ALLTAG UND HERRSCHAFT Dom von Florenz 40 SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 Bauen wie die Römer – das war der Ausgangspunkt einer neuen Architektur, die sich an den Proportionen des Körpers orientierte. Des Menschen Maß Von SUSANNE BEYER n der Klosterbibliothek von St. Gallen stieß der Florentiner Gelehrte Gian Francesco Poggio Bracciolini 1416 auf ein geheimnisvolles Manuskript: Ein Römer namens Vitruvius Pollio beschrieb in dem Text aus dem 1. Jahrhundert vor Christus die ästhetischen Gesetzmäßigkeiten römischer Architektur. Bracciolini sorgte dafür, dass die Handschrift einem größeren Kreis bekannt wurde, sie sollte bald berühmt werden – als Grundlagenwerk für eine neue, an der Antike orientierten Architekturtheorie. Die Gelehrten des frühen 15. Jahrhunderts setzten sich leidenschaftlich gern mit der Antike auseinander und lösten mit ihrer Begeisterung das aus, was wir heute „Renaissance“ nennen: die Wiedergeburt, die Wiederbelebung der Antike. Die Römer, so entnahmen die Gelehrten dem wiederaufgefundenen Text, hatten sich beim Bauen am Maß des Menschen orientiert: die Proportionen einer Säule sollten den Proportionen des menschlichen Körpers entsprechen. Wenn ein gut gebauter Mann seine Arme und Beine ausstrecke, so hieß es im Manuskript, berührten die Enden der Gliedmaßen die Begrenzungslinien eines Quadrats oder eines Kreises – Quadrat und Kreis, so die Empfehlung, sollten die Grundmuster der Architektur bilden. FUNKYSTOCK / AGE FOTOSTOCK / AVENUE IMAGES I SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 41 ALLTAG UND HERRSCHAFT 42 Diese Ästhetik wollten die Italiener der frühen Neuzeit überwinden: Gotische Spitzbögen etwa mit ihrem organischen Verlauf sollten durch klare geometrische Formen ersetzt werden. Vor allem junge florentinische Künstler versuchten den Neuanfang in der Architektur. Ihr Anführer war der Architekt Filippo Brunelleschi, der 1377 als Sohn eines Notars geboren worden war. Er war gelernter Goldschmied, aber nun mit dem Bau der Kathedrale von Florenz beschäftigt. Die Florentiner wollten darauf eine mächtige Kuppel setzen, die zur größten jemals aus Stein gemauerten Kuppel der Welt werden sollte. Das Problem aber war, dass kein Baumeister wusste, wie das zu machen sei. Der Abstand zwischen den Pfeilern, über 40 Meter, erschien allen zu groß. Brunelleschi hatte eine Idee: Wenn das Baugerüst nicht wie üblich auf dem Boden stehe, sondern als bewegliches Klettergerüst in der noch zu bauenden Kuppel angebracht würde, könnten die Bauarbeiter besser in den Schrägen und Rundungen agieren. Niemand in der Baukommission glaubte, dass das funktionieren könnte, doch Brunelleschi beharrte darauf. Ein paar Mal musste er aus Sitzungen regel- SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 ANDREW AITCHISON / IN PICTURES / CORBIS Besonders die Italiener waren für alle Anregungen aus der Antike empfänglich. So zu bauen, wie die Römer gebaut hatten, damit verbanden sie auch eine politische Hoffnung: wieder so mächtig zu werden, wie die Römer es gewesen waren. Der Niedergang Roms, so lautete eine weitverbreitete Ansicht, sei die Schuld der Germanen gewesen, der Goten und Vandalen, die Architektur dieser angeblich so unrühmlichen Zwischenzeit zwischen Antike und Neuzeit bezeichneten die Italiener nun als „gotisch“ – was durchaus als Schimpfwort gemeint war. Konstruktionszeichnung des Architekten Filippo Brunelleschi Innenansicht der Kuppel im Dom von Florenz SCALA / BPK recht herausgetragen werden, weil er nicht von allein gehen wollte, bevor er nicht alle Kommissionsmitglieder von seinen Plänen überzeugt hatte. Am 7. August 1420 war es schließlich so weit. Brunelleschi hatte den Auftrag doch bekommen und konnte beginnen. Er entwarf ein Skelett aus 24 Rippen für die Kuppel, auf dem er zwei Verschalungen aus Ziegelsteinen, eine innere und eine äußere, anbringen ließ. 16 Jahre dauerten die Bauarbeiten, und bis zum Schluss blieben alle, die daran beteiligt waren, skeptisch, ob das gigantische Werk je gelingen würde. Aber als die Kuppel schließlich fertig und schön geworden war, löste sie einen wahren Boom im Kuppelbau aus. Italiens Kirchen bekamen Kuppeln, im späten 16. Jahrhundert würde der berühmte Re- Der Bau der gigantischen Kuppel dauerte 18 Jahre, ein Meisterwerk. SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 