Der Wissenschaftsansatz Disability Studies

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Der Wissenschaftsansatz Disability Studies
- neue Erkenntnisgewinne über Behinderung?
GISELA HERMES
Die Disability Studies, auch zu übersetzen mit „Studien über oder zu
Behinderung" (Waldschmidt 2003, 12) oder „Behinderungswissenschaft" (Degener 2003, 23), sind ein recht junger interdisziplinärer
Wissenschaftsansatz, der auf gesellschaftstheoretischen Erklärungsansätzen von Behinderung basiert und die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderung zum Ziel hat.
Die Disability Studies sind eng mit der Geschichte und den Paradigmen der Bürgerrechtsbewegungen behinderter Menschen verknüpft,
die ab den 1960er Jahren in vielen Ländern entstanden, mit dem Ziel,
eine volle gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen mit Behinderung zu erreichen. Theoretische Basis der Behindertenbewegungen
war und ist die Erkenntnis, dass Menschen, die eine physische, psychische oder kognitive Beeinträchtigung haben, so wie andere Minderheiten, aufgrund ihrer Abweichung von gesellschaftlichen Normen
unterdrückt und ausgesondert werden. Bereits 1976 formulierte die
britische Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS)
in Abgrenzung zu medizinischen Modellen folgende Erklärung von
Behinderung: „Nach unserer Ansicht ist es die Gesellschaft, die behindert (...). Behinderung ist etwas, das zusätzlich auf unsere Beeinträchtigungen aufgesetzt wird, indem wir unnötigerweise isoliert und
von der vollen Teilhabe in der Gesellschaft ausgeschlossen werden.
Behinderte Menschen sind deshalb eine unterdrückte Bevölkerungsgruppe."
(Union of Physically Impaired Against Segregation/Disability Alban ce: Fundamental Principles of Disability. London 1976, 31, zit.
nach Priestley 2003, 26). Aus Sicht der Betroffenen werden behinderte Menschen ebenso diskriminiert wie beispielsweise Ausländer oder
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auch Frauen. Nicht die individuelle Beeinträchtigung, sondern die diskriminierenden gesellschaftlichen Bedingungen, die die Ausgrenzung
behinderter Menschen aus fast allen Lebensbereichen zur Folge haben, rücken folglich in den Blickpunkt.
Die Definition der UPI AS hatte in den 1980er Jahren enormen Einfluss auf die Entwicklung neuer sozialer Erklärungsansätze von Behinderung, auf deren Basis die Disziplin Disability Studies beruht. Um
sich den Disability Studies anzunähern erscheint deshalb zunächst die
Beschäftigung mit deren theoretischen Grundsätzen sinnvoll.
Medizinische/individuelle Erklärungsansätze
von Behinderung
Das Thema Behinderung wurde bisher fast ausschließlich in den Anwendungswissenschaften, also in der Medizin, der Psychologie und
der Heil- und Sonderpädagogik behandelt - Wissenschaftsdisziplinen,
in denen nach wie vor der medizinische Blick auf Behinderung dominiert, d.h. Behinderung wird hier als körperliche, psychische oder
kognitive Abweichung von einem gesellschaftlichem Normalzustand
verstanden (Waldschmidt 2003, 15). Aus medizinischer Sicht ist Behinderung das individuelle Problem eines Menschen, welches durch
eine Tragödie - Krankheit, Vererbung oder Unfall - hervorgerufen
wurde und das eine medizinische bzw. therapeutische Behandlung
durch entsprechend geschultes Fachpersonal notwendig macht (DIMDI 2002, 23), mit dem Ziel, das vorhandene Defizit zu beheben oder falls dieses nicht möglich ist - es zumindest zu verringern. Hierbei
wird der vermeintlich nichtbehinderte Mensch als Norm gesetzt, an
der der Erfolg und Misserfolg medizinischer Bemühungen gemessen
werden. Eine Abweichung von den in der Gesellschaft geltenden
Normalitätsnormen wird als Defizit, als negative persönliche Eigenschaft betrachtet und die Behinderung wird in der Regel auf die gesamte Person generalisiert, d.h. sie wird zum Hauptmerkmal des Individuums erhoben, hinter dem alle weiteren Merkmale und Eigenschaften wie z.B. Geschlechtszugehörigkeit, Familienstand, Religionszugehörigkeit oder auch individuelle Fähigkeiten zurückbleiben. Deutlich
wird dieses unter anderem durch die gängige Benutzung des reduktionistischen Begriffs „der Behinderte", unter dem Männer und Frauen,
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Mädchen und Jungen mit jeglicher Art von Beeinträchtigung, Religionszugehörigkeit, Familienstand und Ethnie zusammengefasst werden. Die Behinderung wird somit zum „Stigma (Goffman 1967),
welches dem Menschen anhaftet und seine Lebenssituation entscheidend beeinflusst.
