Klassifikation und Chirurgie der

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112
5 Anomalien
Abb. 5.18 Aurikularanhänge.
a Lage von Aurikularanhängen nach Otto (1979; aus Weerda
1994 e).
5.3
Klassifikation und Chirurgie
der Überschussbildungen
H. Weerda
Klassifikation. Entsprechend einer Entwicklungs- oder Differenzierungshemmung in Teilen der Ohranlage oder der
Kiemenfurche kann es zu verschieden ausgeprägten Missbildungsformen der Ohrmuschel, zu einer Überschussbildung wie Aurikularanhänge, zu Zysten- und Fistelbildung im
Ohrbereich sowie zu Dysplasien verschiedenen Ausmaßes
kommen (Otto 1979, 1983).
b Aurikularanhänge bei normal ausgeformtem Ohr.
c Aurikularanhänge bei Mikrotie III. Grades.
5.3.1
Aurikularanhänge (Abb. 5.18)
Aurikularanhänge werden als mandibuläre Überschussbildung am Rande der 1. Kiemenfurche aufgefasst. 1979 entwickelt Otto die Hypothese, dass es sich um versprengte hyoidale Ektodermzellen oberhalb der hyomandibulären Grenze
(Abb. 5.18 a − Grenze zwischen I. und II. Kiemenbogen) handelt. Sie entstehen beim Verschluss der 1. Kiemenfurche in
der 1. Hälfte der 6. Embryonalwoche. Durch Wachstum des
Gesichts verschiebt sich die Grenze in die Wange, es handelt
sich bei diesen präaurikulären Anhängseln um echte Choristome (Abb. 5.18 b, c).
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Aus Weerda, H.: Chirurgie der Ohrmuschel (ISBN 9783131301819) © 2003 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart
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Abb. 5.17
a Höcker-1−2-3−4-5−6-Missbildung: Anotie.
b Höcker-1- bis -5-Missbildung, angedeuteter Lobulus und Aurikularanhang.
c Komplette Anotie mit Vertiefung
im Bereich des Gehörgangs und
niedriger Haarlinie.
Klassifikation und Chirurgie der Überschussbildungen
113
Abb. 5.20 Zysten und Fisteln an
der Ohrmuschel.
a Lage von Fisteln im Ohrbereich
nach Gohary et al. (1983; aus
Weerda 1994 e).
b Infizierte, kongenitale, präaurikuläre Zyste mit Fistelöffnung.
Melotie und Polyotie (Abb. 5.19)
Im Rahmen seiner Untersuchungen konnte Otto (1979,
1983) nachweisen, dass Wangenohren (Melotie) und sog.
zusätzliche Ohrmuscheln (Polyotie; Abb. 5.19) lediglich
außergewöhnlich große Aurikularanhänge darstellen, da
immer wieder die Entstehung solcher zusätzlichen „Ohren“
im Bereich des Ohrmuschelrudiments oder an der Wange als
Ohrverdoppelung diskutiert wurden (Blass u. Bartholome
1976). Echte Ohrmuschelverdoppelungen werden dagegen
extrem selten beschrieben.
Die Aurikularanhänge können auch zusammen mit weitergehenden Missbildungen wie hemifaziale Mikrosomie,
Goldenhar-Syndrom oder Ohrdysplasien auftreten (Otto
1979, 1983). Familiäre Häufungen werden beschrieben, desgleichen Missbildungen des Mittel- und des Innenohrs
(Blass u. Bartholome 1976).
Therapie
Bei normal ausgebildetem Ohr werden die Aurikularanhänge in den Spannungslinien der Haut umschnitten und
exzidiert und die Wunden mit feinem monofilen Nahtmaterial unter plastisch-rekonstruktiven Gesichtspunkten versorgt (s. Abb. 5.18). Bei zusätzlicher Ohrmuschelmissbildung sollten die Aurikularanhänge nicht entfernt werden,
da die Haut zur weiteren rekonstruktiven Maßnahmen verwendet werden kann (Weerda 1984 a).