naissance-Baumeister Andrea Palladio dann auf einem Profanbau eine Kuppel anbringen, auf der Villa Rotonda am Stadtrand von Vicenza. Bald hieß es, die Kuppel auf dem florentinischen Dom sei das erste Bauwerk der Renaissance gewesen – dem antiken Pantheon in Rom nachempfunden. Inzwischen ist aber unter Kunsthistorikern umstritten, ob die Kuppel wirklich als Bauwerk der Renaissance oder nicht doch eher der Gotik einzuschätzen ist: Die Kuppel sei nämlich nach dem gotischen Prinzip der tragenden Rippen errichtet. Der Kunsthistoriker Bertrand Jestaz urteilt: „Die Florentiner Kuppel 43 ALLTAG UND HERRSCHAFT Mithilfe eines Eis demonstriert Brunelleschi seine Konstruktionsidee Gemälde von Giuseppe Fattori neue Architektur schaffen, in der die Elemente der klassischen Baukunst frei in neuer Schönheit und Harmonie verwendet werden konnten“. Das Erstaunliche an Brunelleschis Leistung sei, dieses Programm restlos zu verwirklichen: „Ein halbes Jahrtausend lang sind die Architekten Europas und Amerikas seinen Pfaden gefolgt. Man kann in keine Stadt und kein Dorf gehen, ohne Bauten zu finden, an denen antike Formen, Säulen, Giebel oder Friese verwendet werden.“ Brunelleschi interessierte sich auch für die Fortschritte in den Wissenschaften, der Mathematik. Aufgrund mathematischer Berechnungen erfand er die Zentralperspektive, mit der Objekte wie Brunelleschi soll persönlich nach ein Haus in ihrer räumlichen Tiefe Rom gereist sein, um die Ruinen alt- zeichnerisch dargestellt werden konnrömischer Tempel und Paläste zu studie- ten. Brunelleschi war nicht der einzige ren; belegt sind diese Reisen allerdings nicht. Und an seinen Gebäuden wird große Erfinder seiner Zeit. Überall proauch deutlich, dass er antike Vorbilder bierten Künstler Neues aus, und das war keineswegs kopieren wollte – es wäre die eigentliche Sensation, dass sich ihm auch kaum möglich gewesen, denn Künstler dazu überhaupt aufgerufen die Bauaufgaben zu seiner Zeit waren fühlten. Jahrhundertelang hatten sich die ganz andere. Die frühesten Bauwerke der Renaissance waren vor allem Kir- Künstler und Gelehrten Europas in eine chen, ein Bautypus, den es bei den Rö- ähnliche Richtung entwickelt, es ging in der Kunst und in der Geisteswelt nicht mern noch gar nicht gegeben hatte. Brunelleschi wollte, so urteilt der um Neuerung, sondern um die möglichst Kunsthistoriker Ernst Gombrich, „eine kunstvolle Repetition oder kluge Aus- ist ein ins Gigantische gesteigertes Spitzbogengewölbe, das als Kuppel getarnt ist. Nur in den untergeordneten Bauelementen erscheint der Stil Brunelleschis – und damit Renaissance-Kunst.“ Doch während der Planung und Ausführung der Kuppel begann Brunelleschi schon mit dem Entwurf anderer Gebäude in Florenz, die eindeutig als Renaissance-Gebäude gelten: Der Kirche San Lorenzo, der erste Zentralbau der Neuzeit – ein Gebäude mit gleich langen Achsen. Dann das Findel-Haus mit seiner eleganten Kolonnade. Und die Pazzi-Kapelle mit einer Halbkugel als Kuppel und einer würfelförmigen Sakristei. Auch Kaufleute wollten in Palästen wohnen, prächtige Villen entstanden. 44 Florenz, Venedig oder Neapel konkurrierten miteinander, jede Stadt wollte die besten Künstler haben. Die Künstler schlossen sich zu Zünften zusammen, damit waren sie gebunden an ihre Zunft, an die Stadt, in der sie lebten. Aber sie hatten auch viel davon: Die Zünfte investierten in Kunst, stifteten einen großen Teil ihrer Einnahmen für Kirchenund Repräsentationsbauten. Die wohlhabenden Kaufleute wiederum vergaben Aufträge zum Bau prächtiger Privathäuser: überall Paläste, in denen keine Könige, keine Adeligen wohnten, sondern vermögende Bürger wie die Medici in Florenz, die Farnese in Rom, die Sforza in Mailand. So entstand die Bauform der Villa. Viele Villen hatten auskragende Dachgesimse, am Erdgeschoss führten steinerne Sitzbänke entlang, auf der Bittsteller warten konnten, bis der Hausherr sie empfing. Über dem deutlich definierten Eingangsportal befand sich oft ein Balkon. Die Florentiner Kaufmannsfamilie Rucellai ließ sich vom Architekten Leone Battista Alberti ein dreistöckiges Haus bauen, das unzählige Male nachgeahmt worden ist. Die Fassade des Palazzo Ruccellai war reich mit Pilastern und vertikalen Wandverstärkungen, sogenannten Lisenen, überzogen. Sie folgten einem