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Im defizitorientierten medizinischen Modell wird der behinderte
Mensch als unzulängliches Mangelwesen und ewig Kranker betrachtet, mit der Folge, dass dem Betroffenen jegliche Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit abgesprochen und er an den Rand der
Gesellschaft gedrängt wird. Waldschmidt schreibt hierzu: „Wie Patienten befinden sich auch die von Behinderung Betroffenen häufig in
untergeordneten Positionen und machen Erfahrungen der Abhängigkeit und Herabwürdigung; sie sind von professionellen Helfern umgeben und leben in Krankenhäusern ähnlichen institutionellen Zusammenhängen. Kurz, wie Patienten sind auch behinderte Menschen
schnell Objekt von Fürsorge und Paternalismus und gelten eher nicht
als Wesen, die zur Selbstbestimmung fähig seien." (Waldschmidt
1999,24)
Weit verbreitet ist in diesem Zusammenhang die stereotype Zuschreibung seitens Nichtbehinderter, eine Behinderung bedeute für den betroffenen Menschen in erster Linie Leid (Köbsell/Strahl 2003). Mit
dieser Zuschreibung wird die Lebensrealität behinderter Menschen
jedoch ausgeblendet und ihr Leben auf einen einzigen Aspekt - das
vermeintliche Leiden - reduziert. Problematisch ist zudem die Tatsache, dass „Leid" in westlichen Industrienationen als nicht tolerierbarer
Zustand betrachtet wird, der um jeden Preis zu beheben oder zu verhindern ist. Ausdruck findet dieses Gedankengut vor allem in den
neuen biomedizinischen Technologien, die sich mit Hilfe vorgeburtlicher Diagnostik und PID der Auslese behinderter Embryonen verschrieben haben, und hierdurch zu einer gesellschaftlichen Diskussion
des Lebensrechts und Lebenswertes behinderter und alter Menschen
beitragen.
Soziale Benachteiligungen behinderter Menschen werden im medizinischen Erklärungsmodell als unabänderliche Folge persönlicher Defizite gesehen: Das „Problem Behinderung" wird im Individuum verortet und Anstrengungen zur Überwindung des Problems richten sich
entsprechend auf den einzelnen Menschen. Die Heilung durch medi-
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zinische oder psychologische Behandlung/Rehabilitation wird als
Hauptaufgabe betrachtet, verbunden mit der Vorstellung, das Problem
Behinderung könne beseitigt werden, wenn die Behandlung oder die
Anpassung an die Umwelt erfolgreich verläuft.
Auf der Basis eines reduktionistischen Menschenbildes, nach dem
Behinderung mit Unmündigkeit gleichgesetzt wird, werden behinderten Menschen auch heute noch grundlegende Entwicklungsmöglichkeiten und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorenthalten. Die
noch immer vorherrschende medizinische Sichtweise von Behinderung hat weit reichende Konsequenzen für das tägliche Leben behinderter Menschen. So wird die Umwelt vorrangig an den Durchschnittsnormen nichtbehinderter Personen ausgerichtet, die laufen, sehen, hören, lesen und Gelesenes verstehen können (Jürgens 1999). Die
Tatsache, dass fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens von
behinderten Menschen nicht oder nur mit Unterstützung Dritter genutzt werden können, weil bauliche Barrieren den Zugang versperren
oder sinnesbehinderten Menschen aufgrund von Kommunikationsbarrieren wichtige Informationen vorenthalten werden, hat für die Betroffenen einen Ausschluss aus fast all diesen Bereichen zur Folge (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2002). Entgegen
dem eigenen Willen wird ein Großteil der behinderten Menschen nach
wie vor sonderbehandelt und ausgesondert.
