spielt auf der Oboe - Bayerischer Rundfunk

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Sendung vom 6.7.2015, 20.15 Uhr
Professor François Leleux
Solo-Oboist und Dirigent
im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende
Leleux:
(spielt auf der Oboe)
Mende:
Herzlichen Dank, François Leleux, dass Sie für uns dieses Stück gespielt
haben. Für mich ist das hier ein ganz besonderes Erlebnis, denn ich
kenne Sie natürlich von Ihren CDs, von Ihren Aufnahmen, die Sie mit
verschiedenen Orchestern gemacht haben. Aber nun stehen Sie
eineinhalb Meter von mir entfernt und spielen auf Ihrem wunderschönen
Instrument diese wunderschöne Musik. Einen "Oboen-Sänger" hat man
Sie mal genannt. Trifft das auch Ihre Vorstellungen? Wollen Sie spielen,
wie meinetwegen ein Sopran singen würde?
Leleux:
Die Musik ist für mich in der Tat wie eine Sprache: Sie ist wie meine
Muttersprache. Ich habe schon ziemlich früh mit der Oboe angefangen,
nämlich mit sechs Jahren, und natürlich ist es schon so, dass ich, wenn
ich im Konzert spiele, das Gefühl habe, dass ich eine Geschichte erzähle
oder ein Bild beschreibe. Ich befinde mich bei einem Stück jedenfalls
immer in verschiedenen Welten – je nachdem, welchen Komponisten
oder welches Stück ich interpretiere. Diese Bilder, diese Geschichten will
ich dann auch dem Publikum erzählen, will ich dem Publikum erklären.
Es stimmt schon, das hat etwas mit Sprache zu tun in dem Sinne, dass
man da quasi singt. Aber es geht schon auch ums Erzählen und nicht nur
ums Singen per se.
Mende:
Was haben Sie soeben gespielt? Was haben Sie uns also soeben
erzählt? Was war das für eine Geschichte?
Leleux:
Das war ein sehr humorvolles Stück, nämlich das Oboenkonzert von
Johann Nepomuk Hummel. In diesem Stück ist nicht nur sehr viel
Humor, sondern aufgrund der Geschwindigkeit auch sehr viel Virtuosität
drin. Dieses Stück stammt ja aus einer Zeit, in der man in den
Gesprächen zwischen den Menschen immer sehr viele kleine Witze
eingestreut hat. Man war damals jedoch auf gesellschaftlichem Parkett
etwas feiner als heute: Man durfte nicht zu viele Worte verschwenden
und schon gar nicht so etwas wie Slang oder eine joviale
Ausdrucksweise verwenden, sondern man musste den Humor zwischen
den Zeilen verstecken. Ich finde, dass Hummel das musikalisch sehr gut
umgesetzt hat. Er war darin wirklich ein sehr großer Meister. Nach
meinem Dafürhalten ist dieses Stück in F-Dur sehr witzig, sehr positiv
gestimmt. Das ist einfach ein strahlendes Stück Musik.
Mende:
Verstehen wir denn die Sprache der Menschen von damals noch? Es
gab damals ja auch solche Symbole, die man auf Briefe gestempelt hat;
es gab auch sonst viele, viele Anspielungen, über die jeder Bescheid
wusste, ohne dass sie auch nur irgendjemand direkt ausgesprochen
hätte. Auch bei Gemälden kennen wir das ja: Wir schauen uns ein Bild
an und entdecken darin ein Symbol, das uns heute oft nichts oder nicht
mehr so viel sagt. Das heißt, wir müssen sozusagen das ABC, das da
dahintersteht, erst wieder neu lernen.
Leleux:
Es gibt in der Musik oft versteckte Symbole: Mozart hat z. B. in jeder
seiner Opern und in wichtigen Symphonien immer wieder Anspielungen
auf die Freimaurer drin. Der böhmische Barockkomponist Jan Dismas
Zelenka hat z. B. in seinen sechs Sonaten für zwei Oboen und Basso
continuo quasi eine Oper versteckt, weil es damals nämlich verboten
war, über bestimmte Themen zu sprechen. Es ging ihm eigentlich darum,
eine Oper über Homosexualität zu machen, aber es war damals
strengstens verboten, darüber auf der Bühne zu sprechen. Also hat er
diese Geschichte in seiner Musik versteckt. Es gibt natürlich auch sehr
viel moderne Musik, in der der Komponist kleine interessante Zeichen für
bestimmte Geschichten versteckt hat.
Mende:
Und Sie erarbeiten sich all diese Hintergründe jedes Mal, wenn Sie ein
neues Stück aufnehmen oder für die Bühne vorbereiten?
Leleux:
Ja, auf jeden Fall. Es gibt nicht immer ein großes Geheimnis, das sich in
einem Stück versteckt, es gibt auch nicht immer eine große Geschichte
dazu, aber wenn es so etwas gibt, dann eigne ich mir das
selbstverständlich an. Ansonsten ist es natürlich so, dass man ein Stück
praktisch besitzen muss, bevor man es aufnimmt. Man muss wirklich
jede Ecke in einem Stück kennen und sich eine ganz deutliche und
souveräne Meinung darüber aneignen, wie man das interpretieren
möchte, bis man es auf CD bzw. Schallplatte produziert. Das heißt, man
muss wirklich eine fertige Interpretation haben. Aber "fertige
Interpretation" heißt eben nicht, dass damit die Interpretationsarbeit an
ein endgültiges Ende gekommen wäre, denn die Interpretation entwickelt
sich ja immer weiter. Aber für eine Aufnahme mit einem Orchester muss
man als Solist genau wissen, wie das alles funktioniert und was man
erzählen will von einem Stück.
Mende:
Solch eine innere Geschichte, die Sie sich zurechtlegen, hilft dabei
vermutlich kolossal. Ich bin auch deswegen auf den Ausdruck "OboenSänger" gekommen, weil Sie nämlich auch eine CD mit Mozart-Arien aus
der "Zauberflöte" und aus "Don Giovanni" gemacht haben. Wären Sie
eigentlich lieber Sänger geworden?
Leleux:
Nein. Ich habe schon als Kind und Jugendlicher sehr viel Musik gemacht.