Audiometrische Untersuchungen sollten zum Ausschluss
einer Hörstörung durchgeführt werden.
5.3.2
Ohrfisteln und -zysten
(Abb. 5.20 bis 5.22)
Ohrfisteln (Fistula auris congenita), präaurikuläre Fisteln
und Zysten sind epitheliale Retentionen in ähnlicher Lage,
wie sie bei den Aurikularanhängen beschrieben wurden
(s. Abb. 5.18). Sie enden meist blind und sind mit Plattenepithel und/oder respiratorischen Epithel ausgekleidet. Am
häufigsten werden sie präaurikulär und um das Crus helicis
herum gesehen (Abb. 5.20 a und Abb. 5.21). Sie sind nicht
selten doppelseitig oder multipel angelegt (Gohary et al.
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Abb. 5.19 Als „Polyotie“ bezeichnete, multiple
Aurikularanhänge mit rudimentärer Ohrmuschel.
114
5 Anomalien
Abb. 5.22 Ohrfisteln (aus Weerda 1994 e).
a Lage der Typ-I-Fisteln und der Typ-I-Zysten der sog. „Ohr-HalsFisteln“ (nach Belenky u. Medina 1980).
b Lage der Typ-II-Fisteln, der sog. „gedoppelten Gehörgänge“
(nach Belenky u. Medina 1980).
c Lage des N. facialis zu den Typ-II-Ohr-Hals-Fisteln (nach
Belenky u. Medina 1980; Otto 1983); 1: überkreuzende Fisteln,
2, 3: unterkreuzende Fisteln.
1983; Otto 1983). Häufig sehen wir bei Zysten und Fisteln
eine entzündliche Exazerbation (Abb. 5.20 b). Um Rezidive
zu vermeiden, müssen Zysten und Fisteln in toto entfernt
werden (s. S. 115, 116).
Die Klassifikation ist mehr klinisch, weniger nach histologischen Kriterien zu treffen, da neben Plattenepithel nicht immer Knorpel (ektodermale und mesodermale Strukturen)
gefunden werden (Otto 1983). Diese Überschussbildungen
enden oft blind im Bereich des Übergangs vom knorpeligen
zum knöchernen Gehörgang, sie haben eine Öffnung vor
dem M. sternocleidomastoideus (s. Abb. 5.21). Durch Infektion und Abszessbildung werden sie häufig erst im Erwachsenenalter auffällig, sie über- oder unterkreuzen den N. facialis (s. Abb. 5.22) und müssen deshalb beim Entfernen entsprechend der Parotischirurgie unter Freilegen des Nervs
angegangen werden (s. Therapie). Ein Anfärben des Fistelgangs mit Methylenblau hat sich bewährt.
Eine Reihe von Fisteln münden retroaurikulär, sie werden
als proximale Gruppe der lateralen Halsfisteln angesehen
Obere Hals-Ohr-Fisteln werden als Doppelung des Gehörgangs angesehen (Abb. 5.22 und s. Abb. 5.21 Hammond
1987; Otto 1983) und werden auch als Anomalien der 1. Kiemenfurche bezeichnet (Belenky u. Medina 1980).
Sie werden in 2 Typen eingeteilt:
앫 Typ I (Abb. 5.22 a) wird als eine Duplikatur des äußeren
Gehörgangs bezeichnet. Diese Fistel ist ektodermalen Ursprungs und enthält in der Regel Haut.
앫 Typ II (Abb. 5.22 b, c) sind ektodermalen oder mesochymalen Ursprungs und enthalten neben Haut in der Regel
auch Knorpel.
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Abb. 5.21 Lage der Fistelöffnungen im Ohr- und Halsbereich
nach Otto (1983); 1: Ohrmuschelvorderseite − Gruppe der kongenitalen, präaurikulären Fisteln; 2: Ohrmuschelrückseite −
Gruppe der Hals-Ohr-Fisteln, auch als „gedoppelte Gehörgänge“
bezeichnet (s. auch Abb. 5.22); 3: proximale Gruppe der lateralen
Halsfisteln (aus Weerda 1994 e).