Soziale Erklärungsansätze von Behinderung
Seit den 1980er Jahren entwickelten Wissenschaftler mit Behinderung
aus verschiedenen Ländern soziale Erklärungsansätze von Behinderung, die der medizinischen Sichtweise gegenüber gestellt wurden.
Heute wird der Begriff "Soziales Modell von Behinderung" auf unterschiedliche gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze angewendet.
David Pfeiffer (2002) identifiziert insgesamt neun Versionen des sozialen Modells. Obwohl die verschiedenen Ansätze in Detailfragen große Unterschiede aufweisen, verfügen sie jedoch auch über grundlegende Gemeinsamkeiten, die im Folgenden als "Soziales Modell von
Behinderung" vorgestellt werden.
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Im Gegensatz zum medizinischen gehen soziale Modelle von Behinderung grundsätzlich davon aus, dass die Hauptprobleme behinderter
Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung, sondern in
den ausgrenzenden gesell- schaftlichen Bedingungen, dem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven
Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen (Oliver 1996, 33; Priestley 2003, 26 ff).
Der in Großbritannien entwickelte Ansatz eines sozialen Modells unterscheidet zwischen der individuellen Beeinträchtigung eines Menschen und der Behinderung, die erst durch die gesellschaftlichen Bedingungen entsteht. Bezweifelt wird, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer Beeinträchtigung und dem
Behindert-Werden gibt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich
die Erfahrung von Behinderung für verschiedene Menschen, auch
wenn sie ganz ähnliche medizinische Ausgangslagen haben, je nach
den vorliegenden gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sehr
unterschiedlich darstellt (Priestley 2003, 23ff).
Folgendes Beispiel soll dieses verdeutlichen: Stellen sie sich zwei
Rollstuhlfahrerinnen vor, die die gleiche Art und das gleiche Ausmaß
einer Behinderung, z.B. eine Querschnittlähmung haben. Beide benutzen einen Elektrorollstuhl. Die eine wohnt in einer Stadt, in der die
Umwelt relativ barrierefrei gestaltet ist. Es gibt eine zugängliche UBahn mit Fahrstühlen, Läden mit Rampen oder ohne Stufen, abgesenkte Bordsteine, zugängliche Kinos und Theater. Die andere Rollstuhlfahrerin, mit den gleichen medizinischen Ausgangsbedingungen,
wohnt auf dem Land. Dort sind die Bordsteine nicht abgesenkt, dort
gibt es keinen Niederflurbus und nur Läden, die über Stufen erreichbar sind. Für die Frau auf dem Land endet die gesellschaftliche Teilhabe vor ihrem Haus, da sie bereits bei der Überwindung der hohen
Bordsteine Schwierigkeiten hat. Würde sie in der Stadt wohnen, wäre
das anders. Sie könnte alleine einkaufen gehen und sich ihren Alltag
aktiv gestalten. Obwohl die beiden Frauen die gleiche Beeinträchtigung haben, sind ihre Lebensbedingungen völlig verschieden. Die Benachteiligung, die mit einer Beeinträchtigung verbunden ist, so zeigt
sich an diesem Beispiel deutlich, ist nicht vom Individuum abhängig
,sondern von den gesellschaftlichen Bedingungen. Soziale Erklärungsmodelle gehen deshalb auch davon aus, dass Behinderung nicht
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das einzelne Individuum betrifft, sondern die gesamte Gruppe behinderter Menschen.
Dass Behinderung kein feststehender, naturgegebener sondern ein gesellschaftlich konstruierter Zustand ist, belegen auch die Unterschiede
in der Bewertung von und dem Umgang mit Behinderung, die in verschiedenen Gesellschaften, Kulturen und historischen Epoche zu finden sind. Wer als behindert gilt und wie mit den so kategorisierten
Menschen umgegangen wird, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur.
