es zuerst einen berühmten Oboisten, Klarinettisten oder Trompeter gegeben hat, für den speziell dann ein Komponist Stücke geschrieben hat. Leleux: Ja, das war absolut so. Mstislaw Rostropowitsch hat sehr viele Stücke z. B. von Prokofjew, von Schostakowitsch bekommen. Und eines Tages ist Rostropowitsch gefragt worden, welches weitere Instrument so viele Stücke bekommen wird wie er. Er hat geantwortet: "Das hängt einfach vom Interpreten ab." Interpreten müssen die Komponisten also zuerst einmal inspirieren, müssen die Musen der Komponisten werden. Wie gesagt, ich bekomme jedes Jahr ein bis zwei neue Stücke von Komponisten geschrieben. Das ist fantastisch und so kann es sein, dass ich am Ende meines Lebens die Ursache für vielleicht 80 neue Stücke gewesen bin. Und von diesen 80 werden vielleicht 10 Stücke für das Repertoire bleiben. Das würde mich wahnsinnig freuen. Mende: Im Barock, in der Klassik und in der Romantik, war es ja so, dass die Menschen immerzu neue Stücke hören wollten. Leleux: Das stimmt. Mende: Früher musste man als Musiker immer Neues liefern, während es heute doch ein wenig anders ist. Die Menschen haben heutzutage oft ein bisschen Sorge vor dem, was sie im Konzertprogramm nicht kennen. Leleux: Ja, wir leben schon ein bisschen im Museum. Die neuen Tempel von heute sind die Museen: Es gibt das MoMA, es gibt das GuggenheimMuseum, es gibt natürlich den Louvre usw. Auch in München gibt es wahnsinnig viele tolle Museen. Das ist super. Aber es ist dennoch wichtig, dass man die moderne Kunst als direkten Bezug zu den Menschen, die heute leben, betrachtet. Das gilt für die Bilder, für die Architektur und natürlich auch für die Musik. Es ist daher sehr wichtig, dass man sich als Interpret, als angesehener Musiker dafür engagiert und dass man überall, wo man das machen kann, wirklich neue Stücke in sein Programm aufnimmt. Wie gesagt, ich mache gerade dieses neue Doppelkonzert von Thierry Escaich zusammen mit Lisa Batiashvili oder auch von Sándor Veress das Passacaglia Concertante für Oboe und Streichorchester. Ich spiele auch Sachen von Penderecki und von Albert Schnelzer usw. Das sind alles neue Stücke, d. h. ich spiele wirklich in jedem Monat ein neues Stück zweimal oder zwei neue Stücke. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe als Mensch, der die Gesellschaft nach vorne bringen will. Mende: Wie bringen Sie denn das Publikum in den Konzertsaal hinein, wenn neue Musik auf dem Programm steht? Denn das erleben Sie ja auch: Die Menschen, die in die Konzerte gehen, sind – das ist empirisch sehr gut erforscht – nun einmal etwas älter, d. h. es sollten eigentlich schon mehr jüngere Menschen in die Konzerte kommen. Was muss sich da ändern? Leleux: Ich bin überzeugt davon, dass man die jungen Menschen ins Konzert bringen kann mit Musik, die mit unserer Zeit verbunden ist. Wir müssen in unsere Konzerte mit Tschaikowski, Mozart, Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner usw. wirklich immer auch neue Stücke einbauen und müssen einen Bezug zu diesem Stück, das man spielt, herstellen. Es ist sehr wichtig, dass man die Programme so gestaltet, dass sich sozusagen auch ein Ohr für diese neue Musik ausbilden kann. Ich finde darüber hinaus z. B. das, was David Zinman mit der Tonhalle in Zürich gemacht hat, fantastisch. Er machte am Freitagabend immer ein einstündiges