Klassifikation und Chirurgie der Überschussbildungen
115
(s. Abb. 5.21, 3). Diese zuletzt beschriebene Fehlbildungen
werden mit Mittelohr- und Innenohrmissbildungen gesehen, eine familiäre Häufung wird beschrieben (Mündnich u.
Terrahe 1979).
Therapie
Exzision von präaurikulären Fisteln und Zysten
Präaurikuläre Fisteln, die nicht zu rezidivierenden Entzündungen neigen, brauchen operativ nicht angegangen werden.
Prätherapeutische Maßnahmen. Wir operieren bei Kindern
in Vollnarkose, bei Erwachsenen in Lokalanästhesie. Es
sollte in der Regel nicht während einer entzündlichen Exazerbation operiert werden. Intraoperativ, vor der Präparation, wird der Gang mit Methylenblau über eine Knopfkanüle gefüllt, die in den Ausführungsgang eingeführt und
durch die aufgesetzte Olive dann fest verschlossen wird, um
genügend Druck für eine Füllung und Anfärbung der Fistel
oder Zyste zu erhalten. In der Regeln enden die Fisteln blind
an oder unter dem Knorpel der aufsteigenden Helix. Gelegentlich kann mit einer Knopfsonde versucht werden, die
Länge des Gangs auszumessen (Abb. 5.23 a).
Eine Röntgendarstellung mit wässrigen Kontrastmittel ist
desgleichen möglich.
Präoperativ sollte ausgeschlossen sein, dass die Fistel im
Gehörgang liegt oder bis in das Mittelohr vorgedrungen ist
(Chami u.Apesos 1989; Gurr et al. 1998; Prasad et al. 1990;
Joseph u. Jacobsen 1995; Lam et al. 2001).
Operatives Vorgehen. Umschneiden der Fistel (Abb. 5.23 b,
c). In der Regel benutzen wir eine Lupenbrille oder das Mikroskop zur besseren optischen Auflösung. Nach Umschneiden der angefärbten Gänge und Einlegen einer Sonde Darstellung der Fistel, Resektion auch des Perichondriums des
Crus helicis, danach schichtweiser Verschluss mit 5−0 Vicryl
und 6−0 PDS.
Wegen der hohen Rezidivraten zwischen 5 und 32 % (Lam
et al. 2001) wurde von Prasad et al. (1990) die sog. supraaurikuläre Exzision angegeben, bei der von hinten oben nach
vorne präpariert wurde und mit der die Rezidivrate der
Standardtechnik von 32 auf 3,7 % reduziert werden konnte
(p 욷 0,01; Lam et al. 2001). Prasad et al. selbst beschrieben
eine Reduzierung der Rezidive von 42 auf 5 % mit dieser Methode.
Die signifikant geringste Rezidivrate fanden sie, wenn der
Gang angefärbt und auf einer Sonde entfernt wurde. Sie
schlagen nach an 165 Fisteln- und Zystenexzisionen gewonnenen Erfahrungen vor:
Anfärben der Fistel (Zyste) und Einlegen einer Sonde,
aggressivere Resektion mit mehr Gewebe um Fisteln und
Zysten sowie Exzision eines Knorpelstücks.
Chirurgie des „doppelten Gehörgangs“
Wie bereits beschrieben (s. S. 114), werden obere Hals-OhrFisteln als Dopplung des Gehörgangs angesehen (Chilla u.
Miehlke 1984; Strutz u. Mann 1989; Weerda 1994 e). Die
sog. „doppelten Gehörgänge“ werden als Anomalien der 1.
Kiemenfurche bezeichnet (Dokianakis et al. 1984). So beschreiben Belenky u. Medina (1980) die Typ-I-Anomalie als
periaurikuläre Zysten oder Fisteln (s. Abb. 5.22 a). Diese
Anomalie wird häufiger postaurikulär gefunden, gelegentlich auch präaurikulär und sie erscheint bei jungen oder
mittelalten Erwachsenen. Sie werden meist erst bei Infektionen auffällig. Der Fistelgang läuft parallel zum Gehörgang
und endet lateral oder oberhalb des N. facialis immer blind.
