Georg-August-Universität Göttingen Psychosomatik und Psychotherapie Psychosomatische Aspekte des Diabetes mellitus Modul 4.3 - SS 2006 Erkrankungen der Verdauungsorgane, des endokrinen Systems und des Stoffwechsels U. Buss Übersicht - Lernziele 1. Diabetes = chronische Erkrankung 2. Selbstmanagement / Empowerment 3. Wahrnehmungstraining 4. Psychische Komorbidität 5. Zusammenfassung & Folgerungen Diabetes: häufig ?? in der BRD ca. 4 Mill. bzw. 5 % der Bevölkerung ca. 90 % Typ 2-Diabetiker + ca. 5 % Typ 1-Diabetiker weltweit: 124 Millionen Menschen ( 97% Typ 2) WHO-Berechnung: im Jahre 2025 Anstieg auf 300 Millionen !! Diabetes mellitus Behandlungsziel: optimale Blutzuckereinstellung über die Zeit (HbA1c < 7%) mit der Vermeidung von diabetischen Komplikationen und der Vermeidung von komplikationsbedingten Gesundheitskosten. Diabetes mellitus Definition: erbliche chronische Stoffwechselstörung, die auf einem absoluten oder relativen Insulinmangel beruht und in deren Folge erst nach längerer Krankheitsdauer Schäden an Blutgefäßen und Nervensystem auftreten. was muss der Diabetiker… Wissen und Fertigkeiten zur Selbstbehandlung u. deren Umsetzung im Alltag erwerben den Diabetes emotional u. kognitiv akzeptieren krankheitsbezogene Anforderungen bewältigen Lebensgewohnheiten verändern, die einer erfolgreichen Selbstbehandlung im Wege stehen erfolgreich mit Krisen, Problemen oder anderen Erkrankungen umgehen, welche das Leben mit dem Diabetes erschweren welche psychische Bedeutung bekommt der Diabetes …? im Lebenskonzept • Einschränkung der Autonomie • Verunsicherung in sozialen Rollen • Wohlbefinden muss „erarbeitet“ werden • Ungewissheit für die Zukunft macht Angst vor • Selbstwertverlust • Abhängigkeit • Beziehungsverlust • Sanktion • körperlichem Verlust (Folgeerkrankungen) Krankheitsverarbeitung „ …ist die Gesamtheit aller Prozesse, um bestehende oder erwartete Belastungen im Zusammenhang mit Krankheit emotional, kognitiv oder aktional aufzufangen, auszugleichen oder zu meistern. Die Krankheits-Verarbeitungs-Modi sind prinzipiell unabhängig von Kriterien des Erfolgs zu definieren“. (Muthny 1988) Krankheitsverarbeitung nach dem bio-psycho-sozialen Modell Erkrankung DIABETES Persönlichkeit des Betroffenen Subjektives Lebensereignis DIABETES Bewältigung Soziales Umfeld Übersicht 1. Diabetes = chronische Erkrankung 2. Selbstmanagement / Empowerment 3. Wahrnehmungstraining 4. Psychische Komorbidität 5. Zusammenfassung & Folgerungen Patientenschulung & Empowerment I • Rolle des Patienten und seine Verantwortlichkeit • von „Compliance“ zu „Adherence“ • Empowerment-Ansatz: Stärkung des Selbstwirksamkeitsgefühls • Zusatzqualifikation für Ärzte: „Diabetologe DDG“ von der deutschen Diabetes Gesellschaft erhält man nur nach Besuch von Fortbildungskursen in Kommunikation und patientenorientierter Gesprächsführung Patientenschulung & Empowerment II Merkmale guter Diabetiker-Schulung: • Patienten kommen freiwillig • initial individuelle Vorstellung + Zielformulierung • Informieren statt Belehren • Lerninhalte vereinbaren statt bestimmen • ergebnisoffene Prozesse fördern statt Ergebnisse unbedingt erreichen zu müssen • Emotionen einbeziehen statt als Störung zu bewerten oder zu ignorieren Selbstmanagement bei Diabetes (Leitlinie – Psychosoziales und Diabetes mellitus / DDG + DKPM) • persönliche Fähigkeiten • gute Arzt-Patienten-Kommunikation • Diabetesspezifisches Wissen • Einstellungen und persönliche Haltungen zum Diabetes • emotionales Wohlbefinden und Motivation zur Selbstfürsorge • soziale Gegebenheiten Übersicht 1. Diabetes = chronische Erkrankung 2. Selbstmanagement / Empowerment 3. Wahrnehmungstraining 4. Psychische Komorbidität 5. Zusammenfassung & Folgerungen Hypoglykämie-Zeichen Wahrnehmungstraining I „Blood Glucose Awareness Training“ (BGAT) • strukturiertes intensives Trainingsprogramm • 8 Doppelstunden • Gruppenkurs (6-8 Teilnehmer) vs. Einzelpersonen • Einbeziehung wichtiger