Konzert mit meinetwegen einem Konzert von Beethoven. Anschließend wurde ein modernes Stück gespielt und danach wurde die Tonhalle in eine Diskothek verwandelt. Es gab Getränke, man konnte tanzen usw. Das ist doch wunderbar, denn da kamen die Studenten um 21.00 oder 22.00 Uhr ins Konzert, das ungefähr eine Stunde dauerte, und anschließend konnten sie tanzen, miteinander quatschen und auch über diese neue Musik reden und was sie in ihnen ausgelöst hat. Ich finde es wichtig, dass es solche Angebote gibt. Es wäre schön, wenn man auch in München auf diese Weise die jungen Leute meinetwegen in den Herkulessaal bringen würde. Zuerst gibt es ein gutes Konzert und dann gibt es im Foyer eine coole Disco. Vielleicht kann man da auch eine Verbindung herstellen zwischen dieser Discomusik und der Musik von früher. Mende: Es gibt ja sehr wohl eine sehr erfolgreiche zeitgenössische Musik, nur spielt sich die nicht im Konzertsaal ab, sondern z. B. im Bereich der Filmmusik. Ein weiterer riesengroßer Bereich ist die Computerspielmusik. Man kann kaum glauben, was da an Umsätzen gemacht wird, und vor allem, wie erfolgreich diese Computerspielmusik ist, wie einflussreich sie heute geworden ist bei den jungen Leuten. Bei der klassischen zeitgenössischen neuen Musik sagen jedoch viele Leute: "Das ist mir zu wenig harmonisch, zu atonal. Diese Musik strengt mich zu sehr an, bei der fühle ich mich nicht wohl." Leleux: Natürlich darf man die Kultur nicht einfach so mit dem Massengeschmack vermengen: Nicht alles, was erfolgreich ist, ist auch wirklich gut. Unsere Gesellschaft ist natürlich ganz klar und ganz massiv auf den Erfolg aus, Erfolg ist in der Kunst aber immer etwas ganz Besonderes. Der Erfolg in der Kunst bemisst sich nicht daran, dass Milliarden von Menschen diese Musik hören wollen. Nein, Erfolg in der Kunst ist, wenn sie bewegt, wenn sie die Menschen nach vorne bringt. Aber die Menschen nach vorne zu bringen, ist sehr anstrengend, denn das geht nicht von alleine. Computerspiele sind heute sehr, sehr erfolgreich, weil sie meistens extrem simpel sind. Auch die Musik in den Filmen ist oft sehr, sehr simpel in ihrem Bezug zu den Bildern. Aber manchmal ist das auch richtige Kunst geworden und ich finde diese Musik toll! Ein erfolgreicher Komponist ist meiner Meinung nach einer, der seine eigene Sprache gefunden hat und der damit die Menschen auch wirklich berühren kann. Denn Musik muss berühren. In der neuen Musik ging es leider zu lange um intellektuelle Musik. Das ist nun aber Gott sei Dank an ein Ende gekommen. Es wird wieder mehr Musik geschrieben für die Menschen von heute, eine Musik, die einen Inhalt hat, der einen Bezug zu unserer Musikgeschichte hat und der diese Musikgeschichte auch wieder einen Schritt nach vorne bringt. Mende: Man muss den Menschen aber auch sagen: "Das ist etwas, womit du dich intensiver beschäftigen musst. Das ist kein Fastfood, sondern das ist etwas, das man erst genießen kann, wenn man sich ein wenig damit beschäftigt hat." Aber man muss denen, die diese Musik spielen, vielleicht auch sagen: "Du darfst nicht derart hohe Hürden aufbauen, sondern du musst die Menschen sozusagen niederschwellig ins Konzerthaus locken." Leleux: Natürlich. Das muss man unbedingt sehr geschickt machen, um die Leute ins Konzert zu locken. Denn es gibt ja wahnsinnig tolle neue Musik, Musik von