Es ist alles schlimmer geworden - Alexander von Humboldt Institut

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7.1.2016
Tageszeitung junge Welt
»Es ist alles schlimmer
geworden«
Gespräch mit dem Politikwissenschaftler
Colin Crouch. Über die fortgesetzte Erosion
der Demokratie, simulierte
Bürgerbeteiligung und die Notwendigkeit
eines öffentlich-rechtlichen Internets
Thomas Wagner
Wenn heute von der schlechten Verfassung liberaler Demokratien die Rede ist, fällt
immer wieder ein Schlagwort: Postdemokratie. Sie haben den Begriff vor mehr als
einem Jahrzehnt geprägt. Was verstehen Sie darunter?
Wir haben freie Wahlen, Diskussionen und alle Institutionen, die zu einer liberalen
Demokratie gehören. Aber in den Ländern, in denen sie am weitesten fortgeschritten ist, in
Westeuropa und den USA, scheint sie müde geworden zu sein. Die sozialen Schichten, die
aus der postindustriellen Gesellschaft hervorgegangen sind, haben eine sehr schwache
politische Identität. Die Demokratie ist aus furchtbaren Konflikten der Vergangenheit
hervorgegangen: sozialen, politischen, religiösen. Die einfachen Menschen wurden
dadurch politisiert.
Sie haben sich in Parteien und Gewerkschaften organisiert.
Und in Kirchen. Heute ist es für die Menschen, die in den neuen Sektoren der Wirtschaft
arbeiten, nicht leicht, eine politische Identität auszubilden. In der modernen
Dienstleistungsgesellschaft fällt es ihnen schwerer, sich mit dieser Geschichte
gesellschaftlicher Konflikte zu verbinden und sich in eine gemeinsame Tradition zu stellen.
Hinzu kommt, dass sich die wichtigsten gesellschaftlichen Entscheidungen auf die
transnationale Ebene verlagert haben. Sie finden auf globalen Märkten statt, werden dort
von Konzernen und internationalen Institutionen getroffen. Die Demokratie hingegen
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bleibt an die nationale Ebene gebunden. Außerdem ist die ökonomische Entwicklung mit
wachsender Ungleichheit verknüpft.
Was hat das für Folgen?
Eine kleine Gruppe von Superreichen kann sich politischen Einfluss kaufen. Unter diesen
Bedingungen ist es sehr schwer, gegen die Ideologie des Neoliberalismus zu kämpfen.
Denn auf der einen Seite stehen diese wenigen ökonomisch Mächtigen und auf der
anderen die vielen Menschen, die an politischem Einfluss verloren haben. Zum Ausdruck
kommt dieses politische Ungleichgewicht im Freihandelsabkommen TTIP zwischen der
Europäischen Union und den USA. Die Verhandlungen finden jenseits der Demokratie
statt. Insbesondere die geplanten internationalen Schiedsgerichte zum Schutz von
Investoren sind mit der Demokratie nicht zu vereinbaren.
In Deutschland ist Ihr Buch 2008 veröffentlicht worden. Auf Italienisch war es bereits
einige Jahre zuvor erschienen, oder?
Es erschien 2003 auf Italienisch und 2004 auf Englisch. Ich habe zehn Jahre lang in Italien
gearbeitet. Italienisch ist dadurch meine zweite Sprache geworden. 2008 publizierte ich
mein Buch auch auf Deutsch, ein bisschen spät. Deutsch habe ich nach Französisch in den
1950er Jahren in der Schule gelernt und bei meinen zahlreichen Besuchen in Deutschland
immer wieder auffrischen können. Ich habe viele Kontakte dorthin. Ich habe auch Russisch
in der Schule gelernt, es aber später nicht gesprochen. »Postdemokratie« erschien
schließlich auch noch auf Chinesisch, Russisch, Koreanisch, Japanisch, Bulgarisch,
Spanisch, Hebräisch und Slowenisch.
