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Um Volkes Willen
[…] Die Demokratie mag den Menschen. Mit ihrem Glauben an die Vernunft ist sie ein
Vertrauensbeweis. Sie schenkt uns die Freiheit zur Selbstbestimmung. Nach Irrwegen und
Rückschlägen hat sich vor allem in Europa die repräsentative Demokratie durchgesetzt.
Abgeordnete vertreten die Bevölkerung in Parlamenten, welche die zentrale Rolle im
politischen Entscheidungsprozess einnehmen. So ist jedenfalls die löbliche Theorie. Dem
Praxistest hält sie jedoch kaum mehr stand.
Auch wenn viele Menschen die Demokratie weiterhin schätzen, vertrauen sie ihren
Repräsentanten immer weniger. Wahrscheinlich hatte der Bundestag noch nie die Macht,
die ihm ursprünglich zubestimmt wurde, der Einflussverlust des Parlaments jedoch war
noch nie so offensichtlich wie in diesen Monaten.
Die "Tatkraft" der Regierung hat einen üblen Beigeschmack. […] Zu offensichtlich werden
wichtige Entscheidungen im Eilverfahren durchlaufen und dabei nur noch Rücksicht auf
wichtige Lobbygruppen genommen. Wer oder was lenkt eigentlich mittlerweile unsere
Demokratie? Welchen Einfluss haben die Abgeordneten überhaupt noch auf
Entscheidungen?
Dazu sollte man sich die letzten großen Entscheidungen genauer ansehen. Zehn Jahre
sorgte der rot-grüne Atomkonsens dafür, dass der zuvor lange währende Konflikt um die
Nutzung der Atomenergie befriedet wurde. Die Atomkraftwerksbetreiber blieben seit 2000
von großen Protesten weitgehend verschont. Die […] beschlossene Verlängerung der
Laufzeiten stellt einen fatalen Schritt zurück in die Vergangenheit dar. Nun hat zwar jede
Regierung und Parlamentsmehrheit das Recht, auch weitreichende Beschlüsse zu treffen.
Wie die Entscheidung zustande kam, ist aber für ein Parlament, das demokratische
Grundprinzipien achtet, beschämend.
Es begann damit, dass sich der neue Umweltminister Norbert Röttgen den obersten
Atomlobbyisten Gerald Hennenhöfer kurz nach der Bundestagswahl im Dezember 2009 in
sein Ministerium holte und ausgerechnet zum Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit
machte. Hennenhöfer war fortan dafür verantwortlich, die Laufzeitverlängerung mit den
Betreibern - also mit seinen ehemaligen Kollegen - auszuhandeln. So kam es, dass das
Energiewirtschaftliche Institut an der Kölner Universität beauftragt wurde, ein Gutachten zu
erstellen, welches dem Atomdeal eine "wissenschaftliche" Grundlage schaffen sollte.
Pikant ist dabei, dass dieses Institut seine Existenz mit Millionenzahlungen zweier
Atomkonzerne, Eon und RWE, sichert. Weder Hennenhöfer noch das Institut sahen darin
ein Problem und wiesen Zweifel an ihrer Integrität und Neutralität weit von sich. Es ging
noch weiter: Für die Ausarbeitung der Vereinbarung mit den Betreibern ließ sich die
Bundesregierung von der Anwaltskanzlei Oppenhoff und Partner unter der Führung des
Anwalts Lars Böttcher beraten, zu deren Großkunden ausgerechnet RWE gehört.
[Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft]
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Im Prinzip hat die Atomlobby das Gesetz also mit sich selbst ausgehandelt und dann dem
Bundestag auf den Tisch gelegt. Natürlich mit einigen wenigen Zugeständnissen, die dem
Ganzen ein Feigenblatt anheften sollen. Nun hätte die Stunde des Parlaments schlagen
können. Die Fraktionen hätten das Gesetz leicht aufhalten oder zumindest die
Leidtragenden wie die Stadtwerke und die anderen kleinen sowie mittleren
Energieversorger oder aber auch die Verbraucherorganisationen in die Entscheidung
einbinden können. Die angebliche Konsenskanzlerin wollte jedoch das umstrittene Gesetz,
egal wie weitreichend es ist, aus Angst vor zu viel Widerstand schnell vom Tisch haben.
Abnicken statt abwägen. Bis auf wenige Ausnahmen - zu denen immerhin
Bundestagspräsident Norbert Lammert gehört – gehorchten die Regierungsabgeordneten.
Schlimmer noch, sie halfen mit, dass die Vorlagen durch den Bundestag gepeitscht und
die Beratungen im Parlament zur Farce wurden. Im Umweltausschuss wurde nicht einmal
die Geschäftsordnung des Bundestages eingehalten. […] Damit die Laufzeitverlängerung
möglichst schnell in Kraft treten kann, wurden ausgerechnet für so eine weitreichende
Gesetzesänderung nur drei Sitzungswochen anberaumt. Die Unverhältnismäßigkeit wird
klar, wenn man bedenkt, dass die Regierung sich vorher mehrere Monate Zeit genommen
hat, um mit der Atomlobby die Laufzeitverlängerungen auszuhandeln.