zeitgenössischen Komponisten, die aber leider nicht sehr häufig gespielt wird. Die Musik von Veress oder von Escaich ist wunderbar. Ich kann nur alle einladen, sich diese Musik anzuhören, denn das ist eine Musik, die wirklich jeden anspricht. Das gilt auch für die Musik von Nicolas Bacri. Mende: Nehmen Sie diese Musik denn auch auf CD auf? Denn die CDs, die ich von Ihnen habe, sind ja alle sehr schön hörbar. In erster Linie spielen Sie da eben alte Musik. Sie haben soeben eine neue CD herausgebracht mit der Musik von Haydn und Hummel: Auch das ist ja eine Musik, die sozusagen rückwärtsgewandt ist. Zeitgenössisches habe ich hingegen von Ihrer Schallplattenfirma nicht zugeschickt bekommen. Leleux: Ich habe jetzt gerade z. B. die vier "Jahreszeiten" von Nicolas Bacri aufgenommen. Das ist ein neues Stück für Oboe, Streichorchester und verschiedene Streichersolisten. Und ich werde jetzt eine CD mit der Musik Albert Schnelzers aufnehmen, auf der vielleicht noch andere tolle Komponisten wie meinetwegen Keith Jarrett zu hören sein werden. Das ist alles noch im Werden und ich sollte wohl auch noch nicht so viel davon sprechen. Aber jetzt bin ich dran und ich werde das alles auf jeden Fall aufnehmen. Denn ich habe mich immer schon für diese neue Musik eingesetzt. Als ich damals in München den ARD-Wettbewerb gewonnen habe, habe ich das Preisgeld einem Komponisten gegeben, damit er etwas für mich schreibt. Und ich war damals gerade erst 20 Jahre alt! Ich finde, man muss einfach in die Zukunft investieren. Es gibt keine andere Möglichkeit, wenn wir etwas für unsere Kinder, für die nächsten Generationen tun wollen. Auch meine Studenten an der Musikhochschule müssen ein neues Repertoire haben, müssen neue Blicke, neue Richtungen ausprobieren können. Jede Generation muss für sich etwas Neues entdecken. Und ich bin eben auch dafür verantwortlich, dass es weitergeht. Mende: Sie haben jetzt so viele Stichworte genannt, über die wir alle jeweils eine einzelne Sendung machen könnten. Ich möchte aber noch einmal kurz zur Oboe selbst zurückkommen. Sie haben vorhin erzählt, dass Sie sich als Kind in die Mechanik, in die Schönheit dieses Instruments verliebt haben. Wann haben Sie sich denn in den Ton dieses Instruments verliebt? Kam das erst danach? Leleux: Das ist schwer zu sagen, denn das ist letztlich wie bei einem Menschen: Verliebt man sich nur in sein Äußeres, in seine Stimme, in seine Seele, in seinen Geist? Ich kann das wirklich nicht sagen, aber ich glaube schon, dass mich damals auch der Klang der Oboe sofort sehr angesprochen hat. Auf jeden Fall ging das ziemlich schnell. Mende: Mir hat neulich ein Musiklehrer an der Schule gesagt, dass es die Kinder heutzutage nicht gewohnt sind, die Schönheit eines einzelnen Tones zu empfinden, weil sie halt nur die Musik aus dem Radio, aus dem Fernseher oder womöglich aus dem Konzert kennen, bei der immer verschiedene Instrumente gleichzeitig spielen. Aber die Schönheit eines einzelnen Tones kennen sie nicht. Könnten Sie uns mal demonstrieren, wie schön ein einzelner Ton klingen kann? Leleux: (spielt einen Ton auf der Oboe) Diese Vibration der Oboe ist etwas unglaublich Schönes. Und es ist ja auch so: Alle unsere Körperzellen sind über Vibrationen miteinander verbunden. Die klassische Musik wiederum ist verbunden mit Schwerkraft: Jede Tonart hat eine Tonika und