Cloerkes und Neubert stoßen im Zusammenhang mit ihren interkulturellen Studien auf das Phänomen, dass ein gesundheitlicher Zustand,
der in einer Gesellschaft als Abweichung bzw. krankhaft gilt, in einer
anderen Kultur als völlig normal betrachtet wird. So ist beispielsweise
der Analphabetismus weltweit stark verbreitet und wird in vielen Ländern als normaler Zustand akzeptiert, während das Nicht-Lesen und
Nicht-Schreiben-Können in den Industrienationen als Lernbehinderung und abnormale Störung gilt, die zur Ausgrenzung führt (Neubert/Cloerkes 1987).
Im Gegensatz zum medizinischen Ansatz wird das „Problem" Behinderung nach dem sozialen Erklärungsmodell in der Gesellschaft angesiedelt. Der britische Wissenschaftler Mark Priestley führt aus welche
grundlegenden Konsequenzen die unterschiedlichen Erklärungsansätze von Behinderung haben. Das medizinische Modell, das Behinderung als physische Begrenzung des Einzelnen sehe, habe die Problemlösestrategie, das körperliche Funktionieren der Person zu verändern.
Priestley zieht die Schlussfolgerung: „Wenn wir dagegen Behinderung
als Produkt der Kultur und der Vorstellungen einer Gesellschaft erforschen, werden wir unsere Kräfte darauf konzentrieren, diese Vorstellungen zu verändern und positivere Darstellungen behinderter Menschen in der Öffentlichkeit zu erreichen. Wenn wir schließlich Behinderung als Begrenzung der Gesellschaftsstruktur erforschen, dann
wird sich unsere Aufmerksamkeit darauf richten, Barrieren gegen die
gesellschaftliche Partizipation behinderter Menschen zu identifizieren
und diese abzubauen." (Priestley in Barnes 1999 übersetzt nach Waldschmidt 2004, 369f).
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Entwicklung der Disability Studies
auf internationaler Ebene
Aus dem sozialen Modell von Behinderung hat sich die akademische
Disziplin Disability Studies entwickelt, die sich bisher vor allem in
den angloamerikanischen Ländern etablieren konnte. Seit mehreren
Jahren finden die Disability Studies jedoch ansteigende Beachtung in
deutschsprachigen Ländern. Als Begründer der Disability Studies
werden in den USA der behinderte Soziologe Irving Kenneth Zola und
in England der behinderte Sozialwissenschaftler Michael Oliver identifiziert, die in den 1980er Jahren etwa zur gleichen Zeit die Theorie
des sozialen Models von Behinderung entwarfen (Degener 2003). In
der Folge wurden sowohl in den USA als auch in Großbritannien eigene Lehrstühle und universitäre Institute für Disability Studies eingerichtet. Mittlerweile bieten vier US-amerikanische Universitäten Studiengänge mit dem Magisterabschluss Disability Studies an und die
University of Illinois at Chicago richtete einen Graduiertenstudiengang ein (Tervooren 2002). Vor allem im englischsprachigen Raum
existieren mittlerweile mehrere regelmäßig erscheinende Zeitschriften,
zahlreiche Bücher und Forschungsprojekte und zunehmend lassen sich
in den letzten Jahren auch deutschsprachige Veröffentlichungen zu
Disability Studies finden.
Die Disability Studies - ihre Grundsätze
Was konkret unter Disability Studies zu verstehen ist; welche Forschungen, Lehransätze und Projekte diesem Ansatz zugeordnet werden können und welche nicht, diskutieren behinderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf internationaler Ebene seit vielen Jahren. Es folgt der Versuch, die Grundprinzipien der Disability Studies
zusammen zu fassen:
• Grundlage von Forschung und Lehre der Disability Studies ist das
soziale Modell von Behinderung. Behinderung wird hierbei nicht
als ein festgeschriebenes individuelles Merkmal, sondern als sozial
verliehener Status verstanden (Gill 1998, Übersetzung G.H.).
• Gegenstand von Disability Studies ist nicht das Individuum, nicht
der einzelne behinderte Mensch, sondern das Phänomen „Behinderung". Dementsprechend ist der Begriff Disability Studies auch
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keine neue Variante der Behindertenwissenschaft, sondern befasst
sich mit Forschung über Behinderung (Waldschmidt 2004).