In acht Jahren als Bundestagsabgeordneter habe ich immer wieder mitbekommen, wie
alle Fraktionen Lobbygruppen bedient haben. Ich halte mich gegenüber meiner eigenen
Partei, der SPD, mit Kritik nicht zurück, doch die Vorgänge beim Atomdeal schlagen
sämtliche Beispiele, die ich bisher erlebt habe. Wurde bei der Bankenrettung oder dem
Euro-Rettungsschirm noch die drängende Zeit als Erklärung für eine schnelle
Entscheidung geltend gemacht, sind die Beschlüsse des Herbstes ohne zeitliche Not
durchgepeitscht worden.
Wie weit entfernen wir uns mit solch einem Gebaren von der Demokratie? Einige
Politikwissenschaftler wie der Brite Colin Crouch warnen inzwischen vor der
"Postdemokratie". Demnach ist die parlamentarische Demokratie mit freien, periodisch
stattfindenden Wahlen und Parteienkonkurrenz formal völlig intakt. Regierungen können
abgewählt werden, es gibt keine Pressezensur, und es herrscht Gewaltenteilung. Doch
hinter dieser funktionierenden Fassade besteht in der Postdemokratie eine Machtstruktur,
die sich vom eigentlichen demokratischen System entfernt hat. Eine Elite beherrscht und
kontrolliert die politischen Entscheidungen, Wahlkämpfe sind ein von Medien- und
Imageberatern kontrolliertes, meist personalisiertes Spektakel. Die Regierungen handeln
Gesetze mit Lobbyisten und nicht mit den Parlamenten aus. Politische Entscheidungen
werden hinter verschlossenen Türen und dort von wenigen, meist nicht demokratisch
legitimierten Personen getroffen. Die Demokratie erleidet einen Substanzverlust und die
gesellschaftlich Aktiven werden zunehmend mit ihrer Ohnmacht konfrontiert, die sie zwar
spüren, aber deren Ursache viele nicht genau identifizieren können. Meine persönlichen
[Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft]
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Erfahrungen im Bundestag, nicht nur mit dem Atomdeal, zeigen mir, dass wir uns der
Postdemokratie gefährlich annähern und endlich umsteuern müssen. […]
Marco Bülow, Um Volkes Willen, in: Der Freitag, 31.1.2011
(http://www.freitag.de/positionen/1104-um-volkes-willen, abgerufen am 9.8.2011)
[Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft]
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Der Text von Marco Bülow geht im Original folgendermaßen weiter. Diese Art der
Lösungssuche bietet sich im Unterrichtseinsatz jedoch eher als Aufgabenstellung für die
Schüler an.
[…] Was tun die Menschen, die ihren Volksvertretern nicht mehr vertrauen? Als
Ausweichmöglichkeit bietet sich an, sich von der Politik - manchmal gleich ganz von der
Demokratie - abzuwenden oder, wie in Stuttgart oder Gorleben, auf die Straße zu gehen
und die Politiker herauszufordern. Auch wenn mir der zweite Ansatz deutlich
sympathischer ist: Eine repräsentative Demokratie wird zur Farce, wenn deren
Repräsentanten kontinuierlich ihren Einfluss aufgeben.
Schluss mit der Schüchternheit
Als Abgeordneter muss ich mich dafür einsetzen, den Machtverlust zu stoppen. Es
existieren viele Vorschläge, den Einfluss von Lobbyisten zu begrenzen und die Fraktionen
gegenüber der Regierung zu stärken, Gesetze durch legitimierte Fachpolitiker statt durch
Expertengruppen und Beraterunternehmen vorbereiten zu lassen. Journalisten, einige
Politiker und Organisationen wie Lobbycontrol und Transparency International haben dazu
viel Vorarbeit geleistet.
Politiker aller Parteien müssen die Augen öffnen und sich die Wahrheit eingestehen. Nur
dann kann die längst fällige Diskussion über ein modernes demokratisches System, dem
die Menschen wieder vertrauen, beginnen. Dafür ist es notwendig, dass die Medien,
besser die gesamte Öffentlichkeit, Druck auf die Volksvertreter ausüben. Wer in Stuttgart
auf die Straße geht, zeigt, dass er sich nicht mehr alles bieten lassen will. Der nächste
Schritt wäre es, aufzuzeigen, wie sich unsere Demokratie vorstellen lässt: Auf jeden Fall
transparenter, sicher mit mehr direkter Mitbestimmung, unabdingbar mit
selbstbewussteren Abgeordneten, die bei aller notwendigen Disziplin in erster Linie ihrem
Gewissen folgen. Ein Zurück zu alten Zeiten wird es nicht geben, aber wir könnten die
jetzige Entwicklung stoppen und etwas Neues aufbauen.
Marco Bülow, Um Volkes Willen, in: Der Freitag, 31.1.2011
(http://www.freitag.de/positionen/1104-um-volkes-willen, abgerufen am 9.8.2011)
Marco Bülow ist seit 2002 Mitglied des Bundestags und seit 2009 stellvertretender
Energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Von ihm erschien 2010 im Econ Verlag
Berlin das Buch Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter.
[Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft]
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