Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife Plädoyer für eine materialistische Anthropologie* von Wolfgang Reinhard Der Titel, unter dem ich einige kritische Überlegungen zur aktuellen anthropologischen Methodologie vortragen möchte, bezieht sich auf eine Bemerkung des allzu früh verstorbenen Robert Scribner, der entschieden feststellte, dass sich nicht alles und jedes in einer Kultur symbolisch deuten lasse, sondern oft genug keinen anderen als einen bloßen materiellen und - so füge ich hinzu - trivialen Charakter habe. Vielleicht nicht immer, aber oft genug ist eine Pfeife daher wirklich nur eine Pfeife,1 das heißt ein praktisches Gerät zum Tabakkonsum und sonst nichts. Obwohl Scribner aktuelle anthropologische Verfahren beherrschte und schätzte, ist er mit dieser Bemerkung seinem Ursprung als Sozialhistoriker treu geblieben. Da er offensichtlich auf einen berühmten Text Michel Foucaults von 1973 anspielt,2 dürfen wir durchaus unterstellen, das er nicht nur die selbstverständlich angenommene Symbolik des Rauchgeräts im Auge hatte, sondern nicht minder seinen ebenfalls selbstverständlich behaupteten Charakter als bloßes sprachliches Konstrukt, das nur als Text existiert. Denn Foucault kommentiert in diesem Sinn zwei Bilder des Surrealisten René Magritte (1898-1967), von denen das erste schon 1926 entstanden sein dürfte. Dort tragen penibel genaue Zeichnungen von Pfeifen die paradoxe Unterschrift Ceci n'est pas une pipe / Dies ist keine Pfeife. Magritte griff nicht auf Traumwelten zurück wie andere Surrealisten, sondern verfremdete banale Dinge des Alltags bis zur Groteske, indem er sie zwar technisch perfekt naturalistisch wiedergab, aber durch irreale Zusammenfügung in Frage stellte. Das sollte auf die Dialektik von Abbild und Wirklichkeit hinweisen, das Vertraute unvertraut werden lassen und so ein neues Sehen lehren, dessen Inhalte freilich offen bleiben. Dass Magritte sich in diesem Fall zur Verfremdung einer Unterschrift bediente, gab Foucault Gelegenheit, die Sprachdimension hinzuzufügen oder zumindest auszureizen und die Bilder dadurch noch mehrbödiger zu machen. Er unterstellt, Magritte habe den Entwurf eines Gesamtkalligramms dekonstruiert zu einer Zeichnung, die keine Pfeife, sondern die Zeichnung einer Pfeife ist, und zu einem Satz, der keine Pfeife ist, sondern ein Satz, der sagt, dass dies * Vortrag, gehalten auf der von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Tagung „Anthropologien im Gespräch" in Freiburg, 27.-30. Nov. 2003. 1 Robert W. Scribner, Historical Anthroplogy of Early Modern Europe, in: Ronnie Po-chia Hsia / Robert W. Scribner (Hg.), Problems of the Historical Anthropology of Early Modern Europe, Wiesbaden 1997, 11-34, hier 20. 2 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München 1974, franz. 1973. 1 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard keine Pfeife ist, ein autonomer Text, der sagen will: ich bin nichts als diese Wörter. Der Satz „Dies ist keine Pfeife" war das Einschneiden des Diskurses in die Form der Dinge, meint Foucault? Auf diese Weise werde die Festigkeit des Bildes mit Wörtern ausgehöhlt und zunächst in Unordnung, dann aber in neue Ordnung gebracht. Magritte spiele mit seinen Pfeifen die Gleichartigkeit gegen die Ähnlichkeit der herkömmlichen künstlerischen Mimesis aus, ähnlich wie die seriellen Bilder der späteren Pop Art. Statt um das Wiedererkennen des Sichtbaren soll es um das Sehen dessen gehen, was die vertrauten Gegenstände nicht sehen lassen. Eine Stimme ohne Ort sagt daher: „Nichts von all dem ist eine Pfeife; sondern ein Text, der einen Text simuliert; ein Pfeifenbild, das ein Pfeifenbild simuliert; eine Pfeife (gezeichnet, als ob sie eine Zeichnung wäre), die das Trugbild einer Pfeife ist (gezeichnet in der Art einer Pfeife, die keine Zeichnung sein will). " Dazu dann die Stimme Foucaults: Sieben Diskurse in einer einzigen Aussage. Sie sind aber notwendig, um die Festung niederzureißen, in der die Gleichartigkeit die Gefangene der Ähnlichkeitsbehauptung war.4 Was es hinter der Ähnlichkeit der vertrauten Gegenstände dank Ausspielen der Gleichartigkeit anstelle der Pfeife zu sehen geben könnte, erfahren wir freilich nicht. Und mehr noch als hinter dem surrealistischen