Welche Rolle hat die Sozialdemokratie bei der Schwächung der Demokratie gespielt?
War der unter Premier Anthony Blair, 1997 bis 2007, in Großbritannien und
Bundeskanzler Gerhard Schröder, 1998 bis 2005, in Deutschland eingeleitete
Kurswechsel, die Orientierung auf die sogenannte neue Mitte, eine Folge oder ein
Motor der postdemokratischen Entwicklung?
Beides. Diese Politik war der Versuch, sozialdemokratische Politik im Kontext der
Postdemokratie zu betreiben. Dabei haben sie sich meiner Ansicht nach zu sehr an die
neoliberale Ideologie angepasst. Sie waren der Auffassung, sich nicht gegen die Macht der
internationalen Konzerne durchsetzen zu können. Sie haben versucht, eine soziale Politik
im Schatten dieser ökonomischen Macht zu verwirklichen. Das blieb aber unzureichend,
weil es am grundsätzlichen Problem des wachsenden Ungleichgewichts zwischen der
zunehmenden Macht der Konzerne und den anderen Teilen der Gesellschaft nichts
geändert hat.
Hätte es die Möglichkeit gegeben, einen anderen politischen Kurs einzuschlagen?
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Es wäre sehr schwer gewesen. Denn die nationalstaatlich verfasste Demokratie ist nicht
ausreichend in der Lage, die international agierende Wirtschaft zu erreichen. Eine soziale
Bewegung, die dagegen etwas ausrichten will, muss sich international organisieren. Das
sehe ich aber nicht. Die einzige politische Identität, die derzeit immer kräftiger wird, ist die
nationale Identität. Ein Teil der Labour Party versammelt sich unter dem Begriff »Blue
Labour«. Diese Leute hoffen, auf dem Weg einer nationalstaatlich orientierten Politik eine
Strategie für die Stärkung des Gemeinwohls zu finden. Sie haben insofern recht, als die
Nation eine öffentliche Instanz ist, an der sich soziale und populäre Politik ausrichten
können. Ich verstehe die Absicht dieses »nationalen« Sozialismus und finde das Anliegen
sympathisch. Ich befürchte jedoch, dass eine solche Politik sich noch weiter von den
wichtigen ökonomischen Schalthebeln entfernen könnte, als es die heute vorherrschende
schon ist. Notwendig wäre eine europäische politische Identität. Aber man muss davon
ausgehen, dass diese auch in Zukunft nur schwach entwickelt sein wird.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Rolle, die Jeremy Corbyn spielt? Der
Politiker hat den zurückgetretenen Ed Miliband, für viele überraschend, als
Vorsitzenden der Labour Party abgelöst und gilt als links. Kann er eine
fortschrittlichere Politik durchsetzen?
Auf der einen Seite haben wir es endlich mit einem Politiker zu tun, der über die wirklichen
Probleme der Menschen spricht: die wachsende Konzentration des Reichtums und der
politischen Macht bei einigen wenigen. Andererseits verstehen er und seine Gruppe
bislang noch nicht, einen größeren Teil der britischen Gesellschaft zu erreichen.
Sie befürchten, dass Corbyn und seine Leute ihre an sich guten Ideen nicht populär
genug machen können?
Es handelt sich um eine kleine Gruppe, die ihr ganzes politisches Leben lang in der
Opposition war und sich nie die Frage stellen musste, wie sie ein größeres Publikum
erreichen kann. Aber vielleicht werden sie das noch lernen. Sie müssen zum Beispiel jetzt
lernen, Prioritäten zu setzen. Etwa, ob es wichtiger ist, sich mit der Königin zu treffen oder
eine Sozialpolitik zu entwickeln, für die sie das Verständnis der Mehrheit in der
Bevölkerung erreichen. Sie müssen die Frage klären, was wichtiger ist: die Sozialpolitik
oder die Verteidigungspolitik.
Wenn Sie auf die Zeit seit dem Erscheinen Ihres Buchs »Postdemokratie«
zurückblicken, was hat sich verändert?