Bezugspersonen • verbessert Hypoglykämie-Wahrnehmung Wahrnehmungstraining II Lerneffekte des BGAT • persönliche Hypo-Warnzeichen früher erkennen • Hypoglykämien vermeiden • richtige Behandlungsentscheidungen treffen • zuverlässige vs. unzuverlässige Symptome unterscheiden • Wirkung von Stimmungen u. Gefühlen auf BZ einschätzen • Beobachtungen des Zusammenwirkens von: Insulin, Nahrung und Sport • persönliche Schlussfolgerungen ziehen Wahrnehmungstraining III Wirksamkeit des BGAT • weniger Ketoazidosen • seltener Hypoglykämien • seltener Autounfälle • weniger Angst • verbesserte Lebensqualität • verbesserte hormonelle Gegenregulation (in einer experimentell induzierten Hypoglykämie) Verhaltensmedizinische Interventionen • zum Bereich: Lebensstilfaktoren - Übergewicht; Essverhalten; körperliche Aktivität - Lebenswandel (Alkohol; Nikotin) • zur Stressreduktion • zur Förderung der Krankheitsbewältigung • zur Verbesserung interpersoneller Probleme Herr M. 31 Jahre ; Typ I Diabetes Diagnosen (ICD 10) • • • • • • • • • depressive Episode , mittelgradig (F 32.1) Panikstörung (F 41.0) DD somatoforme kardiale Fkt.-Störung (F 45.30) Alkoholabusus (F 10.1) Coping-Problematik bei IDDM (Z 73) IDDM (ED 1988) (E 11) arterieller Hypertonus (ED 1999) (I 10) diabetische + hypertensive Retinopathie erektile Dysfunktion Übersicht 1. Diabetes = chronische Erkrankung 2. Selbstmanagement / Empowerment 3. Wahrnehmungstraining 4. Psychische Komorbidität 5. Zusammenfassung & Folgerungen Psychische Komorbidität bei Diabetes • Anpassungsstörungen • Depression • Angststörungen • Essstörungen (Anorexie; Bulimie) • Nikotinabusus • Alkoholabusus …wie macht sich Depression bemerkbar ? durch unspezifische Beschwerden wie… • • • • • • • • • Schwäche erhöhte Ermüdbarkeit Apathie Irritierbarkeit Angst sexuelle Probleme Schlafstörungen Appetitsverlust Gewichtsabnahme Depressions-Symptomatik (ICD-10) • Hauptsymptome: • gedrückte Stimmung • Interessenverlust ; Freudlosigkeit • Antriebsmangel ; erhöhte Ermüdbarkeit • Zusatzsymptome: Konzentrationsstörungen, Selbstwertverlust, Schuldgefühle, Pessimismus, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Suizidalität • häufig auch: Angst, Unruhe, Reizbarkeit Depressions-Prävalenz bei Diabetes Meta-Analyse ; n=20 Studien (Anderson et al. 2001) 40,0% 30,0% 21,7% 20,5% Diabetiker 16,5% 20,0% 11,4% 8,6% 10,0% 6,4% 0,0% Typ I Typ II Depression Gesamt Kontrollgruppe Epidemiologisches zur Depression bei Diabetes • generell bei Diabetikern etwa doppelt so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung • ca. 6 – 27% der Typ-1 + Typ-2 Diabetiker • Frauen sind häufiger betroffen als Männer • Hinweise Depressive Patienten mit höherem Risiko für Typ II- Manifestation • Depressive Diabetiker mit: - weniger Lebensqualität u. Therapiezufriedenheit - schlechterer Stoffwechseleinstellung (HbA1c) - mehr Spätkomplikationen - mehr Kosten Entstehungsfaktoren der Depression beim Diabetiker Verlust der Selbstwirksamkeit bzw. Kontrolle • Konflikt: Verlust von Ressourcen/sozialer Unterstützung Autonomie vs. Abhängigkeit • Depressive Grunderkrankung DEPRESSION Psycho-biologische Disposition auslösende Faktoren Diagnose Insulintherapie Spätkomplikationen Hypoglykämien (modifiziert nach Kruse 2003) Wie kommt der negative Stoffwechseleinfluss der Depression zustande ? „indirekte“ Verhaltenseffekte „direkte“ pathophysiologische Effekte Non-Compliance Hyperaktivierung der HHNR- sozialer Rückzug Achse Æ Kortisolspiegel ↑ körperliche Aktivität ↓ Sympathikotonus ↑ Æ HF ↑ maladaptives Coping Insulinantagonismus (?) Rauchen mangelnde Diabetes-Diät bei KHK: Herzfrequenzvariabilität ↓ proinflammator. Zytokine ↑ Gerinnungsaktivität ↑ Depression- Diagnostik bei Diabetes • nur ca. Hälfte aller Depressiven in „Routineversorgung“ entdeckt (bzw. 50%-70% nicht erkannt) • zentrales „Instrument“: weiterhin Arzt-Patient-Gespräch • bereits einfache Fragen mit guter „Trefferquote“ • Einsatz von kurzen geeigneten