Ich hatte auch ein Bläseroktett, mit dem wir sehr viel Opernbearbeitungen
von Mozart bzw. aus der Zeit von Mozart wie z. B. von Joseph
Triebensee gespielt haben. Man hatte damals eben nicht immer das
Geld, um ganze Opern auf die Bühne zu bringen. Also hat man sich
überlegt, ob man so eine Oper nicht auch mit acht Bläsern und einem
Kontrabass spielen kann, also nur mit neun Musikern statt eines ganzen
Orchesters mitsamt den Sängern und den Kostümen usw. Daher habe
ich mir gedacht, dass ich doch mal all diese schönen Arien, die eben nun
einmal vor allem für Opern geschrieben worden sind, auf eine
Schallplatte bannen müsste. Also habe ich diese Arien näher
angeschaut, die Mozart eigentlich für Sänger und Sängerinnen
geschrieben hat. Ich habe das dann auf der Oboe eigentlich genau so
gespielt, wie es in der Partitur für die Sänger steht. Es war sehr
interessant, dabei mit den Worten dahinter zu spielen. Das gibt dem
nämlich eine ganz andere Dimension. Ja, das war ein tolles Erlebnis für
mich.
Mende:
Als ich Sie vorhin gehört habe, hatte ich das Gefühl, im Sommer auf einer
Wiese zu liegen, auf der Schafe grasen usw. Man assoziiert ja die Oboe
immer mit der Schalmei: Sind diese beiden Instrumente wirklich
verwandt?
Leleux:
Ja, das stimmt, diese beiden Instrumente sind verwandt, denn auch die
Schalmei war ein Doppelrohrinstrument. Aber an sich ist die Oboe ein
Blasinstrument, das mit dem Aulos verwandt ist, einem Blasinstrument,
das noch kein Rohr hatte. Denn die Schalmei hatte dann schon ein Rohr.
Es war früher so, dass es quasi in jedem Dorf eine Oboe oder ein
ähnliches Instrument gegeben hat. In Armenien und Georgien war das
die Duduk. Es gab dann in Südwestfrankreich und in Spanien die Gaita.
Es gab auch die kleine chinesische Oboe usw. Es gab also überall
verschiedene Arten von Oboen. Das war aber immer ein einfaches
Instrument, mit dem man die Menschen alle auf dem zentralen Platz
zusammenholen konnte. Wenn man nämlich auf diesem Instrument
gespielt hat, haben das alle gehört, denn das ist ein sehr starkes
Instrument.
Mende:
Das heißt, die Oboe hört man sehr weit. Das ist auch im Orchester so:
Wenn Sie z. B. ein Solo spielen, dann sind Sie weithin gut hörbar.
Leleux:
Darum gibt auch die Oboe das A vor, weil die Oboe jeder hört.
Mende:
Das hat etwas mit dem Einstimmen zu tun, oder?
Leleux:
Ja, im Orchester gibt man beim Einstimmen immer den Ton A vor.
Mende:
Ist der Ton der Oboe der reinste Ton, sodass man sich darauf verlassen
kann?
Leleux:
Ja, natürlich! Die Oboisten spielen am reinsten und haben die beste
Intonation, die es gibt (lacht).
Mende:
Ja, klar, alle und immer.
Leleux:
Es ist einfach so, dass sich die Oboe in der Mitte des Orchesters
befindet: Die Streicher sind vor der Oboe und die Bläser hinter ihr. Der
Oboist ist also genau in der Mitte und das A der Oboe hört man eben
sehr gut im Hinblick auf die Tonqualität. Man hat in den USA sogar
einmal ausprobiert, wie viele Geigen man braucht, um den Ton der Oboe
definitiv nicht mehr hören zu können. Was schätzen Sie? Wie viele
Geigen braucht man, damit man die Oboe nicht mehr hören kann?
Mende:
Sechs Geigen?
Leleux:
Nein. 400! Man braucht 400 Geigen, damit man den Ton der Oboe
wirklich nicht mehr hören kann.
Mende:
Das ist unglaublich. Daraus resultiert ja auch eine sehr, sehr große
Verantwortung, wenn Sie im Orchester spielen.
Leleux:
Genau.
Mende:
Wenn ein Geiger mal daneben greift, dann hört man das nicht so genau
– außer er spielt ein Solo. Wenn die Oboe jedoch oder auch die
Hornisten oder die Trompeter daneben hauen, dann weiß jeder Zuhörer
sofort: "Ah, da hat etwas nicht gestimmt!"
Leleux:
Ja, deswegen muss man als Oboist auch immer ein bisschen aufpassen
im Hinblick auf die Lautstärke usw. Oder man spielt eben mit einem
fantastischen Geiger oder einer fantastischen Geigerin zusammen, wie
meine Frau Lisa Batiashvili eine ist. Wir gehen demnächst in die USA
und spielen dort Bach im Duo und ein neues Stück von Thierry Escaich.
Sie spielt eine Guarneri del Gesù und sie spielt fantastisch auf dieser
Geige. Das geht wunderbar, weil diese Geigen auch sehr laut sind. Aber
es stimmt schon, dass die Oboe eine gewisse Lautstärke hat und dass
man deswegen aufpassen soll.
Mende:
Muss man da bessere Nerven haben als andere Musiker, weil man ja
weiß, dass es von allen zu hören ist, wenn etwas schiefgeht?
Leleux:
Ich glaube, in jedem Fach muss man gute Nerven haben, das gilt nicht
nur für die Oboe oder die Geige oder für einen bestimmten Auftritt. Nein,
man muss immer gute Nerven haben. Es ist sehr wichtig, dass man die
Botschaft der Musik weiterbringt. Und diese Botschaft gibt uns diesen
Inhalt, der uns an das Wesentliche erinnert oder uns dranhält am
Wesentlichen. Damit können wir diese Angstsituation überwinden.
Mende:
Zeigen Sie uns doch mal ein bisschen was von Ihrem Instrument.
Fangen wir ganz oben an: Das sieht, wie der eine oder andere vielleicht
schon wahrgenommen hat, wie ein Zahn aus.
Leleux:
Ja, das sieht wie ein Zahn aus, ist aber unser Mundstück, das Rohr: Das
ist ein Doppelblatt. Alleine damit kann man eigentlich bereits etwas
spielen.
Mende:
Das Rohr ist also gespalten, d. h. das sind zwei Teile.
Leleux:
Das sind zwei Rohre, die zusammen vibrieren. Das Mundstück ist
natürlich ein sehr wichtiges Bauteil für einen Oboisten. Viele Oboisten
verbringen sehr viel Zeit mit ihrem Mundstück. Ich selbst habe dafür aber
nicht die nötige Geduld: 15 Minuten müssen genügen.
Mende:
Das heißt, die Oboisten schnitzen dieses Blättchen hier selbst.