Es ist alles schlimmer geworden. Zum Beispiel wurden die Kosten der Finanzkrise nicht
von den Banken, sondern von den ganz normalen Menschen getragen. Auch in der
Griechenland-Krise geht es nicht um Hilfe für die einfachen Menschen, sondern um die
Rettung der Banken. Nach wie vor ist die Politik in neoliberaler Ideologie befangen und an
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den Interessen der Konzerne ausgerichtet.
Wer könnte daran etwas ändern?
Im Rahmen neoliberaler Hegemonie gibt es immer wieder Beispiele, wie sich auf
niedrigem Level soziale oder sozialdemokratische Politik realisieren lässt. Das sind aber
nur Ausnahmen. Das Problem ist, wie wir einen Richtungswechsel in der großen Politik
erreichen können. Der Markt braucht mehr Regulierung. Die Mehrheit der Menschen denkt
nicht neoliberal. Die große Demonstration gegen TTIP am 10. Oktober in Berlin hat das
gezeigt. Obwohl es bei dem geplanten Freihandelsabkommen um zum Teil sehr
technische Fragen geht, haben viele Menschen das Problem verstanden und sind auf die
Straße gegangen. Hoffentlich wird der von ihnen erzeugte Druck Einfluss auf die Politik der
sozialdemokratischen Parteien haben. Nur wenn sich diese Parteien sicher sind, dass sie
dafür einen großen Teil der Öffentlichkeit hinter sich haben, werden sie den Weg einer
sozialeren Politik einschlagen.
Sie wollen gewählt werden.
Ja.
Andererseits ziehen Politiker aller großen Parteien, einschließlich der
Sozialdemokraten, in Deutschland derzeit an einem Strang, wenn es darum geht,
aufkeimenden sozialen Bewegungen durch die Einbindung ihrer Akteure in
Bürgerbeteiligungsverfahren den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im
deutschsprachigen Raum hat sich für die Instrumentalisierung von scheinbar
basisdemokratischer Partizipation durch Investoren sowie privater und öffentlicher
Projektträger zur Durchsetzung von Verwertungsstrategien der Begriff der
»Mitmachfalle« durchgesetzt. Es geht darum, Proteste einzudämmen, bevor sie ein
öffentlich wahrnehmbares Stadium erreichen und in den Augen der Herrschenden
aus dem Ruder laufen wie im Falle der Bewegung gegen das Bahnprojekt »Stuttgart
21«. Ich sehe das als eine Erscheinungsform der von Ihnen kritisierten
Postdemokratie. Würden Sie diese Beobachtung teilen?
Ich war Teil der Bewegung der 68er. Für uns war das Thema der Mitbestimmung an den
Universitäten sehr wichtig. Heute, im Rahmen der neoliberalen Ideologie, stellt sich das so
dar, dass die Studenten als Kunden betrachtet werden und man auf dieser Grundlage mit
ihnen diskutiert.
In Deutschland dürfen sie die Arbeit ihrer Professoren bewerten, nach dem Motto:
gute Vorlesung, schlechte Vorlesung. Das hat mit der von den 68ern angestrebten
Partizipation nicht viel zu tun, oder?
Das ist Ausdruck der um sich greifenden Kundenorientierung. Zugleich wird es immer
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schwieriger zu protestieren, weil der öffentliche Raum zunehmend überwacht wird.
Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht die zunehmende Parteienverdrossenheit
der Bürger dadurch zu kompensieren, dass sie wie eine mittelalterliche Königin über
das Land zieht und in verschiedenen Städten mit ausgewählten Bürgern einen Dialog
über Deutschlands Zukunft inszeniert. Das erinnert an sehr alte Formen der
Fürstenberatung.
Das ist gut. (lacht)
Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen der abhängig Beschäftigten
und sogenannten kleinen Leute werden dabei umgangen. Das ist eine neue Form des
Bonapartismus.
