„Ambulante medizinische Rehabilitation psychischer Störungen - Erste Eindrücke und Ergebnisse“ R.Rabenstein, V. Görgen, G. Lenz Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau 1) Einleitung 4) Ergebnisse Im September 2010 wurde in Wien die erste ambulante medizinische Rehabilitation psychischer Störungen der Phase II (WHO) eröffnet. Das Zentrum für seelische Gesundheit LEOpoldau ist für 3 Jahre als Pilotprojekt für ambulante Rehabilitation dieser Störungsgruppe in Zusammenarbeit mit der Pensionsversicherung angelegt. Das Psychotherapiekonzept dieser ambulanten Rehabilitationseinrichtung ist schwerpunktmäßig verhaltenstherapeutisch. Es werden geschlossene, störungsspezifische Gruppen mit maximal 12 PatientInnen 6 Wochen behandelt. Derzeit gibt es ca. 70 Behandlungsplätze, also 6 Gruppen gleichzeitig. In der Endstufe soll es 80-96 Plätze geben. Die Zuweisung erfolgt über ärztlichen Antrag auf einen Rehabilitations-, Kur- bzw. Erholungsaufenthalt über die Pensionsversicherung. Das Rehabilitationsprogramm umfasst ca. 22 Wochenstunden und findet Montag bis Freitag von 08:00 bis 17:00 statt. Es werden Psychotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Sozialarbeit und ärztliche Betreuung im Einzel- und Gruppensetting angeboten. Darüber hinaus gibt es Zusatzangebote wie Biofeedback, computergestütztes kognitives Training, Mal- und Gestaltungstherapie und Sporttherapie. Um den Erfolg dieser Rehabilitationsmaßnahme zu gewährleisten wird eine laufende, umfangreiche Evaluation mittels psychometrischer Verfahren durchgeführt. Im Weiteren werden die Ergebnisse der ersten 101 PatientInnen von Aufnahme und Entlassung vorgestellt. BSI: GAF: Hinsichtlich der Belastungseinschätzung im BSI für die Gesamtgruppe aller PatientInnen zeigt sich zum Entlassungszeitpunkt ein signifikant niedrigerer Gesamtmittelwert (GSI) als zum Aufnahmezeitpunkt (t = 7.99, df = 98, p = .000). Dieser Effekt ist als mittel bis stark einzuschätzen (d = 0.71). Unterteilt in Diagnosegruppen zeigen sich signifikante berichtete Verbesserungen der Symptombelastung in den Diagnosegruppen der Affektiven Störungen und Neurotischen-, Belastungs- und somatoformen Störungen (F3: t = 5.67, df = 44, p = .000; F4: t = 5.04, df = 37, p = .000). Die berechneten Effektstärken zeigen mittlere bis große Effekte (F3: d = 0.78; F4: d = 0.66). Tabelle 1 zeigt die genauen Ergebnisse der Unterschiedsberechnungen. Von 101 Patienten liegen von 99 vollständige Daten vor. 63 der 99 PatientInnen wurden zum Entlassungszeitpunkt besser eingeschätzt, 33 verblieben in der gleichen Kategorie und 3 wurden als beeinträchtigter eingeschätzt. Somit wurde das allgemeine Funktionsniveau der PatientInnen nach dem Turnus signifikant besser eingeschätzt als bei Aufnahme (ME = 6,65, MA = 5,92), T = 87, z = -7.089, p = < .05. Erkennbar ist eine deutliche Reduktion der Ratings im Bereich bis 60 und eine Zunahme im Bereich zwischen 60 und 80 Punkten. Tabelle 2 zeigt eine graphische Gegenüberstellung des allgemeinen Funktionsniveaus der PatientInnen zum Aufnahme- und Entlassungszeitpunkt. Tabelle 1: Unterschiede zwischen den Gesamt-Rohwerten (GSI) im BSI zum Zeitpunkt Diagnosen MA SDA ME SDE df t p d Gesamtgruppe 1,38 0,75 0,88 0,65 98 7.99 .000 0.71 F0.