Leleux:
Genau, das muss man mit einem Messer selbst machen. Ohne dieses
Mundstück käme aus der Oboe kein einziger Ton (bläst in die Oboe ohne
Mundstück). Aber wie gesagt, alleine mit dem Mundstück kann man
schon etwas spielen (spielt die ersten Takte von "Frère Jacques"). Wenn
man das Mundstück auf die Oboe steckt, dann klingt das natürlich schon
viel besser (spielt dieselben Takte noch einmal auf der Oboe).
Mende:
Ja, das gefällt mir wesentlich besser.
Leleux:
Mir auch.
Mende:
Man könnte sich also aus einem Stück Stroh bereits so eine Art
Mundstück basteln, wenn man dieses Stück teilt und dann
zusammenfasst.
Leleux:
Ja, fast.
Mende:
Wie geht das dann weiter? Dieses Hölzchen ist ja auch umwickelt.
Leleux:
Das ist hier am Mundstück eine 47 Millimeter lange Hülse. Das Rohr, aus
dem das Mundstück gemacht wird, wird zunächst einmal der Länge nach
geteilt. Die eine Hälfte eines Rohres wird dann umgebogen und
zusammengefaltet und auf diese Hülse gebunden. Anschließend wird
dieses Stück noch geschnitten und ganz genau präpariert.
Mende:
Jeder Oboist macht also seine Mundstücke selbst, d. h. die kann man
nicht irgendwo im Zehnerpack kaufen.
Leleux:
Doch, das könnte man schon, aber es ist besser, wenn man das selbst
macht. Denn man muss einfach selbständig sein, man muss in jeder
Situation zurechtkommen können: Wenn man irgendwo auf der Welt
spielt, dann ist es nicht möglich, sich innerhalb von zwei Tagen von
einem weit entfernten Geschäft Mundstücke liefern zu lassen. Deshalb
muss man sich seine Mundstücke selbst bauen können. Aber es gibt
schon auch Geschäfte, die darauf spezialisiert sind.
Mende:
Ist das eigentlich ein spezielles Holz?
Leleux:
Ja, das ist Pfahlrohr, das in Südfrankreich besonders gut wächst. Viele
Rohre für uns Oboisten kommen daher aus einer bestimmten Gegend
dort. Diese Rohre werden in einzelne Abschnitte zerteilt und dann
ausgehobelt. Bis so ein Mundstück fertig ist, ist also sehr viel Handarbeit
aufgewendet worden.
Mende:
Die Mundstücke sind ja als Naturwerkstoff immer ein bisschen
unterschiedlich im Hinblick auf Größe und Elastizität. Verwenden Sie
unterschiedliche Mundstücke, ja nachdem, welches Stück Sie spielen,
welche Farbe Sie dem Stück geben wollen?
Leleux:
Ja, genau.
Mende:
Oder kommt die Farbe doch eher über den Mund und den Ansatz?
Leleux:
Mit dem Ansatz kann man schon auch den Ton ändern. Man spielt
entweder mit sehr gespannten Lippen oder mit weniger angespannten,
weicheren Lippen. Gleichzeitig ist es auch so: Wenn ich ein OboenKonzert von Richard Strauss spiele, dann ist das einfach eine andere Art
von Musik als die Musik von Mozart, Haydn oder Hummel, die ich vorhin
gespielt habe. Strauss verlangt einen dunkleren Ton und deswegen
nehme ich dann auch ein anderes Mundstück.
Mende:
Sie wechseln also je nach Stück das Mundstück.
Leleux:
Ja.
Mende:
Ich sehe im Orchester immer die Oboisten auf ihrem Mundstück
herumkauen. Das hat aber nichts mit Nervosität zu tun?
Leleux:
Das Mundstück muss einfach nass bleiben, um die Vibration weich zu
halten. Wenn es ganz trocken ist, dann vibriert es nicht mehr und wird
manchmal ganz unspielbar. Das heißt, es muss immer nass sein, weil
das für den Ton einfach besser ist.
Mende:
Das Fagott hat ja ein ganz ähnliches Mundstück. Jedenfalls ist der
Gesichtsausdruck der Fagottisten und der Oboisten sehr ähnlich.
Leleux:
Ja, genau. Auch das Fagott hat ein Doppelrohrblatt als Mundstück. Das
heißt, man muss auch hier mit beiden Lippen, die die Zähne
umschließen, das Mundstück umfassen und so diese Vibration durch
Hineinblasen von Luft erzeugen. Klar, man muss da bei beiden
Instrumenten sozusagen immer ein bisschen auf dem Mundstück
beißen.
Mende:
Sie beißen mit den Lippen?
Leleux:
Die Lippen kommen auf die Zähne!
Mende:
Und damit beißen Sie dann zu. An welcher Stelle beißen Sie denn auf
das Mundstück, denn die Luft muss ja auch noch schwingen können im
Mundstück?
Leleux:
Genau, man muss in der Mitte des Mundstücks zubeißen.
Mende:
Und dann müssen Sie heftig Druck erzeugen.
Leleux:
Die Oboe braucht nicht so viel Luft wie meinetwegen die Flöte oder die
Klarinette.
Mende:
Es sieht aber oft so aus, als ob da unglaublich viel Luft hindurchginge.
Leleux:
Das liegt daran, dass in diesem kleinen Rohr, in diesem Mundstück, das
noch nicht zerbissen ist, ja nur sehr wenig Platz ist: Das sind nur 0,1
Millimeter – und 0,05 Millimeter am Gebrauchsende! Damit muss man
eine große Dynamik erzielen. Deshalb ist es wichtig, dass man ruhig
bleibt und dass man tief einatmet. Das ist ein bisschen wie beim
Apnoetauchen, also beim Tauchen mit der Luft eines einzigen Atemzugs,
also ohne Sauerstoffflasche. Deswegen kann man auch sehr lange
Phasen spielen mit der Oboe.
Mende:
Sie brauchen also einen relativ hohen Druck im Mund.
Leleux:
Ja, das stimmt.
Mende:
Es gibt ja auch Oboisten, denen man diesen Druck wirklich ansieht: Sie
laufen an bestimmten Stellen immer knallrot an. Deswegen denkt man
sich als Zuhörer oft, dass es schrecklich ungesund sein muss, auf der
Oboe zu spielen, denn die Oboisten sehen immer so aus, als stünden sie
kurz vor dem Kollabieren.
Leleux:
Nein, nein, bis jetzt ist noch kein Oboist kollabiert.
Mende:
Gibt es denn Messungen, wie viel Druck ein Oboist erzeugen muss?
Leleux:
Ja, das wurde schon gemessen und man fand heraus, dass im Kopf
eines Oboisten genau so viel Druck herrscht wie beim Piloten eines
Kampfjets, wenn er mit doppelter Schallgeschwindigkeit bestimmte
Kurven fliegt.