Die eigentlichen doppelten Gehörgänge sind die Typ-IIFisteln und -Zysten (Aronson et al. 1976; Abb. 5.24 a).
Operatives Vorgehen. Lagerung wie zur Parotischirurgie.
Die Gesichtshälfte muss frei bleiben, ein Neuromonitoring
zur Kontrolle des N. facialis ist zwingend. Inzision wie bei
Typ I − je nach Lage prä- oder postaurikulär −, bei Typ-II-Fisteln und -Zysten entsprechend der Parotischirurgie
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Abb. 5.23 Exstirpation einer präaurikulären Fistel nach Anfärben
mit Methylenblau auf einer
Knopfsonde.
a Anfärben der Fistel (Zyste) mit
Methylenblau mit einer Knopfkanüle.
b, c Elliptisches Umschneiden in
der präaurikularen Falte und Präparieren des Fistelgangs (der
Zyste) über einer Knopfsonde.
5 Anomalien
Abb. 5.24 Lage und Chirurgie der Typ-II-Fisteln (Zysten), sog.
„gedoppelte Gehörgänge“, die im Hals beginnen (s. Abb. 5.22,
aus Weerda 1994 e).
a Schematische Darstellung; 1: überkreuzende Fisteln; 2, 3: unterkreuzende Fisteln
b Wie bei der Parotischirurgie Inzision vor der Ohrmuschel, es
wird stets der Stamm des N. facialis dargestellt. Präparation bis
zum knorpeligen Gehörgang. Operationssitus entsprechend
der Schemazeichnungen; 1: Verlauf vor dem N. facialis;
2: Verlauf hinter dem N. facialis; 3: Verlauf zwischen kranialen
und distalen Anteilen des N. facialis.
Abb. 5.25 Typ-II-Ohr-Hals-Fistel (s. Abb. 5.22,
3 und Abb. 5.24, 3).
a Darstellung des Stamms des N. fazialis und
der einzelnen Nervenäste. Entwickeln der Fistel (durch Methylenblau angefärbt).
b Absetzen der Fistel am Übergang knorpeliger
zum knöchernen Gehörgang (Operateur:
S. Remmert).
a
b
(Abb. 5.25 a, b) präaurikulär um das Ohrläppchen herum
und in die Halsweichteile entsprechend der RSTL (relaxed
skin tension lines) nach vorne. Danach Darstellen des Fazialisstamms und −entsprechend der Lage des „gedoppelten
Gehörgangs“ vor, hinter oder zwischen den Fazialisästen −
Präparation bis zum Übergang knorpeligen zum knöchernen
Gehörgang (Abb. 5.24 b, 1−3), wo der Gang blind endet
(s. Abb. 5.21, 1, 2, 3). Anschließend sorgfältige Blutstillung,
schichtweiser Wundverschluss, kleiner Drain, leichter Kompressionsverband. Die Fäden werden am 6. oder 7. postoperativen Tag entfernt.
5.4
Klassifikation und Chirurgie
der Dysplasien der Ohrmuschel
H. Weerda
Vorbemerkungen. Mit der Entwicklung der plastischen Chirurgie hat das Interesse an den Ohrmuschelmissbildungen
stark zugenommen. Dabei hat sich gezeigt, dass die gebräuchlichen Terminologien und die Versuche der Standardisierung eine umfassende Darstellung der unterschiedlichen Missbildungsformen nicht gut zulassen.
Eine Reihe von Autoren klassifizieren im Sinne der embryologischen Entwicklung von der schwersten Form der
Anotie und Mikrotie III. Grades bis hin zu den leichtesten
Formen und der abstehenden Ohrmuschel (Streeter 1922;
Rogers 1968, 1974).
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