Bluff Magrittes ist das reale Rauchgerät hinter den Wortkaskaden Foucaults verschwunden. Damit sind wir bei unserem Problem. Denn es könnte ja sein, dass Scribner sich geirrt hat, dass es um das Verschwinden der Pfeife, das heißt der Realität, auch der historischen Realität, gar nicht schade ist, dass wir sehr viel besser daran tun, uns statt dessen um Texte, Zeichen und deren Bedeutung zu kümmern, weil die Bedeutung von Geschichte ohnehin auf die Geschichte von Bedeutung hinausläuft. Dem möchte ich heute widersprechen. Um wohlfeilen Missverständnissen vorzubeugen und den üblichen Aggressionen den Wind aus den Segeln zu nehmen soll vorab ausdrücklich festgestellt werden, dass ich keineswegs beabsichtige, die methodologischen Errungenschaften der symbolischen Anthropologie und der linguistischen Wende insgesamt in Frage zu stellen - ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig! Ich wende mich nur gegen den daraus abgeleiteten aktuellen Reduktionismus mit seinem wissenschaftsimperialistischen Anspruch auf Deutungshoheit - damit habe ich bereits genug zu tun. Bekanntlich hat die deutsche Geschichtswissenschaft das struktur-funktionalistische Paradigma westlicher Sozialwissenschaften nicht akzeptiert. Man hielt und hält sich hierzulande lieber an Max Webers verstehende Soziologie. Die historische Sozialwissenschaft Bielefelder Art wurde damit zum Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Innovation. Im ersten Band der Bielefelder Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft äußerte sich 1975 der Soziologe Wolf Lepenies programmatisch über Geschichte und Anthropologie. Er ging dabei deutlich 3 4 2 Ebd. 32. Ebd. 45 f. Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife auf Distanz und ließ Historische Anthropologie nur zu als hermeneutisch verstandene histoire des mentalités mit der Aufgabe, z.B. Sexualverhalten durch Rekurs auf Mentalitäten zu erklären.5 Die hermeneutische Welt der deutschen Wissenschaft blieb heil, weil sie energisch heil gehalten wurde! Im Gegenteil, die Ethnologie erlebte ihre Bekehrung zur Hermeneutik. Maßgebend wurde die symbolische Anthropologie nach Victor Turner und vor allem nach Clifford Geertz, dessen Aufsatz Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur (Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture) von 1973, deutsch bezeichnenderweise bei Suhrkamp und erst 1983 veröffentlicht, heute eine Art Manifest der Historischen Anthropologie geworden ist. Es wird darin ein semiotischer, d. h. zeichenwissenschaftlicher Kulturbegriff proklamiert und unter Berufung auf Max Weber Kultur definiert als das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in das der Mensch verstrickt ist. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht (wie die bisherige Ethnologie naturwissenschaftlicher Observanz), sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Das vollbringt sie mit der Technik der dichten Beschreibung, die verschiedene übereinander gelagerte Bedeutungsstrukturen eines beobachteten Phänomens interpretierend herausarbeitet und sich dabei zusätzlich bewusst bleibt, dass unsere Aussage über die Auslegung, die beobachtete Menschen ihrem Tun geben, bereits wieder unsere Auslegung dieser Auslegung ist.6 Die alte, bei Historikern wie Ethnologen verbreitete Vorstellung, man könne sich quasi unter Auslöschung des eigenen Selbst vollständig in eine fremde oder eine vergangene Kultur einfühlen, wird damit wieder einmal als Illusion entlarvt. Auslegung kultureller Phänomene wird für Geertz dadurch möglich, dass Kultur im Sinne seiner semiotischen Definition aus ineinander greifenden Systemen auslegbarer Zeichen oder Symbole besteht, die es zu entschlüsseln gilt. Auch Geertz muss also an der Geschlossenheit von Kulturen festhalten, weil ohne einen überindividuellen Code von Bedeutungen Auslegung überhaupt nicht möglich wäre. Aber diese Kohärenz ist eine bloß relative, der Code ist nicht zwingend, weil Kultur den Charakter eines sozialen Diskurses mit relativ offenem Ausgang hat. Deswegen muss die ethnographische Beschreibung notwendigerweise mikroskopisch sein. Sie lehnt groß angelegte Konzepte wie Kulturen, Prozesse, Epochen keineswegs ab, im Gegenteil, sie weiß, dass ihr Tun ohne solche sinnlos wäre. Aber sie ist gezwungen, sich ihnen von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her zu nähern. Das gut historistische Problem dabei liegt darin, dass sich auf diese Weise gefundene Deutungen nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Es kann also nicht darum 5 Wo//Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinkontakts, in: Geschichte und Gesellschaft 1(1975)325-343. 