Mende:
Das ist also so, als würde man einen widerspenstigen Luftballon
aufblasen?
Leleux:
Genau, das ist ungefähr so, als würde man für einen Kindergeburtstag
eine ganze Reihe von Luftballons aufblasen, die alle sehr, sehr
widerspenstig sind. Da muss man dann schon richtig kräftig hineinblasen,
damit sie auseinandergehen. So ungefähr ist das mit dem Druck bei der
Oboe auch. Aber wenn man tief einatmet und diesen Druck schön tief
hält, dann ist das sehr einfach.
Mende:
Wie lange können Sie denn so einen Ton aushalten? Bei der Oboe ist ja
der Luftverbrauch nur sehr gering, weil dieses Mundstück eben nicht sehr
viel Luft hindurch lässt.
Leleux:
Ich würde sagen, ich kann einen Ton 30 Sekunden bis eine Minute lang
halten.
Mende:
Da wird es dann bei Sängern tatsächlich schon ein bisschen schwierig.
Leleux:
Ja, das stimmt. Es gibt bei Bach eine sehr schöne Stelle, bei der der Ton
der Oboe wirklich unendlich ist. Das ist wunderbar und man kann das bei
der Oboe wirklich gut mit nur einem Atemzug machen. Das geht bei
keinem anderen Instrument, nicht beim Fagott, nicht bei der Flöte, nicht
mit der Klarinette usw. Nur die Oboe kann wirklich diese ganz langen
Linien ziehen. Das ist wunderbar.
Mende:
Können Sie denn auch während des Spielens Luft holen? Es gibt ja auch
Trompeter, die dabei so eine Art Luft-Kreislauf herstellen.
Leleux:
Das ist die Permanentatmung, die Zirkularatmung. Man muss in den
Backen die Luft praktisch speichern und sie von dort aus in das Rohr
hineinblasen, während man gleichzeitig mit der Nase einatmet
(demonstriert das kurz). Haben Sie gehört, wie ich geatmet habe?
Mende:
Das ist ein bisschen so wie beim Dudelsackspielen.
Leleux:
Auf diese Weise kann man sehr lange auf der Oboe spielen
(demonstriert das).
Mende:
Und Sie sind immer noch nicht rot geworden – was aber nicht an unserer
guten Maskenbildnerin liegt.
Leleux:
Ja, das tut mir leid.
Mende:
Das liegt einfach an Ihrer perfekten Technik. Und herauskommt dabei ein
wunderschöner Klang.
Leleux:
Danke.
Mende:
Wann haben Sie sich denn als Kind in die Oboe verliebt? Denn es gibt ja
viele Kinder, die den Klang der Oboe sehr, sehr gerne haben. Ich stelle
das immer wieder fest, wenn ich mit Kindern in Konzerte gehe.
Leleux:
Ja, bei mir war es auch so, dass dieses Instrument meine
Aufmerksamkeit erregt hat, als ich gerade einmal vier Jahre alt war. Ich
war damals in einer Orff-Schule für Musik. Es war nämlich so, dass mein
älterer Bruder Musik studieren wollte und deswegen ein Instrument
gelernt hat. Weil ich noch so klein war, schickte man mich in diese
Schule, in der man mit der Methode von Orff an die Musik herangeführt
wird. Uns wurde dort die Trompete vorgeführt, die Flöte, die Geige usw.,
und eben auch die Oboe. Ich war sofort verliebt in das Aussehen der
Oboe, in diese schönen silbrigen Schlüssel auf dem dunklen Ebenholz.
Ich fand auch die Technik dieses Instrument sofort faszinierend. Aus dem
Grund wollte ich bereits mit vier Jahren unbedingt auch eine Oboe haben
und auf ihr spielen.
Mende:
Warum ist das so kompliziert mit der Mechanik bei der Oboe? Das ist
wesentlich komplizierter als z. B. bei einer Klarinette. Sie könnten doch
eigentlich wie bei einer Schalmei auch nur mit den Löchern spielen, die
Sie mit den Fingern verschließen.
Leleux:
Ja, genau, das wäre auch möglich. Aber mit mehr Technik vergrößern
sich eben auch die Möglichkeiten der Oboe. Das hat einfach mit
Effektivität, mit Intonation usw. zu tun. Aber die Oboe hat sich im Laufe
der Geschichte wirklich sehr entwickelt, vor allem in den letzten 150
Jahren. Und erst seit Kurzem gibt es nun eine ganz neue Entwicklung:
Es ist ganz neu, dass man hier den Kopf des Instruments abnehmen und
tauschen kann wie bei einer Flöte oder einer Klarinette. Man kann einen
längeren oder kürzeren Kopf verwenden, einen aus einem anderen Holz,
einen mit einem ganz anderen Bogen usw. Das ist wirklich eine ganz
neue Entwicklung. Aber zurück zu Ihrer Frage: Ich wollte also unbedingt
dieses Instrument besitzen und spielen und es all meinen Freunden
zeigen. Mit fünf Jahren habe ich dann ein paar Töne darauf gespielt,
denn für mehr waren meine Finger noch zu kurz. Aber mit sechs Jahren
habe ich richtig angefangen damit. Es ging dann ziemlich rasch vorwärts,
sodass ich schon mit 14 Jahren in Paris an die Musikhochschule kam.
Mit 15 Jahren habe ich angefangen, mit dem Orchestre National de
France zu spielen: Damals war dort Lorin Maazel der Dirigent. Mit 18
Jahren hatte ich dann meine erste Soloposition in der Pariser Oper. Und
dann kam ich nach München zum Bayerischen Rundfunk. Das war
fantastisch!
Mende:
Auch mit Lorin Maazel. Das heißt, er hat sich wohl an den kleinen Kerl
von damals erinnert?
Leleux:
Ja, er hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Er war ein großer Meister –
launisch zwar, aber ein wirklicher Meister.
Mende:
Lassen Sie uns noch ein wenig über das Instrument selbst sprechen. Ich
stelle mir vor, dass bei dieser vielen Mechanik, bei diesen vielen Klappen
an diesem Instrument auch durchaus mal etwas undicht werden kann.
So eine Oboe kann sehr schnell kaputt gehen, weswegen man sehr
vorsichtig umgehen muss mit ihr.
Leleux:
Es gibt unter jedem dieser Schlüssel – so heißen diese Klappen – ein
Polster, das aus Kork gemacht wird. Es gab auch schon andere mit
Leder z. B., aber Kork ist besser. Dieser Kork kann sich aber z. B. bei
großer Hitze verändern, verschieben, sodass er nicht mehr richtig
schließt. Deswegen muss man die Polster dieser Schlüssel immer sehr
fein justieren. Obwohl die Oboe ja einen runden Körper hat, müssen die
Polster sehr flach aufliegen. Das heißt, das ist eine wirklich unglaublich
feine Arbeit.