• Disability Studies sind parteilich; sie gehen von der Prämisse aus,
dass behinderte Menschen eine gesellschaftlich unterdrückte Minderheit darstellen. Das Ziel von Forschung im Sinne der Disability
Studies liegt nicht in der Vermeidung, Verbesserung oder Heilung
einer Beeinträchtigung sondern in der Analyse gesellschaftlicher
Bedingungen, die ein negatives Bild behinderter Menschen festschreiben und der Veränderung sozialer, politischer und kultureller
Handlungsweisen, die Menschen mit Behinderungen ausgrenzen.
Auf der Basis kritischer Analysen von sozialen Prozessen sollen
Wege aus diskriminierenden, ausgrenzenden sozialen Systemen
und Prozessen entwickelt und aufgezeigt werden (Gill 1998, Übersetzung G.H.).
• Disability Studies sind behinderungsübergreifend. Auch wenn sich
manche Disability Studies Untersuchungen möglicherweise auf eine bestimmte Art von Behinderung konzentrieren, arbeiten die Disability Studies (als Schlussfolgerung aus dem sozialen Modell von
Behinderung) grundsätzlich mit einem behinderungsübergreifenden
Ansatz (ebd.).
• Was Behinderung ist, wird in jeder Gesellschaft durch ein komplexes Zusammenspiel politischer, ökonomischer Kräfte und kultureller Werte festgelegt. Deshalb sind die Disability Studies interdisziplinär, d.h. die Konstruktion von Behinderung wird nicht nur aus
dem Blickwinkel von Pädagog/inn/en oder Mediziner/innen, sondern auch aus der Sicht anderer Fachrichtungen wie zum Beispiel
Soziologie, Jura, Geschichts-, Literatur-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften untersucht. Je nach Fachrichtung stellen sich unterschiedliche Fragen. So beschäftigen sich Historiker beispielsweise
mit der Frage, welche Lebensbedingungen Menschen, die man als
behindert bezeichnete, im Nationalsozialismus oder im Mittelalter
zugestanden wurden. Juristen untersuchen gesetzliche Definitionen
von Behinderung und Diskriminierungen behinderter Menschen
durch bestehende Gesetze. Die Kunst und Literatur wiederum ermöglichen Einsichten in aktuelle gesellschaftliche Sichtweisen von
Behinderung (Degener 2003).
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• Mit den Disability Studies ist ein grundlegender Perspektivwechsel
verbunden. Traditionelle Sichtweisen werden umgekehrt, indem die
Mehrheitsgesellschaft aus Sicht einer Minderheit untersucht wird
(Waldschmidt 2004). Anhand der Erfahrungen behinderter Menschen, den Erfahrungen des "Behindert-Werdens", werden in den
Disability Studies die historischen, kulturellen, sozialen oder politischen Bedingungen einer Gesellschaft analysiert (Gill 1998, Übersetzung G.H.).
• Ähnlich wie bei der Frauenforschung, den gender studies oder den
critical race studies versuchen die Disability Studies nicht nur den
Weg zu verstehen, wie Behinderung zu einer Diskriminierung
führt. Durch die Forschung soll vielmehr auch die Gruppe behinderter Menschen selbst sichtbar gemacht werden. Hierzu werden
die betroffenen Menschen aktiv in den Forschungsprozess einbezogen. Ihre Erfahrungen und Sichtweisen werden in den Mittelpunkt
gestellt und dienen als Grundlage für die Analyse gesellschaftlicher
Bedingungen und die Entwicklung von Lösungen. Behinderte Menschen werden somit nicht länger als zu befürsorgende und zu
betreuende und in diesem Sinne zu erforschende Objekte, sondern
als Subjekte von Forschung gesehen (ebd.).
Aktuelle Diskussionen innerhalb der Disability Studies
Das soziale Modell von Behinderung, die Grundlage der Disability
Studies, wird seit einigen Jahren zunehmend von Vertreter/innen der
Disability Studies kritisiert (Crow 1996, Shakespeare/Watson 2002;
Köbsell/Strahl 2003, Waldschmidt 2004). So besteht beispielsweise
eine starke Spannung zwischen den britischen Materialisten und den
US-amerikanischen Wissenschaftlern, die eine eher kulturwissenschaftliche, interaktioneile Perspektive bevorzugen (Meekosha 2003).