- Organische, einschl. symptom. psychischer Störungen 1,20 0,76 0,62 0,46 2 1.02 .414 - F2 - Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 1,03 0,99 0,64 0,54 7 1.31 .233 - F3 - Affektive Störungen 1,33 0,73 0,81 0,57 44 5.67 .000 0.78 F4 - Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen 1,53 0,73 1,04 0,78 37 5.04 .000 0.66 F6 - Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 1,45 0,76 0,86 0,39 4 2.15 .098 - 2) Methodik Die Datensammlung für die dreijährige Evaluationsstudie erfolgt zum einen über Selbstauskünfte der PatientInnen im Rahmen von Fragebogenerhebungen und zum anderen über die Fremdbeurteilung der PatientInnen durch das therapeutische Personal. Als psychometrische Verfahren kommen das Beck-Depressions-Inventar (Hautzinger et al.,2001), das Brief Symptom Inventory (Franke, 2000), der Lebensqualitätsfragebogen WHOQOL-Bref (Angermeyer et al., 2000) und der VEV – Fragebogen zu Veränderungen im Erleben und Verhalten (Zielke et al., 1978) zum Einsatz. Zusätzlich werden mit einem selbst erstellten Erhebungsinstrument sozioökonomische- und krankheitsbezogene Daten von den PatientInnen erfragt. Als Fremdbeurteilungsinstrument wird das Global Assesment of Functioning (Saß et al., 2002) verwendet. Neben der Generierung dieser Daten zum Zeitpunkt der Aufnahme und Entlassung werden zusätzlich Reha-Katamnesen nach 6 und 12 Monaten sowie eine Vorherhebung (1-3 Monate vor Aufnahme) durchgeführt. Statistische Auswertung: Die statistische Auswertung erfolgt mittels SPSS 16.0. Das Signifikanzniveau wird für alle verwendeten Verfahren auf ! = .05 festgelegt. Die Signifikanzprüfung erfolgt stets 2-seitig, mittels t-test und Wilcoxon Vorzeichen-Rangtest. Zusätzlich werden deskriptive Statistiken herangezogen. Als Maß der Bedeutsamkeit der Unterschiede wird die Effektstärke d herangezogen. Diese wird mittels eines Standardmoduls zur Effektstärkenberechnung der Universität des Saarlandes (http://www.phil.uni-sb.de/~jakobs/seminar/vpl/bedeutung/ effektstaerketool.htm#Effektstaerke_t_abh%C3%A4ngig) ermittelt. Die Interpretation der Effektstärken erfolgt nach der üblich Konvention der Effektstärkeklassifizierung nach Cohen (1969, S. 38; 1992, S. 157) wie folgt: kleiner Effekt d = 0.20, mittlerer Effekt d = 0.50 und großer Effekt d = 0.80. BDI: Die durchschnittliche depressive Symptombelastung der PatientInnen erhoben mittels BDI wird zum Zeitpunkt der Aufnahme (M = 24,16; SD = 10,29) deutlich höher angegeben als zum Zeitpunkt der Entlassung (M = 14,17; SD = 9,91). Dieser Unterschied ist signifikant (t = 11.71; df = 98; p = .000) und als bedeutsam einzustufen (d = 0.96). Abbildung 6: GAF (Angermeyer et al., 2000) Score bei Aufnahme und Entlassung Häufigkeiten der Zuteilung der PatientInnen in die jeweiligen GAF Kategorien (Angaben in Prozent) GAF Score Routine 91 - 100 Keine bis leichte Symptome bzw. alltägliche bis leichte soziale oder berufliche Beeinträchtigungen 3) Stichprobenbeschreibung Von 122 aufgenommenen Patienten im Zeitraum 04.10.2010 bis 17.1.2011 liegen von 101 Patienten vollständige Daten für den Aufnahme- und Entlassungszeitpunkt vor. Gründe für den Datenmangel waren insbesondere vorzeitige Abbrüche, sprachliche oder kognitive Schwierigkeiten und Kontrollmangel. 81 - 90 71 - 80 Urgent Mäßige bis ernsthafte Symptome bzw. mäßige bis ernsthafte soziale oder berufliche Beeinträchtigungen Geschlechtsspezifische Beschreibung: Von den 101 Patienten waren 42 (41,6%) männlich und 59 weiblich (58,4%). 