Mende:
Basteln Sie denn vor jedem Konzert mit dem Schraubenzieher usw.
noch ein bisschen herum an Ihrem Instrument und schauen Sie, ob auch
alles dicht ist?
Leleux:
Ja, man muss da schon recht geschickt sein als Instrumentalist, denn
man kann ja nicht immer einen tollen Handwerker ins Konzert
mitschleppen. Das geht schon mal gar nicht, wenn man in einer Woche
in den USA spielt und anschließend auf einer Tournee in China. Man
muss also sehr wohl selbst an seinem Instrument etwas reparieren und
einstellen können. Aber demnächst fahre ich z. B. nach Paris und lasse
mir dort meine Oboe ganz genau anschauen von einem Handwerker.
Man muss also als Oboist selbst etwas machen können, aber man sollte
sein Instrument auch mindestens einmal im Jahr sozusagen zur
Inspektion bringen.
Mende:
Kann eigentlich jeder auf der Oboe spielen? Könnte ich, wenn Sie mir ein
neues Mundstück gäben, auch auf der Oboe spielen?
Leleux:
Ja, das glaube ich schon.
Mende:
Sie meinen also, dass ich da einen vernünftigen Ton herausbekomme?
Leleux:
Ja, doch.
Mende:
Wie viele Stunden muss man denn üben, bis man es so kann wie Sie?
Leleux:
Ach, das kann man nur schwer ausrechnen. Bei mir ist es so, dass ich
ganz regelmäßig übe, seit ich sechs Jahre alt bin. Das ist doch schon
eine Weile her. Ich übe jeden Tag. Damals als Kind habe ich natürlich
noch nicht so viele Stunden geübt wie später. Heute ist das ebenfalls
wieder ein bisschen weniger geworden. Aber damals, als ich an den
internationalen Wettbewerben wie dem ARD-Wettbewerb in München
teilgenommen habe …
Mende:
Das war 1991.
Leleux:
Ja, das ist lange her.
Mende:
Es gibt davon sogar noch eine Aufnahme im Internet. Damals waren Sie
noch ein ganz junger Mann.
Leleux:
Das stimmt, ich war damals 19 Jahre alt. In dieser Zeit damals habe ich
wirklich sehr viel geübt. Man macht das auch deswegen, um sich ein
gewisses Repertoire aufzubauen. Und bis heute ist es so, dass ich mir
jedes Jahr ein bis zwei neue Stücke erarbeite. In diesem Jahr ist das z.
B. das neue Stück von Thierry Escaich, dieses Doppelkonzert, das ich
zusammen mit meiner Frau spiele. Es ist fantastisch, wenn man jedes
Jahr sein Repertoire erweitert: Man muss sich immer wieder neu
erfinden, wenn man ein neues Stück erarbeitet, denn man muss sich
dabei ja jedes Mal erneut infrage stellen können. Nichts ist für immer,
man muss immer wieder alles neu machen! Auch die neue Musik ist für
mich eine tolle Inspirationsquelle. Für die Gesellschaft, für das Publikum
muss man immer wieder etwas Neues anbieten. Das ist sehr wichtig.
Mende:
Man muss auch immer wieder neue CDs herausbringen.
Leleux:
Ja, genau.
Mende:
Gibt es denn überhaupt genügend Literatur für die Oboe? Ich sehe
nämlich, dass viele Oboisten auch Stücke bearbeiten, weil es für die
Oboe keine Originalbearbeitung gibt. Oder ist die Originalliteratur für die
Oboe verloren gegangen wie z. B. bei Bach, bei dem unendlich viel
verloren gegangen ist. Viele Stücke von ihm kennen wir nur mehr als
Cembalokonzert und hören daraus, dass diese Stücke ursprünglich mal
für die Oboe geschrieben worden sein müssen.
Leleux:
Das stimmt.
Mende:
Gibt es also genügend Stoff?
Leleux:
Ja, es gibt sehr, sehr viel Literatur, ich glaube, unsere Sendezeit dafür
würde nicht genügen. Ich habe z. B. das komplette Werk für Oboe von
Richard Strauss auf CD aufgenommen. Ich habe auch den kompletten
Mozart aufgenommen und den kompletten Bach. Die CD "Der Charme
der Oboe" ist mit italienischen Stücken von Marcello, Bellini, Cimarosa,
Vivaldi, Pasculli usw. Pasculli hat fünf, sechs wunderbare Konzerte für
Oboe geschrieben, Vivaldi hat 20 Oboenkonzerte geschrieben. Bohuslav
Martinu hat mehrere Oboenkonzerte geschrieben. Dazu kommen noch
all die Stücke von Hummel und Haydn usw. Es gibt sechs
Doppelkonzerte, die wir mit Oboe und Flöte aufnehmen. Es gibt also
wahnsinnig viel Repertoire. Ich staune selbst immer wieder, was es alles
gibt. Denken Sie an das Capriccio, das Oboenkonzert von Penderecki,
an das Stück von Sándor Veress, Passacaglia Concertante.
Mende:
Die große Zeit der Oboe war ja im Barock; in der Wiener Klassik und in
der Romantik ist es dann etwas stiller geworden um die Oboe.
Leleux:
In der Romantik hat es im Gegensatz zu heute leider nicht genügend
große Oboisten gegeben. Im 20. Jahrhundert sind dann wieder
fantastische Oboenkonzerte geschrieben worden: von MacMillan,
Qigang Chen, Albert Schnelzer, Gilles Silvestrini, Nicolas Bacri usw. Es
gibt aber auch von Ligeti, von Lutoslawski, von Penderecki Stücke für die
Oboe. Das sind fantastische Stücke von fantastischen Komponisten. Das
hat aber auch mit so fantastischen Oboisten wie Heinz Holliger zu tun,
mit Maurice Bourgue, Lothar Koch, Pierre Pierlot usw., die alle so gut
waren …
Mende:
… dass die Komponisten wieder auf die Idee gekommen sind, etwas für
die Oboe zu schreiben.
Leleux:
Ja, sie waren sozusagen die Musen.
Mende:
Früher war es ja ohnehin ganz oft so gewesen, dass es zuerst einen
berühmten Oboisten, Klarinettisten oder Trompeter gegeben hat, für den
speziell dann ein Komponist Stücke geschrieben hat.