Trotz unterschiedlicher Gewichtungen herrscht jedoch weitgehende
Übereinstimmung in der grundlegenden Einschätzung, dass sowohl
materielle als auch kulturelle Kräfte die kulturelle Erfahrung von Behinderung bestimmen.
Kontrovers diskutiert wird vor allem die Frage einer ganzheitlicheren
Perspektive auf Behinderung, welche den Körper und die individuellen Erfahrungen von Schmerz und Leid, die mit manchen Beeinträch-
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tigungen verbunden sind, berücksichtigt. Die öffentliche Thematisierung der Frage des „Leidens" in Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung erscheint vielen Behindertenrechtlern angesichts der zunehmenden Ausweitung gentechnischer Forschung und der damit verbundenen Infragestellung des Lebenswertes und Lebensrechtes behinderter Menschen jedoch äußerst brisant. Swantje Köbsell schreibt über
die Ambivalenz der öffentlichen Diskussion des Leidensaspektes: „Es
bleibt das Unbehagen damit wieder denjenigen den Ball zuzuspielen,
die schon immer zu wissen glaubten, dass Behinderung vor allem Leid
bedeutet und deshalb auf jeden Fall verhindert werden muss - und sei
es durch Verhinderung der Leidenden, z.B. durch Pränataldiagnostik
und selektive Abtreibung." (Köbsell/Strahl 2003, 125).
Shakespeare und Watson, zwei bekannte Kritiker des sozialen Modells, halten dagegen die Thematisierung körperlicher Aspekte für
zwingend notwendig. Neben der Forderung nach Berücksichtigung
des Körpers führen die beiden Autoren weitere identitätsbildende
Merkmale wie Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung
und Familienstand an, die aus ihrer Sicht in das soziale Modell eingearbeitet werden sollten, um die individuellen Erfahrungen behinderter
Menschen in wichtigen Lebensbereichen angemessen zu würdigen.
(Shakespeare/Watson 2002).
Grundlegende Kritik am rein sozialen Modell findet sich auch bei
Waldschmidt, die bemängelt, dass beide Modelle - sowohl das medizinische als auch das soziale - Behinderung als „Problem" wahrnähmen, das zu beseitigen sei und nicht als „kulturell spezifische Problematisierungsweise von Differenzen, die an den Körper geheftet sind"
(Waldschmidt 2004). Um die Komplexität der Kategorie Behinderung
und deren Relevanz für die Gesellschaft erfassen zu können, hält sie
ein drittes, ein „kulturelles Modell" für erforderlich (ebd. 2004), das in
diesem Band ausführlich von ihr dargestellt wird.
Weitere Kontroversen bestehen in den Fragen, wer überhaupt Disability Studies Forschung durchführen sollte, was partizipative Forschung
bedeutet und welche Methoden und Forschungsansätze zur Durchführung emanzipatorischer / partizipatorischer Forschung geeignet sind
(Oliver/Barton 2000).
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Entwicklungen in Deutschland
In Deutschland ist das soziale Modell von Behinderung sowohl in der
Behindertenbewegung als auch in der Wissenschaft seit über 30 Jahren bekannt (Cloerkes 1986, sogar Bleidick 1999). „Das medizinische
Modell von Behinderung", so Degener, „wird heute fast einhellig von
Sonderund
Heilpädagog/inn/en,
Rehabilitationswissenschaftler/inne/n und Behindertenpädagog/inn/en abgelehnt. Allerdings hat
sich daraus bisher nur wenig neues Wissen über behinderte Menschen
als unterdrückte Minderheit entwickelt" (Degener 2003, 24ff). Als
Grund für den fehlenden Perspektivenwechsel in der Wissenschaft
sieht Christoph Mürner die Tatsache, dass sich bisher nur wenige Vertreter/innen der Sonderwissenschaften durch die Thesen und Forderungen der Behindertenbewegung in ihrer selbst gestellten Aufgabe
der Stellvertretung und damit in ihren Grundfesten erschüttern ließen
(Mürner/Schriber 1993). Nach wie vor werden behinderte Menschen
als zu beforschende Objekte der Wissenschaft, statt als aktiv Mitwirkende betrachtet, deren Perspektiven zum Mittelpunkt von Forschung
gemacht werden. Voraussetzung für die Schaffung von gesellschaftlicher Teilhabe für behinderte Menschen ist jedoch, dass Wissen darüber existiert, welche gesellschaftlichen Prozesse behinderte Menschen selbst als ausgrenzend erleben und welche Bedingungen sie aus
ihrer Perspektive benötigen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben
führen zu können.