61 - 70 51 - 60 41 - 50 Emergent Abbildung 4: Häufigkeiten der Ausprägung der berichteten depressiven Symptombelastung mittels BDI (Hautzinger et al., 2001) eingeteilt in Kategorien unauffällig, mäßig und stark (Angaben in Prozent) Anmerkung: Summenwerte "10 gelten als unauffällig, Summenwerte #11 und " 17 gelten als mäßig ausgeprägte Depressionssymptomatik, Summenwerte # 18 gelten als stark ausgeprägte Depressionssymptomatik Altersspezifische Beschreibung: Das durchschnittliche Alter der Patienten liegt bei 37,05 Jahren (SD = 12,02), jenes der Patientinnen bei 40,61 (SD = 8,15). Die Altersverteilung ist in Abbildung 2 dargestellt. Abbildung 2: Altersverteilung der PatientInnen nach Alterskategorien (Angaben in Prozent) Erwerbsstatus: Zum Zeitpunkt der Aufnahme geben 34 Personen (33,7%) an Vollzeit berufstätig und 9 Personen (8,9%) Teilzeit beschäftigt zu sein. 56 Personen (55,4%) geben an nicht berufstätig zu sein. Darüber hinaus berichten 35 PatientInnen (34,7%) Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe und 5 PatientInnen (5,0%) Sozialhilfe oder Mindestsicherung zu beziehen. 6 PatientInnen (6,0%) geben an von Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspension zu leben, davon 2 dauerhaft und 4 befristet und eine Person bekommt Pensionsvorschuss. 6 weitere PatientInnen (5,9%) geben an zum Zeitpunkt der Aufnahme ein laufendes Pensionsverfahren zu haben. Anmerkung: Die Gruppengröße variiert bei diesen selbst berichteten Daten leicht, da nicht alle PatientInnen alle Fragen beantwortet haben. 21 - 30 11 - 20 0 - 10 Abbildung 7: Einteilung der GAF-Kategorien nach Schweregrad der psychischen und sozialen/beruflichen Beeinträchtigungen in Anlehnung an das Global Assessment of Funktioning Scale Training (www.esocialworker.com) WHO: Abbildung 1: Geschlechterverteilung der PatientInnen (Angaben in Prozent) 31 - 40 Vielfältige Symptome bis zu Realitätsverlust, Selbst- oder Fremdgefährdung bzw. wesentliche soziale oder berufliche Beeinträchtigungen in mehreren bis fast allen Bereichen Im Vorher-Nachher-Vergleich der subjektiven Einschätzung der Lebensqualität zeigen sich deutliche Verbesserungen in den Domänen Global, Psychisch und Physisch (p = .000; d # 0.60). In der Domäne Soziale Beziehungen lässt sich ein schwacher Effekt hinsichtlich einer positiven Veränderung der Lebensqualität feststellen (p = .043; d = 0.17). Keine signifikante Veränderung ergibt sich in der Domäne Umwelt (p = .309). Tabelle 2: Unterschiede zwischen der Selbstbeurteilung der Lebensqualität der PatientInnen zum Aufnahme- und Entlassungszeitpunkt Domäne MA SDA ME SDE df t p d Global 40,31 18,61 52,68 21,78 97 -6.35 .000 0.61 Physisch 48,35 19,39 60,60 20,95 95 -8.07 .000 0.60 Psychisch 42,52 17,48 53,50 18,54 94 -7.80 .000 0.61 Soziale Beziehungen 49,18 23,91 53,13 23,17 95 -2.05 .043 0.17 Umwelt 64,10 15,92 65,44 17,52 96 -1.02 .309 - VEV: Der Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens wird zunehmend als Maß des Therapieerfolges herangezogen. Er ermittelt die subjektive Einschätzung der PatientInnen hinsichtlich ihrer individuellen Veränderung nach der Therapie. Verbesserungen bedeuten inhaltlich eine Zunahme von Entspannung, Gelassenheit und Optimismus. Abbildung 5 zeigt, dass 45,9% der PatientInnen mehr Entspannung, Gelassenheit und Optimismus berichten. Bei 40,8% gab es keine deutlichen Veränderungen und 13,3% beschreiben eine Zunahme von Spannung, Unsicherheit und Pessimismus. 