Leleux:
Ja, das war absolut so. Mstislaw Rostropowitsch hat sehr viele Stücke z.
B. von Prokofjew, von Schostakowitsch bekommen. Und eines Tages ist
Rostropowitsch gefragt worden, welches weitere Instrument so viele
Stücke bekommen wird wie er. Er hat geantwortet: "Das hängt einfach
vom Interpreten ab." Interpreten müssen die Komponisten also zuerst
einmal inspirieren, müssen die Musen der Komponisten werden. Wie
gesagt, ich bekomme jedes Jahr ein bis zwei neue Stücke von
Komponisten geschrieben. Das ist fantastisch und so kann es sein, dass
ich am Ende meines Lebens die Ursache für vielleicht 80 neue Stücke
gewesen bin. Und von diesen 80 werden vielleicht 10 Stücke für das
Repertoire bleiben. Das würde mich wahnsinnig freuen.
Mende:
Im Barock, in der Klassik und in der Romantik, war es ja so, dass die
Menschen immerzu neue Stücke hören wollten.
Leleux:
Das stimmt.
Mende:
Früher musste man als Musiker immer Neues liefern, während es heute
doch ein wenig anders ist. Die Menschen haben heutzutage oft ein
bisschen Sorge vor dem, was sie im Konzertprogramm nicht kennen.
Leleux:
Ja, wir leben schon ein bisschen im Museum. Die neuen Tempel von
heute sind die Museen: Es gibt das MoMA, es gibt das GuggenheimMuseum, es gibt natürlich den Louvre usw. Auch in München gibt es
wahnsinnig viele tolle Museen. Das ist super. Aber es ist dennoch
wichtig, dass man die moderne Kunst als direkten Bezug zu den
Menschen, die heute leben, betrachtet. Das gilt für die Bilder, für die
Architektur und natürlich auch für die Musik. Es ist daher sehr wichtig,
dass man sich als Interpret, als angesehener Musiker dafür engagiert
und dass man überall, wo man das machen kann, wirklich neue Stücke
in sein Programm aufnimmt. Wie gesagt, ich mache gerade dieses neue
Doppelkonzert von Thierry Escaich zusammen mit Lisa Batiashvili oder
auch von Sándor Veress das Passacaglia Concertante für Oboe und
Streichorchester. Ich spiele auch Sachen von Penderecki und von Albert
Schnelzer usw. Das sind alles neue Stücke, d. h. ich spiele wirklich in
jedem Monat ein neues Stück zweimal oder zwei neue Stücke. Das ist
für mich die wichtigste Aufgabe als Mensch, der die Gesellschaft nach
vorne bringen will.
Mende:
Wie bringen Sie denn das Publikum in den Konzertsaal hinein, wenn
neue Musik auf dem Programm steht? Denn das erleben Sie ja auch:
Die Menschen, die in die Konzerte gehen, sind – das ist empirisch sehr
gut erforscht – nun einmal etwas älter, d. h. es sollten eigentlich schon
mehr jüngere Menschen in die Konzerte kommen. Was muss sich da
ändern?
Leleux:
Ich bin überzeugt davon, dass man die jungen Menschen ins Konzert
bringen kann mit Musik, die mit unserer Zeit verbunden ist. Wir müssen in
unsere Konzerte mit Tschaikowski, Mozart, Bach, Beethoven, Brahms,
Bruckner usw. wirklich immer auch neue Stücke einbauen und müssen
einen Bezug zu diesem Stück, das man spielt, herstellen. Es ist sehr
wichtig, dass man die Programme so gestaltet, dass sich sozusagen
auch ein Ohr für diese neue Musik ausbilden kann. Ich finde darüber
hinaus z. B. das, was David Zinman mit der Tonhalle in Zürich gemacht
hat, fantastisch. Er machte am Freitagabend immer ein einstündiges
Konzert mit meinetwegen einem Konzert von Beethoven. Anschließend
wurde ein modernes Stück gespielt und danach wurde die Tonhalle in
eine Diskothek verwandelt. Es gab Getränke, man konnte tanzen usw.
Das ist doch wunderbar, denn da kamen die Studenten um 21.00 oder
22.00 Uhr ins Konzert, das ungefähr eine Stunde dauerte, und
anschließend konnten sie tanzen, miteinander quatschen und auch über
diese neue Musik reden und was sie in ihnen ausgelöst hat. Ich finde es
wichtig, dass es solche Angebote gibt. Es wäre schön, wenn man auch in
München auf diese Weise die jungen Leute meinetwegen in den
Herkulessaal bringen würde. Zuerst gibt es ein gutes Konzert und dann
gibt es im Foyer eine coole Disco. Vielleicht kann man da auch eine
Verbindung herstellen zwischen dieser Discomusik und der Musik von
früher.
Mende:
Es gibt ja sehr wohl eine sehr erfolgreiche zeitgenössische Musik, nur
spielt sich die nicht im Konzertsaal ab, sondern z. B. im Bereich der
Filmmusik. Ein weiterer riesengroßer Bereich ist die Computerspielmusik.
Man kann kaum glauben, was da an Umsätzen gemacht wird, und vor
allem, wie erfolgreich diese Computerspielmusik ist, wie einflussreich sie
heute geworden ist bei den jungen Leuten. Bei der klassischen
zeitgenössischen neuen Musik sagen jedoch viele Leute: "Das ist mir zu
wenig harmonisch, zu atonal. Diese Musik strengt mich zu sehr an, bei
der fühle ich mich nicht wohl."
Leleux:
Natürlich darf man die Kultur nicht einfach so mit dem
Massengeschmack vermengen: Nicht alles, was erfolgreich ist, ist auch
wirklich gut. Unsere Gesellschaft ist natürlich ganz klar und ganz massiv
auf den Erfolg aus, Erfolg ist in der Kunst aber immer etwas ganz
Besonderes. Der Erfolg in der Kunst bemisst sich nicht daran, dass
Milliarden von Menschen diese Musik hören wollen. Nein, Erfolg in der
Kunst ist, wenn sie bewegt, wenn sie die Menschen nach vorne bringt.
Aber die Menschen nach vorne zu bringen, ist sehr anstrengend, denn
das geht nicht von alleine. Computerspiele sind heute sehr, sehr
erfolgreich, weil sie meistens extrem simpel sind. Auch die Musik in den
Filmen ist oft sehr, sehr simpel in ihrem Bezug zu den Bildern. Aber
manchmal ist das auch richtige Kunst geworden und ich finde diese
Musik toll! Ein erfolgreicher Komponist ist meiner Meinung nach einer,
der seine eigene Sprache gefunden hat und der damit die Menschen
auch wirklich berühren kann. Denn Musik muss berühren. In der neuen
Musik ging es leider zu lange um intellektuelle Musik. Das ist nun aber
Gott sei Dank an ein Ende gekommen. Es wird wieder mehr Musik
geschrieben für die Menschen von heute, eine Musik, die einen Inhalt
hat, der einen Bezug zu unserer Musikgeschichte hat und der diese
Musikgeschichte auch wieder einen Schritt nach vorne bringt.