Der Diskussionsprozess um Disability Studies in Deutschland begann
mit den beiden Tagungen „Der (im)perfekte Mensch" (2001) und
„PhantomSchmerz" (2002), die vom Deutschen Hygiene-Museum, der
Aktion Mensch und der Humboldt-Universität Berlin in Dresden und
Berlin veranstaltet wurden. Auf der Tagung in Dresden entstand die
Idee eines bundesweiten Zusammenschlusses, die im April 2002 mit
der Gründung der Arbeitsgemeinschaft „Disability Studies in
Deutschland: Wir forschen selbst!" realisiert wurde. Im Rahmen dieses Zusammenschlusses sollen in Deutschland die Bemühungen um
die Einführung von Disability Studies vernetzt und ein Austausch unter Interessierten unterstützt werden. Im Juli 2003 fand in Bremen unter dem Motto „Disability Studies in Deutschland - Behinderung neu
denken!" eine 14-tägige Sommeruniversität mit über 70 Veranstaltun-
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gen statt. Diese Großveranstaltung bot die Möglichkeit des Austausches auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene über Forschungsansätze, -projekte und -ergebnisse und machte diese einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich. Aufbauend auf die Erfahrungen der
Sommeruni in Bremen führte das Bildungs- und Forschungsinstitut
zum selbstbestimmten Leben Behinderter - bifos e.V. - eine einjährige bundesweite Aufklärungskampagne zu Disability Studies in Form
einer Webseite und Ringvorlesungen an Universitäten durch. Mittlerweile werden im deutschen Sprachraum an verschiedenen
Universitäten und Fachhochschulen einzelne Lehrveranstaltungen zu
unterschiedlichen Themenbereichen der Disability Studies angeboten
und in diesem Jahr wurde an der Universität Köln die erste deutsche
Forschungsstelle zu Disability Studies eingerichtet.
Fragen an die Disability Studies in Deutschland
Die Geburt der späten Stunde der Disability Studies in Deutschland
bietet heimischen Wissenschaftler/inne/n die Chance, das soziale Modell von Behinderung nicht unreflektiert zu übernehmen, sondern auf
die oben dargestellten Kritikpunkte und Erfahrungen aus anderen
Ländern zurückgreifen zu können, aus diesen zu lernen und eigene
Konzepte für Forschung und Lehre zu entwickeln - eine Chance, die
unbedingt genutzt werden sollte. Für Deutschland stellt sich unter anderem die Frage wo im akademischen Feld eine Ansiedlung von Disability Studies sinnvoll ist. Sollen Disability Studies eine neue, zusätzliche Disziplin an Hochschulen werden, die sich interdisziplinär mit
Behinderung beschäftigt oder sollen sie in allen Fachbereichen ihren
Platz finden? Beide Modelle sind bereits in anderen Ländern zu finden. Für den deutschsprachigen Raum wird der Ansatz befürwortet,
dass Disability Studies nicht zum Ziel haben sollten, „[...] eine bestehende Disziplin zu ersetzen, sondern etwas neues hinzuzufügen"
(Renggli 2004, 21/22). In diesem Sinne sollte der interdisziplinäre
Forschungsansatz nach Auffassung von Degener (2003) an allen Fakultäten bzw. Fachbereichen von Hochschulen implementiert werden.
Folglich wären die Disability Studies dann in allen Disziplinen, so
auch in den klassischen Behindertendomänen wie der Heil- und Sonderpädagogik oder den Rehabilitationswissenschaften zu finden. Darüber hinaus schlägt sie vor, eigene Disability Studies Forschungs- und
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Bildungsinstitute der Behindertenbewegung zu betreiben. Mit dieser
Idee ist die Erwartung verbunden, dass sich eine eigene deutsche Disability Studies-Kultur entwickelt und die Disability Studies immer
auch eng mit der Behindertenbewegung verknüpft werden können
(Degener 2003).