Screeningbögen (z.B. HADS) • ab mittelschwerer Symptomatik Fachkollegen/in konsultieren • cave: Suizidalität (z.B. Ketoazidosen; Hypoglykämien) 2 Screeningfragen zur Erkennung depressiver Störungen „ Haben Sie im letzten Monat oft unter Gefühlen von Niedergeschlagenheit, Depressionen oder Hoffnungslosigkeit gelitten? “ „ Haben Sie im letzten Monat oft unter geringem Interesse oder Freudlosigkeit gelitten? “ bei mind. einmal „ja“ : zu > 50% Depression bei zweimal „nein“: zu 96% keine Depression (Whooley u. Simon, 2000) HADS - ein Screening-Fragebogen für körperlich Kranke Therapie: Depression bei Diabetes • Psychosomatische Grundversorgung - Basisbehandlung zur Symptomreduktion - Voraussetzung: keine akute Krise; keine Suizidalität • Psychotherapie - Verhaltenstherapie - interpersonelle Psychotherapie - tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie • Pharmakotherapie - cave:Trizyklika (NW: Gewicht ↑; Hyperglykämie) - SSRI (z.B. Sertralin; Citalopram, Mirtazapin) Psychosomatische Grundversorgung der Depression bei Diabetes • grundsätzlich psychisches Befinden erfragen • Intensität+Bedeutung der Symptomatik einschätzen • Suizidalität beachten • Probleme eingrenzen; Bewältigungsformen suchen • Depressivität / Depression als Krankheit anerkennen • regelmäßige stützende Gespräche bei (leichten) depressiven Reaktionen • bei mittel- bis schwergradiger Symptomatik Psychotherapie + Medikation empfehlen randomisierte kontrollierte Interventions-Studie bei Typ 1; n= 46 begrenzte problem-fokussierte Psychotherapie (im Mittel: 8 Sitzungen) Follow-up 6 Mon.: HbA1c um 0.6% niedriger unter Therapie (p=0.016) Angststörungen bei Diabetes • generell bei Diabetikern nicht wesentlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung • Prävalenz je nach Störung zwischen 2% - 11% • je nach Symptomatik deutlich negative Effekte auf Stoffwechsel + Lebensqualität mit besonderem Bezug zum Diabetes: • „Spritzenphobie“ (spezifische Phobie) • „Hypoglykämieangst“ (Agoraphobie) • Angst vor öffentl. BZ-Messung (soziale Phobie) Übersicht 1. Diabetes = chronische Erkrankung 2. Selbstmanagement / Empowerment 3. Wahrnehmungstraining 4. Psychische Komorbidität 5. Zusammenfassung & Folgerungen Zusammenfassung I • Diabetes erfordert lebenslange psychische Anpassung • hierbei Persönlichkeitsstruktur + soziales Umfeld bedeutsam • Schulungen zur selbstverantwortlichen Behandlung unerlässlich, aber… • diabetesspezifisches Wissen allein nicht hinreichend • systematische Berücksichtigung psychosozialer Faktoren (Hindernisse + Ressourcen) sinnvoll • Screening für psychosoziale Belastungen obligat Zusammenfassung II • Psychische Morbidität mit negativem Einfluss auf Lebensqualität, Selbstmanagement und • last not least: auf Stoffwechselsituation (HbA1c) • Depression als ausgewiesener Risikofaktor und • Indikation zu psychosomatischer Grundversorgung sowie zur Fachpsychotherapie • Zusammenarbeit zwischen: Diabetiker + Hausarzt + Diabetologen + ggf. Psychosomatiker FAZIT • psychosoziale Faktoren essentiell bei Diabetes-Behandlung • Integration psychosozialer Komponenten muss erarbeitet werden Literatur: Psychosoziale Aspekte des Diabetes mellitus • • • • • • • • • • • • • Albus C, Kulzer B, Petrak F, Kruse J, Hirsch S, Herpertz S (2004): Psychosoziales und Diabetes. Diabetes und Stoffwechsel, 13, 77-82 Anderson et al. (2001): The Prevalence of Comorbid Depression in Adults with Diabetes. Diabetes Care, 24, 10691078 Didjurgeit U, Kruse J, Schmitz N, Stückenschneider P, Sawicki PT (2002): A time-limited, problem-orientated psychotherapeutic intervention in Type 1 diabetic patients with complications: a randomized controlled trial. Diabetic Medicine, 19, 814-821 Ismail K, Winkley K, Rabe-Hesketh S (2004): systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials of psychological interventions to improve glycaemic control in patients with type 2 diabetes. 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