Mende:
Man muss den Menschen aber auch sagen: "Das ist etwas, womit du
dich intensiver beschäftigen musst. Das ist kein Fastfood, sondern das ist
etwas, das man erst genießen kann, wenn man sich ein wenig damit
beschäftigt hat." Aber man muss denen, die diese Musik spielen,
vielleicht auch sagen: "Du darfst nicht derart hohe Hürden aufbauen,
sondern du musst die Menschen sozusagen niederschwellig ins
Konzerthaus locken."
Leleux:
Natürlich. Das muss man unbedingt sehr geschickt machen, um die
Leute ins Konzert zu locken. Denn es gibt ja wahnsinnig tolle neue Musik,
Musik von zeitgenössischen Komponisten, die aber leider nicht sehr
häufig gespielt wird. Die Musik von Veress oder von Escaich ist
wunderbar. Ich kann nur alle einladen, sich diese Musik anzuhören, denn
das ist eine Musik, die wirklich jeden anspricht. Das gilt auch für die Musik
von Nicolas Bacri.
Mende:
Nehmen Sie diese Musik denn auch auf CD auf? Denn die CDs, die ich
von Ihnen habe, sind ja alle sehr schön hörbar. In erster Linie spielen Sie
da eben alte Musik. Sie haben soeben eine neue CD herausgebracht mit
der Musik von Haydn und Hummel: Auch das ist ja eine Musik, die
sozusagen rückwärtsgewandt ist. Zeitgenössisches habe ich hingegen
von Ihrer Schallplattenfirma nicht zugeschickt bekommen.
Leleux:
Ich habe jetzt gerade z. B. die vier "Jahreszeiten" von Nicolas Bacri
aufgenommen. Das ist ein neues Stück für Oboe, Streichorchester und
verschiedene Streichersolisten. Und ich werde jetzt eine CD mit der
Musik Albert Schnelzers aufnehmen, auf der vielleicht noch andere tolle
Komponisten wie meinetwegen Keith Jarrett zu hören sein werden. Das
ist alles noch im Werden und ich sollte wohl auch noch nicht so viel
davon sprechen. Aber jetzt bin ich dran und ich werde das alles auf jeden
Fall aufnehmen. Denn ich habe mich immer schon für diese neue Musik
eingesetzt. Als ich damals in München den ARD-Wettbewerb gewonnen
habe, habe ich das Preisgeld einem Komponisten gegeben, damit er
etwas für mich schreibt. Und ich war damals gerade erst 20 Jahre alt! Ich
finde, man muss einfach in die Zukunft investieren. Es gibt keine andere
Möglichkeit, wenn wir etwas für unsere Kinder, für die nächsten
Generationen tun wollen. Auch meine Studenten an der
Musikhochschule müssen ein neues Repertoire haben, müssen neue
Blicke, neue Richtungen ausprobieren können. Jede Generation muss
für sich etwas Neues entdecken. Und ich bin eben auch dafür
verantwortlich, dass es weitergeht.
Mende:
Sie haben jetzt so viele Stichworte genannt, über die wir alle jeweils eine
einzelne Sendung machen könnten. Ich möchte aber noch einmal kurz
zur Oboe selbst zurückkommen. Sie haben vorhin erzählt, dass Sie sich
als Kind in die Mechanik, in die Schönheit dieses Instruments verliebt
haben. Wann haben Sie sich denn in den Ton dieses Instruments
verliebt? Kam das erst danach?
Leleux:
Das ist schwer zu sagen, denn das ist letztlich wie bei einem Menschen:
Verliebt man sich nur in sein Äußeres, in seine Stimme, in seine Seele, in
seinen Geist? Ich kann das wirklich nicht sagen, aber ich glaube schon,
dass mich damals auch der Klang der Oboe sofort sehr angesprochen
hat. Auf jeden Fall ging das ziemlich schnell.
Mende:
Mir hat neulich ein Musiklehrer an der Schule gesagt, dass es die Kinder
heutzutage nicht gewohnt sind, die Schönheit eines einzelnen Tones zu
empfinden, weil sie halt nur die Musik aus dem Radio, aus dem
Fernseher oder womöglich aus dem Konzert kennen, bei der immer
verschiedene Instrumente gleichzeitig spielen. Aber die Schönheit eines
einzelnen Tones kennen sie nicht. Könnten Sie uns mal demonstrieren,
wie schön ein einzelner Ton klingen kann?
Leleux:
(spielt einen Ton auf der Oboe) Diese Vibration der Oboe ist etwas
unglaublich Schönes. Und es ist ja auch so: Alle unsere Körperzellen
sind über Vibrationen miteinander verbunden. Die klassische Musik
wiederum ist verbunden mit Schwerkraft: Jede Tonart hat eine Tonika
und eine Dominante. Die Dominante bedeutet das Aufheben der
Schwerkraft, die Tonika bedeutet Bodenhaftung. Jede Dissonanz in jeder
Musik ist ein Moment des Aufhebens und dann wieder die Rückkehr zum
Boden. Jede Zelle in unserem Körper ist mit diesem System verbunden.
Und jede Vibration hat einen Einfluss auf alle unsere Zellen: nicht nur auf
unser Gehirn, auf unsere Ohren usw. Musik löst Vibrationen aus, die
unsere Zellen ansprechen. Deshalb ist Musik so wichtig, weil das für den
ganzen Körper wie ein zweiter Atem ist.
Mende:
Wir müssen das also hören, wir müssen das sozusagen wieder
empfinden lernen.