6 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 2. Aufl., Frankfurt 1991, 9,14f. 3 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard gehen, eine Reihe von Beobachtungen einem beherrschenden, offensichtlich vorher vorhandenen Gesetz unterzuordnen, sondern ungleich bescheidener zu versuchen, einen verständlichen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Deshalb heißt es: Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. 7 Bereits beim Vater des symbolischen Interaktionismus, dem Sozialpsychologen George Herbert Mead, wird Sprache als Symbolsystem gedeutet.8 Daher ist der Ethnologe bei Geertz nicht nur ein Produzent von Texten, sondern seine Symbole deutende Tätigkeit gleicht dem Entziffern eines schwer lesbaren Manuskripts. 9 In seiner berühmten Interpretation eines balinesischen Hahnenkampfes schrieb Geertz 1972: Die Kultur eines Volkes ist ein Ensemble von Texten, die ihrerseits Ensembles sind; der Anthropologe bemüht sich, sie zu lesen, indem er denen über die Schulter schaut, denen sie eigentlich gehören (The culture of a people is an ensemble of texts, themselves ensembles, which the anthropologist strains to read over the shoulders of those to whom they properly belong).10 Geertz billigt übrigens an derselben Stelle dem Funktionalismus neben der symbolischen Interpretation eine legitime Rolle zu und in Dichte Beschreibung operiert er selbst mit der Kategorie Verhalten, wenn er vom Beobachtungsgegenstand spricht.11 Alternative Auffassungen von Historischer Anthropologie bleiben also bei etwas gutem Willen mit der seinigen durchaus vereinbar. Obwohl mit der Deutung von Kultur als Text ein Anknüpfungspunkt für postmodernen Dekonstruktivismus gegeben ist und auch genutzt wurde, mutet den Historiker doch das meiste, was Geertz ausführt, nicht besonders originell an, denn es läuft weithin auf wohlbekannte hermeneutische Grundsätze und Verfahren der älteren Geschichtswissenschaft hinaus. Wir sollten eben nicht vergessen, dass Geertz nicht zur Belehrung von Historikern schreibt, sondern eine Ethnologie in Frage stellen möchte, die sich - vergebens - am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal zu orientieren versuchte. Das änderte aber nichts daran, dass mit der Geertz-Rezeption der Aufschwung der Historischen Anthropologie in Deutschland einsetzte. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wie Soziologie für deutsche Historiker nur in der hermeneutischen Variante Max Webers akzeptabel war, so Anthropologie ebenfalls nur in der hermeneutischen Variante von Clifford Geertz! Der mikroskopische Blick nach Geertz wird von den Mikro- und Alltagshistorikern mit verschobener Perspektive angewandt. Beide bezogen ursprünglich 7 Ebd. 30,37,41. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt 1973 (eng. 1934), 110f., 117f. 9 Geertz 51. 10 Nach Chandra Mukerji / Michael Schudson (Hg.), Rethinking Popular Culture, Berkeley 1993, 269, Ubersetzung und Hervorhebung W. R. 11 Geertz 16. 8 4 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife die Position der Unterschichten, um implizit oder sogar explizit historische Kritik an den damaligen wie den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen einschließlich der aktuellen Geschichtswissenschaft zu üben, aber im Gegensatz zur kritischen Sozialgeschichte früherer Jahre nun nicht mehr vom Standpunkt eines Kollektivs aus, sondern eines einzelnen, quellenmäßig fassbaren Menschen. Es handelte sich um die Wiederentdeckung des handelnden historischen Subjekts durch die deutsche und die amerikanische Linke. Schon 1978 wurde erstaunlicherweise in der D D R von dem Philosophen Lothar Kühne die Unzufriedenheit mit wissenschaftlichen Kollektivsubjekten formuliert: Eine soziale Klasse als gesellschaftliches Subjekt isst, singt und schläft nicht, und selbst zu einer ihr befreundeten Klasse