Sichergestellt werden sollte durch Disability Studies Forscher/innen
vor allem, dass jene Fragestellungen in den Mittelpunkt gerückt werden, die für behinderte Menschen wichtig sind und nicht Themen, die
für Disability Studies Forscher/innen eine intellektuelle Herausforderung oder eine akademische Anerkennung bedeuten. Carol Thomas
stellt fest „Die Disability Studies sind eine junge Disziplin mit einer
ermutigenden Wachstumsrate. Dabei darf nicht vergessen gehen, dass
ihre Radikalität und Relevanz für Menschen mit einer Behinderung in
unserer Gesellschaft von ihrer Fähigkeit abhängt, ihre enge Verbindung mit und ihr Engagement an den aktuellen politischen Kämpfen
von Menschen mit einer Behinderung aufrecht zu erhalten." (Thomas
2004, 52). Das heißt: Disability Studies werden nur dann wirklich innovativ sein und neue Impulse bringen, wenn ihre Themen eine theoretische und praktische Relevanz für die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe behinderter Menschen haben und Forschungserkenntnisse auch an die Praxis zurückgegeben werden. Damit beide
Beteiligten, Wissenschaft und Praxis, voneinander profitieren können,
darf der Austausch von Ideen und Ergebnissen keine Einbahnstraße
bleiben, wie in der Wissenschaft häufig der Fall - sondern muss in
beide Richtungen verlaufen. So sollen einerseits die Erfahrungen und
das Wissen behinderter Menschen bei der Erarbeitung neuer Fragestellungen und in der Umsetzung von Forschung Berücksichtigung
finden und Wissenschaft bereichern. Gleichzeitig sollte die akademische Forschung neue Impulse für die Analyse und Auseinandersetzungen der Behindertenbewegung geben, neue Zugänge zu bedarfsgerechter Veränderung gesellschaftlicher Problemstellungen ermöglichen und ihre Erkenntnisse an die Behindertenbewegung weiter geben. Die Frage, wie die Einbeziehung behinderter Menschen in Forschung gestaltet und die Rückkoppelung der Ergebnisse realisiert
werden kann, lässt sich hier nicht abschließend beantworten, jedoch
geben internationale Erfahrungen Hinweise auf Lösungsansätze.
Demnach fühlt sich ein großer Teil der Wissenschaftler/innen, deren
Arbeiten den Disability Studies zugeordnet werden können, der Be-
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hindertenbewegung zugehörig und hat somit engen Kontakt zu den
Fragestellungen und Erfordernissen der Praxis. Laut Waldschmidt
wird es in Zukunft darum gehen, „...diese enge Beziehung im Sinne
von Wechselwirkungen' produktiv zu nutzen" (Kobinet-Nachrichten
14.7.2003). Je enger also ein Wissenschaftler mit der Behindertenbewegung verbunden ist, desto eher scheint ein wechselseitiger Austausch möglich.
Neue Erkenntnisse durch Disability Studies
Die Bevölkerung der Industriestaaten wird zunehmend älter und somit
steigt die Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen, eine Behinderung zu
erwerben oder pflegeabhängig zu werden (Tervooren 2002, 1). Aufgrund dieser Entwicklung wird das Phänomen Behinderung künftig zu
einer universellen Erfahrung in unserer Gesellschaft und immer stärker in das öffentliche Interesse rücken. Fragen nach dem Umgang mit
Behinderung, nach gesellschaftlichen Normen und Werten müssen
perspektivisch neu gestellt werden, um zu verhindern, dass ein großer
Teil der Bevölkerung an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wird.
Aufgabe der Disability Studies in dieser Diskussion ist es, an der Entwicklung veränderter Nonnen, Werte und gesellschaftlichen Bedingungen mitzuwirken und aufzuzeigen, dass Behinderung ein zentraler
Bestandteil von Gesellschaft ist und die Differenz von Menschen uns
alle bereichert.
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