Leleux:
Gestern war ich z. B. in der Schule meines sechsjährigen Sohnes. Meine
Frau und ich haben dort die Geige und die Oboe vorgestellt. Diese
Kinder haben das sehr genossen. Es ist einfach toll, wenn man so nahe
an kleine Kinder herankommen kann und ihnen ein Instrument direkt
vorstellen kann. Es gibt ja dieses tolle System in Deutschland, das den
Namen "Rhapsody in School" trägt. Das ist eine Organisation, die der
Pianist Lars Vogt gegründet hat. Jeder Solist, der in eine Stadt geht und
dort zwei oder drei Konzerte gibt, hat dabei ja manchmal einen Vormittag
frei. An diesem freien Vormittag kann er in eine Schule gehen und dort
den Kindern etwas vorspielen und zeigen. Er meldet sich also bei dieser
Organisation an und sagt, wann er in welcher Stadt ist und an welchem
Vormittag er Zeit hat und dass er für eine dortige Schule, die Lust darauf
hat, etwas spielen würde. Auch die Musikhochschule München macht
das mittlerweile so. Wir machen ja immer unsere Odeon-Konzerte mit
unseren Studenten und Professoren. Bei jedem dieser Konzerte machen
wir dann eine Wiederholung in einer Schule in der Nähe. Im Juli werden
wir das in Starnberg am Gymnasium machen. Es ist einfach sehr wichtig,
dass man die Musik, dass man die Instrumente ganz nahe an die jungen
Menschen heranbringt. Viele andere Orchester machen das inzwischen
auch so.
Mende:
Waren Sie denn so unglaublich begabt oder waren Sie so unglaublich
fleißig, dass Sie diesen ganz schnellen Weg nach oben nehmen
konnten? Mit 15 Jahren haben Sie ja, wie erwähnt, bereits mit dem
Orchestre National de France gespielt. Oder kam da beides zusammen?
Leleux:
Begabung ist meiner Meinung nach ein zu großes Wort. Es geht nicht
um Begabung, aber man muss einfach ein paar Voraussetzungen
mitbringen. Man könnte vielleicht sagen: Eine Begabung ist, fleißig zu
sein. Eine andere Begabung besteht vielleicht darin, quasi hellseherisch
erkennen zu können, was man braucht, was genau man üben muss.
Denn es gibt ja auch begabte Studenten, die nicht gut üben können.
Aber es geht eben darum, dass man schnell seinen eigenen Weg findet.
Um aber schnell den eigenen Weg finden zu können, muss man zu
Hause regelmäßig üben und gut und effektiv üben. Es geht nicht darum,
dass man so viel wie möglich übt, sondern es geht darum, dass man
effektiv übt. Das alles muss also zusammenkommen, und wenn das
alles in einer Person zusammenkommt, dann geht es wirklich rasch. Ich
hatte einfach das Glück, dass es so schnell ging, dass ich so schnell an
die Hochschule gehen konnte, dass ich so schnell mit meiner Oboe
arbeiten konnte, dass ich mit noch nicht einmal 20 Jahren bei vielen
internationalen Wettbewerben zugelassen wurde und dann auch noch
fast alle gewinnen konnte. Es war ein großes Geschenk, dass ich dann
so rasch eine internationale Karriere anfangen konnte. Man muss das
wirklich als Geschenk betrachten. Aber gleichzeitig sehe ich an der
Hochschule auch Studenten, die keine so große Begabung haben, die
aber durch ihre Zielstrebigkeit, durch ihren Fleiß und durch ihren Willen
sehr, sehr weit kommen, die es wirklich schaffen, eine Karriere
anzufangen. Es gibt also kein festgelegtes Profil, das man erfüllen
müsste, um als Musiker erfolgreich zu sein.
Mende:
Das ist eben eine ganz individuelle Geschichte: Einmal ist der eine
Bereich stärker ausgeprägt und ein anderes Mal ein anderer.
Leleux:
Alle haben auch einen unterschiedlichen Rhythmus. Der eine Mensch
braucht zwei, der andere vier Jahre für eine bestimmte Entwicklung. Und
doch kann es sein, dass derjenige, der länger gebraucht hat, in seiner
musikalischen Entwicklung noch viel weiter kommt als der andere. Das
ist also ganz individuell und unterscheidet sich bei jedem Menschen. Ich
würde sagen, dass die Chancen für jeden eigentlich ziemlich groß sind.
Mende:
Wenn er es probiert, wenn er die Gelegenheit bekommt, es ausprobieren
zu können, zu dürfen. Sie sind ja verheiratet mit der wunderbaren, mit der
Weltklasse-Geigerin Lisa Batiashvili. Ich bin ein großer Verehrer von ihr:
Bitte grüßen Sie ganz herzlich von mir.
Leleux:
Das mache ich gerne.
Mende:
Sie haben zwei Kinder: Werden diese beiden Kinder auch eine
Musikerkarriere einschlagen? Ist das irgendwie schon genetisch
vorgegeben? Wie sehen Sie das?
Leleux:
Ich glaube nicht, dass das bereits genetisch vorgegeben ist. Natürlich ist
es ein Vorteil, wenn man zu Hause die ganze Zeit über Musik hört, wenn
man hört, wie die Mutter immerzu auf der Geige übt und der Vater auf
der Oboe. Das ist klar. Lisa hat auch sehr viel gespielt, als sie schwanger
war, d. h. die Kinder haben schon im Mutterbauch all diese schönen
Vibrationen mitbekommen. Auch das ist wohl ein Vorteil. Aber das
prädestiniert die Kinder nicht dazu, Musiker zu werden. Wir werden sie
unterstützen, soviel sie das haben wollen. Aber wir werden sie nicht
zwingen. Meine Tochter spielt Querflöte, mein Sohn spielt Klavier. Wir
lassen das einfach auf uns zukommen. Mal sehen. Natürlich, das
tägliche Üben muss sein. Das ist ein bisschen streng am Anfang, aber
das ist ein notwendiges Gegengewicht in unserer Zeit. Man kann heute
im Internet mit zwei Klicks quasi alles erreichen und bekommen: Alles
erscheint leicht erreichbar zu sein. Und dann gibt es ja auch noch solche
Sachen wie "Deutschland sucht den Superstar": Da wird den Menschen
vorgemacht, dass man in nur drei Monaten zum absoluten Helden
werden und wie Pavarotti singen kann. Das stimmt zwar alles nicht, aber
viele Menschen glauben das. In solchen Zeiten ist es wichtig zu wissen,
dass man an dem, was wirklich gut und wertvoll ist, jeden Tag arbeiten
muss.
Mende:
Das muss man sich erarbeiten.
Leleux:
Ja, das muss man sich erarbeiten, das kommt nicht von alleine. Das gilt
aber nicht nur für die Musik.
Mende:
François Leleux, vielen herzlichen Dank fürs Kommen und für diese
schöne Sendung. Tun Sie uns doch bitte den Gefallen und spielen Sie
uns noch etwas vor. Dieses Mal etwas aus dem Oboenkonzert von
Johann Nepomuk Hummel.
Leleux:
Das mache ich gerne.
Mende:
Vielen Dank fürs Kommen und alle Gute für Sie.
Leleux:
(spielt auf der Oboe)
© Bayerischer Rundfunk
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