eine Dominante. Die Dominante bedeutet das Aufheben der Schwerkraft, die Tonika bedeutet Bodenhaftung. Jede Dissonanz in jeder Musik ist ein Moment des Aufhebens und dann wieder die Rückkehr zum Boden. Jede Zelle in unserem Körper ist mit diesem System verbunden. Und jede Vibration hat einen Einfluss auf alle unsere Zellen: nicht nur auf unser Gehirn, auf unsere Ohren usw. Musik löst Vibrationen aus, die unsere Zellen ansprechen. Deshalb ist Musik so wichtig, weil das für den ganzen Körper wie ein zweiter Atem ist. Mende: Wir müssen das also hören, wir müssen das sozusagen wieder empfinden lernen. Leleux: Gestern war ich z. B. in der Schule meines sechsjährigen Sohnes. Meine Frau und ich haben dort die Geige und die Oboe vorgestellt. Diese Kinder haben das sehr genossen. Es ist einfach toll, wenn man so nahe an kleine Kinder herankommen kann und ihnen ein Instrument direkt vorstellen kann. Es gibt ja dieses tolle System in Deutschland, das den Namen "Rhapsody in School" trägt. Das ist eine Organisation, die der Pianist Lars Vogt gegründet hat. Jeder Solist, der in eine Stadt geht und dort zwei oder drei Konzerte gibt, hat dabei ja manchmal einen Vormittag frei. An diesem freien Vormittag kann er in eine Schule gehen und dort den Kindern etwas vorspielen und zeigen. Er meldet sich also bei dieser Organisation an und sagt, wann er in welcher Stadt ist und an welchem Vormittag er Zeit hat und dass er für eine dortige Schule, die Lust darauf hat, etwas spielen würde. Auch die Musikhochschule München macht das mittlerweile so. Wir machen ja immer unsere Odeon-Konzerte mit unseren Studenten und Professoren. Bei jedem dieser Konzerte machen wir dann eine Wiederholung in einer Schule in der Nähe. Im Juli werden wir das in Starnberg am Gymnasium machen. Es ist einfach sehr wichtig, dass man die Musik, dass man die Instrumente ganz nahe an die jungen Menschen heranbringt. Viele andere Orchester machen das inzwischen auch so. Mende: Waren Sie denn so unglaublich begabt oder waren Sie so unglaublich fleißig, dass Sie diesen ganz schnellen Weg nach oben nehmen konnten? Mit 15 Jahren haben Sie ja, wie erwähnt, bereits mit dem Orchestre National de France gespielt. Oder kam da beides zusammen? Leleux: Begabung ist meiner Meinung nach ein zu großes Wort. Es geht nicht um Begabung, aber man muss einfach ein paar Voraussetzungen mitbringen. Man könnte vielleicht sagen: Eine Begabung ist, fleißig zu sein. Eine andere Begabung besteht vielleicht darin, quasi hellseherisch erkennen zu können, was man braucht, was genau man üben muss. Denn es gibt ja auch begabte Studenten, die nicht gut üben können. Aber es geht eben darum, dass man schnell seinen eigenen Weg findet. Um aber schnell den eigenen Weg finden zu können, muss man zu Hause regelmäßig üben und gut und effektiv üben. Es geht nicht darum, dass man so viel wie möglich übt, sondern es geht darum, dass man effektiv übt. Das alles muss also zusammenkommen, und wenn das alles in einer Person zusammenkommt, dann geht es wirklich rasch. Ich hatte einfach das Glück, dass es so schnell ging, dass ich so schnell an die Hochschule gehen konnte, dass ich so schnell mit meiner Oboe arbeiten konnte, dass ich mit noch nicht einmal 20 Jahren bei vielen internationalen Wettbewerben zugelassen wurde und dann auch noch fast alle gewinnen konnte. Es war ein großes