5) Diskussion und Schlussfolgerung Die Ergebnisse der ersten Evaluationsergebnisse lassen eine optimistische Haltung zu. Es konnte gezeigt werden dass es während des Aufenthaltes zu einer wesentlichen Verbesserung der subjektiven Symptombelastung kommt. Mit Effektstärken von 0.96 im BDI, und bis zu 0.78 im BSI sind starke Effekte erzielt worden. Die Steigerung der Lebensqualität mit Effektstärken bis zu 0.61 ist ebenfalls mit mittleren Effekten positiv. Die Ergebnisse im VEV spiegeln die Reduktion im Bereich der Symptombelastung nicht wieder. Hierfür sind weitere Erhebungen notwendig. Jedoch zeigt sich im Fremdrating mittels GAF eine positive Veränderung des psychosozialen Funktionsniveaus. In weiteren Katamnesestudien ist geplant zu prüfen, ob die Verbesserungen auch nach 6 Monaten und einem Jahr aufrecht blieben. Zusätzlich sollen Angaben zur Erwerbssituation und gesundheitsökonomische Daten ausgewertet werden um die soziale und berufliche Integration als weiteres Erfolgskriterium zu erfassen. 6) Literaturverzeichnis: Angermeyer, M.., Kilian, R. & Matschinger, H., (2000). WHOQOL-100 und WHOQOL-BREF. Handbuch für die deutschsprachige Version der WHO Instrumente zur Erfassung von Lebensqualität. Göttingen: Hogrefe. Cohen, J., (1969). Statistical power analysis for the behavioral sciences. New York, London: Academic Press Diagnosen: Die häufigsten Entlassungsdiagnosen fallen in die Bereiche der Affektiven Störungen sowie der Neurotischen- Belastungs- und Somatoformen Störungen. 47 von 101 PatientInnen (46,5%) leiden unter einer Affektiven Störung als Hauptdiagnose und 38 (37,5%) an einer Störung aus dem Bereich der Neurotischen- Belastungs- und Somatoformen. Weitere 7,9% (8 Personen) haben eine F2-Diagnose nach ICD-10. Die restlichen acht Prozent entfallen auf F6 (Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen) und F0 (Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen). Eine graphische Veranschaulichung ist in Abbildung 3 dargestellt. Cohen, J., (1992). A power primer. Quantitative Methods in Psychology. Psychological Bulletin 112 (S.155–159). Washington: American Psychological Association Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M., (2008). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) Klinischdiagnostische Leitlinien. 6., vollständig überarbeitete Auflage. Bern: Huber Field, A. (2005). Discovering Statistics using SPSS (2nd.). London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications. Franke, G., (2000). Brief Symptom Inventory. Göttingen: Beltz. Franke, G., (2002). SCL-90-R. Symptom Checkliste von L.R. Derogatis. Göttingen: Beltz. Hautzinger, Martin, Bailer, Maja., Worall, Hellgard & Keller, Ferdinand, (2001). Beck-Depressions-Inventar (BDI), Testhandbuch. Bern: Hans Huber. Leonhart, R. (2004). Effektgrössenberechnung bei Interventionsstudien. Rehabilitation Band 43. (S.241-246). Wien: Springer Abbildung 5: Häufigkeiten der Zuteilung zu den Veränderungskategorien im VEV (Zielke et al., 1978) – Anteil der Verbesserungen, unbedeutenden Veränderungen und Verschlechterungen (Angaben in Prozent) Anmerkung: Ermittelt wird der Gesamtwert aus 42 Items; werden alle Veränderungsfragen auf einer mittleren Skalenstufe (4) eingeschätzt, bedeutet das „keine Veränderung“ (Gesamtscore = 168). Gesamtwerte # 187 (5%-Niveau) gelten als bedeutsame Verbesserung, Gesamtwerte " 149 Punkten als Verschlechterung (5%-Niveau). Abbildung 3: Häufigkeiten der Haupt-Entlassungsdiagnosen (Angaben in Prozent) Linden, M., Baron, S., (2005). Das „Mini-ICF-Rating für psychische Störungen (Mini-ICF-P)“. Ein Kurzinstrument zur Beurteilung von Fähigkeitsstörungen bei psychischen Erkrankungen. Die Rehabilitation Band 44 (S.144-151). Wien: Springer Saß, H., Wittchen, H. & Zaudig, M., (2003). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. (DSM-IV-TR): Textrevision. Bern, Wien, Toronto, Seattle, Oxford, Prag: Hogrefe