streng regelmäßigen Muster, auch wenn sie nur eine dekorative, keine tragende Funktion hatten. Symmetrie war ein Grundprinzip der Renaissance-Architektur. Es ging nicht einfach nur darum, einem Gebäude möglichst viel Dekor anzuhängen – der Schmuck sollte einen Raum gliedern, seine Tiefe und Höhe deutlich machen. Die Säulen, Pilaster, Lisenen, die Bögen und Nischen wurden nach festen Regeln angebracht, so dass sich immer zweierlei vermittelte: Pracht und Strenge. Die Grundrisse von Renaissance-Ge- SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 BRIDGEMANART.COM legung theologischer Inhalte. Die Theologie war die höchste Wissenschaft, die Gelehrten des Mittelalters hatten sich alle auf Latein verständigt, und es war kein großer Unterschied für sie, ob sie nun in Padua unterrichtet haben oder in Paris. Gegen Ende des Mittelalters aber waren die Bürger und Kaufleute selbstbewusst geworden und mit ihnen die Städte, in denen sie lebten. Wichtig wurde plötzlich die Betonung von Unterschieden – zwischen Städten, Individuen, Denkschulen. PHOTOAISA / INTERFOTO Kapelle der Florentiner Adelsfamilie Pazzi SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 45 ALLTAG UND HERRSCHAFT SCALA / BPK Palazzo Rucellai – Teilansicht der Fassade 46 SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 Blick über den Arno auf die Uffizien – ursprünglich ab 1559 für Ämter erbaut, später dann Museum. BÜRGERVILLEN FOTOS: SCALA / ART RESOURCE, NYI STEINERNE PRACHT Zu den imposantesten und besterhaltenen Loggien der Renaissance in Florenz gehört die der Familie Rucellai an der Via della Vigna Nuova. Mit dem Palazzo Rucellai schräg gegenüber und dessen von Leon Battista Alberti entworfenen Fassade dominiert sie den Platz. Eine solche Loggia war etwa bei Hochzeitsfeiern „Schauplatz großartiger Prachtentfaltung“, so der Kunsthistoriker Richard Turner. Der reiche Bankier Giovanni Rucellai dehnte durch systematischen Grundstückserwerb in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Familienbesitz immer weiter aus; unregelmäßige Häuserfronten ließ er durch elegante, vorgeblendete Fassaden kaschieren, die ein Haus zum Palazzo machten. Auch auf der Marmorfassade der Dominikanerkirche Santa Maria Novella, für die er zahlte, prangt in großen Buchstaben sein Name. Wer über höheren Status und Geld verfügte, trug es öffentlich und augenfällig zur Schau. Während im 14. Jahrhundert große Kunstwerke und wichtige Bauten meist noch von der Kommune oder der Kirche in Auftrag gegeben wurden, waren es im 15. Jahrhundert zunehmend Privatleute, die in Kunst investierten. Catherine Atkinson SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2013 bäuden waren meist rechtwinklig. Grundriss und Fassade sollten sich bedingen, in logischer Beziehung zueinanderstehen. Schönste die Grundprinzipien beider Epochen. Der Ursprungsarchitekt war Bramante, seinen Entwurf verändert und große Teile des Doms ausgeführt hat Michelangelo, vollendet wurde das imposante Bauwerk unter anderem durch Giacomo Della Porta, Gian Lorenzo Bernini und Francesco Borromini. Das markanteste Merkmal dieses 20 000 Menschen fassenden Sakralbaus ist seine Kuppel – aus zwei verbundenen Schalen mit Rippen unterteilt. Das Vorbild: Brunelleschis Domkuppel von Florenz. n Jede Fassade sollte einen klaren Mittelpunkt haben, der dem Auge als Anhalts- und Ausgangspunkt diente. Türen waren oft mit quadratischen Innenfeldern verziert, oben auf dem Türrahmen kam regelmäßig ein dreieckiger Ziergiebel. Auch oberhalb von Fenstern gab es dreieckige oder halbrunde Ornamente. Die Renaissance setzte das Prinzip der Geometrie, der Symmetrie, der Präzision, der Ordnung und Regelmäßigkeit gegen die Komplexität und Unregelmäßigkeit der gotischen Baukunst. Abgelöst aber wurde die Renaissance durch den Barock, eine Bauperiode, in der sich die Architekten gegen Einheitlichkeit, Ruhe und Maß wehrten und Überschwang und Üppigkeit zum Prinzip erhoben. Dennoch blieb auch im Barock die antike Baukunst ein Vorbild: Barock und Renaissance stehen zueinander wie entfernte Verwandte, während Renaissance und Gotik sich kaum ähneln. Ein berühmtes Gebäude, dessen Grundsteine in der Hochzeit der Renaissance gelegt wurde, war erst im Barock vollendet, nämlich 1626: der Petersdom in Rom. Er vereint aufs Palazzo Davanzati in Florenz 47