Geschenk, dass ich dann so rasch eine internationale Karriere anfangen konnte. Man muss das wirklich als Geschenk betrachten. Aber gleichzeitig sehe ich an der Hochschule auch Studenten, die keine so große Begabung haben, die aber durch ihre Zielstrebigkeit, durch ihren Fleiß und durch ihren Willen sehr, sehr weit kommen, die es wirklich schaffen, eine Karriere anzufangen. Es gibt also kein festgelegtes Profil, das man erfüllen müsste, um als Musiker erfolgreich zu sein. Mende: Das ist eben eine ganz individuelle Geschichte: Einmal ist der eine Bereich stärker ausgeprägt und ein anderes Mal ein anderer. Leleux: Alle haben auch einen unterschiedlichen Rhythmus. Der eine Mensch braucht zwei, der andere vier Jahre für eine bestimmte Entwicklung. Und doch kann es sein, dass derjenige, der länger gebraucht hat, in seiner musikalischen Entwicklung noch viel weiter kommt als der andere. Das ist also ganz individuell und unterscheidet sich bei jedem Menschen. Ich würde sagen, dass die Chancen für jeden eigentlich ziemlich groß sind. Mende: Wenn er es probiert, wenn er die Gelegenheit bekommt, es ausprobieren zu können, zu dürfen. Sie sind ja verheiratet mit der wunderbaren, mit der Weltklasse-Geigerin Lisa Batiashvili. Ich bin ein großer Verehrer von ihr: Bitte grüßen Sie ganz herzlich von mir. Leleux: Das mache ich gerne. Mende: Sie haben zwei Kinder: Werden diese beiden Kinder auch eine Musikerkarriere einschlagen? Ist das irgendwie schon genetisch vorgegeben? Wie sehen Sie das? Leleux: Ich glaube nicht, dass das bereits genetisch vorgegeben ist. Natürlich ist es ein Vorteil, wenn man zu Hause die ganze Zeit über Musik hört, wenn man hört, wie die Mutter immerzu auf der Geige übt und der Vater auf der Oboe. Das ist klar. Lisa hat auch sehr viel gespielt, als sie schwanger war, d. h. die Kinder haben schon im Mutterbauch all diese schönen Vibrationen mitbekommen. Auch das ist wohl ein Vorteil. Aber das prädestiniert die Kinder nicht dazu, Musiker zu werden. Wir werden sie unterstützen, soviel sie das haben wollen. Aber wir werden sie nicht zwingen. Meine Tochter spielt Querflöte, mein Sohn spielt Klavier. Wir lassen das einfach auf uns zukommen. Mal sehen. Natürlich, das tägliche Üben muss sein. Das ist ein bisschen streng am Anfang, aber das ist ein notwendiges Gegengewicht in unserer Zeit. Man kann heute im Internet mit zwei Klicks quasi alles erreichen und bekommen: Alles erscheint leicht erreichbar zu sein. Und dann gibt es ja auch noch solche Sachen wie "Deutschland sucht den Superstar": Da wird den Menschen vorgemacht, dass man in nur drei Monaten zum absoluten Helden werden und wie Pavarotti singen kann. Das stimmt zwar alles nicht, aber viele Menschen glauben das. In solchen Zeiten ist es wichtig zu wissen, dass man an dem, was wirklich gut und wertvoll ist, jeden Tag arbeiten muss. Mende: Das muss man sich erarbeiten. Leleux: Ja, das muss man sich erarbeiten, das kommt nicht von alleine. Das gilt aber nicht nur für die Musik. Mende: François Leleux, vielen herzlichen Dank fürs Kommen und für diese schöne Sendung. Tun Sie uns doch bitte den Gefallen und spielen Sie uns noch etwas vor. Dieses Mal etwas aus dem Oboenkonzert von Johann Nepomuk Hummel. Leleux: Das mache ich gerne. Mende: Vielen Dank fürs Kommen und alle Gute für Sie. Leleux: (spielt auf der Oboe) © Bayerischer Rundfunk