Ja, genau. In Großbritannien gibt während des Wahlkampfs Veranstaltungen der großen
Parteien, in deren Verlauf sich die führenden Repräsentanten als besonders volksnah
inszenieren. Auf dem Fernsehbildschirm wirkt das beeindruckend. Anwesend sind aber
bloß Parteileute, die ein Publikum nur spielen. Es gibt keine echten Fragen, alles ist gut
vorbereitet, um die entsprechende Wirkung zu erzeugen.
In Ihrem aktuellen Buch »Die bezifferte Welt« beschreiben Sie die negativen Folgen
des Neoliberalismus auf die Wissensgesellschaft. Sie sagen, er drohe die wichtigste
Quelle des kritischen Wissens, die Universitäten, versiegen zu lassen. Wie geschieht
das?
Beispielsweise erlaubt die Pharmaindustrie, die viel Geld in die universitäre Forschung
steckt, nur die Veröffentlichung von Artikeln, die in ihren Augen für die Verbreitung ihrer
eigenen Produkte günstig sind. Die Universitäten sind in immer größerem Maße vom Geld
der großen Konzerne abhängig.
In Deutschland finanziert der US-Konzern Google das Berliner Humboldt-Institut für
Internet und Gesellschaft. Die Berliner Hochschulen kooperieren, und die Berliner
Sozialdemokratie applaudiert auch noch dazu.
Das ist ein weiteres Beispiel für den schlechten Einfluss, den Konzerne im Zeichen des
Neoliberalismus auf das Bildungswesen ausüben.
Heute sind die weltweit am meisten genutzten Kommunikationsdienstleistungen in
der Hand von privaten Monopolunternehmen wie Google, Facebook, Youtube und Co.
Sie plädieren in Ihrem neuen Buch für eine Stärkung öffentlich-rechtlicher
Institutionen. Müsste nicht zumindest die Basisversorgung mit solchen stark
nachgefragten Kommunikationsdienstleistungen von der privaten in die öffentliche
Hand überführt werden, um die enorme Macht dieser Konzerne einzudämmen?
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Das ist ein sehr guter Vorschlag. Es gibt allerdings Einwände gegen öffentlich-rechtliche
Medien, die begründet sind. Öffentlich-rechtliche Rundfunksender stehen beispielsweise
häufig unter dem Druck, dem Willen staatlicher Instanzen zu entsprechen. Deshalb ist es
wichtig, dass der Staat bei der Einrichtung von Institutionen, die von seiner Finanzierung
abhängig sind, darauf achtet, dass diese gegen staatliche Eingriffe geschützt sind. Eine
gewisse Unabhängigkeit ist notwendig, damit Universitäten oder Medien relevantes
Wissen produzieren können. Wenn nun private Konzerne diese Medien kontrollieren, um
Gewinn mit ihnen zu machen, ist das eine Gefahr für die Demokratie. Ein öffentlichrechtliches Internet wäre daher sehr wichtig.
Eine Kampagne für ein öffentlich-rechtliches Internet böte für linke Kräfte die
Möglichkeit, argumentativ in die Offensive zu kommen. Man könnte könnte
beispielsweise den Slogan verwenden: »Demokratie heißt: Keine Werbegeschäfte mit
meinen Daten.«
Genau. Das ist ein wichtiges Feld der politischen Auseinandersetzung.
Das Gespräch führte Thomas Wagner
Colin Crouch, geboren 1944, ist britischer Politikwissenschaftler. Er lehrte bis zu seiner
Emeritierung an der Warwick Business School. Sein 2008 in deutscher Sprache
erschienenes Buch »Postdemokratie« wird schon heute zu den Klassikern
sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen gezählt. 2011 erschien »Das befremdliche
Überleben des Neoliberalismus«.
Aktuelle Veröffentlichung:
Colin Crouch: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht.
Suhrkamp Verlag: Berlin 2015, 250 Seiten, 21,95 Euro
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