tritt sie nicht in sexuelle Beziehungen.12 Das war die Reaktion auf eine Sozialgeschichte, die quantifizierend arbeitete und sich in erster Linie für anonyme Strukturen und Entwicklungsprozesse interessierte, etwa die viel diskutierte Modernisierung, die in Bielefeld eine so große Rolle spielte. Der Einzelmensch verschwand auf diese Weise aus der Geschichte bzw. war nur als statistische Nummer interessant. Sein Handeln oder Nicht-Handeln, soweit es den Sozialhistoriker interessierte, folgte als Marionette anonymer Kräfte sowieso strukturellen Zwängen und war daher im Einzelfall höchstens als typisches Beispiel von Interesse. Damit ging eine semantische Täuschung einher, die sich daraus ergab, dass die historische Sozialwissenschaft die narrative Struktur und den am bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts orientierten Erzählstil der von ihr entthronten Politikhistoriker teilweise beibehalten hatte. So wie dort „Deutschland" oder „Frankreich" als handelnde Subjekte auftraten, so hier die Klassen und Gruppen oder gar die Gesellschaft als Ganze. Das läuft auf eine Reifizierung historischer Konstrukte hinaus, 13 weil die Sprache uns die Vorstellung unterschiebt, dass diese zu handeln vermögen, was selbstverständlich nicht der Fall ist. Außerdem gelten Große Erzählungen jeder Art nach der hermeneutischen Wende sowieso als unmöglich, so dass Carlo Ginzburg, Natalie Zemon Davis, Robert Darnton und im deutschen Sprachraum Norbert Schindler neben anderen die kleine Erzählung in den Mittelpunkt der historischen Forschung rücken konnten. Die Schnittmenge der methodologischen Errungenschaften der verschiedenen unter Historischer Anthropologie im weiteren Sinn versammelten Richtungen läuft also auf Folgendes hinaus: 1. Am wichtigsten ist m. E. die prinzipielle Uneinheitlichkeit und Diskontinuität, die bereits in der bunten Vielfalt der Richtungen und der Überschneidung der Fachgrenzen zum Ausdruck kommt. Vor allem aber gilt die Geschichte selbst als uneinheitlich und diskontinuierlich. Da Einheit und Einheitlichkeit 12 Nach Albert Schnyder-Burghartz, Liestal 1992, 15. 13 Ebd. 16f. Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700, 5 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard eine fixe Idee der Moderne gewesen ist, kann man ihre Uberwindung guten Gewissens als postmodern bezeichnen, aber nur als Negation, denn die Unterstellung einer neuen Einheitlichkeit der Uneinheitlichkeit wäre ein Widerspruch in sich. Dazu gehören auch die Vorbehalte gegenüber großen Theorien, seien es synchrone Strukturen oder diachrone Prozesse. Man hat nicht nur etwas gegen die Moderne, sondern auch gegen die Modernisierungstheorie. Jede Art von Teleologie wird in Frage gestellt, auch wenn sie ex post unschwer zu konstruieren sein mag. Zwar besteht die Geschichte geradezu aus Interdependenzen ihrer Akteure und Phänomene, aber gerade wegen deren Fülle lassen sich diese nicht holistisch auf eine Ganzheit, eine Kultur oder Epoche und dgl., reduzieren. Kategorien dieser Art bleiben grundsätzlich vorläufig und offen. 2. Dem entspricht die Wiederentdeckung des Subjekts oder besser der Subjekte, und zwar ausdrücklich nicht nur der einzelnen großen, sondern gerade der zahllosen kleinen Subjekte. Darin steckt viel vom humanistischen Pathos der europäischen Linken, was gelegentlich sogar zu einer sozialromantischen Verzeichnung dieser neuen Heldinnen der Geschichte führen mag. Als der Strukturalismus nebst dem Foucault der 60er und 70er Jahre ebenso wie die historische Sozialwissenschaft das Subjekt verschwinden lassen wollte, wurde ihnen von marxistischer Seite mit Recht vorgehalten, dass diejenigen, die von der Kritik des Subjekts sprechen, genau die sind, die sich den Luxus eines Subjekts leisten konnten.,4 Nicht zufällig kehrt beim späten Foucault das Subjekt im doppelten Sinne mit Macht zurück. 3. Aus der Distanz zur abstrakten Großtheorie und der Aufwertung des Subjekts ergibt sich mit Notwendigkeit, dass anonyme Strukturen und unbewusste Prozesse an Erklärungswert verlieren, ja dass das sozialwissenschaftliche Modell der kausalen Erklärung überhaupt in den Hintergrund tritt. Das neu aufgewertete intentionale Handeln der Subjekte, sei es noch so bescheiden, verlangt hermeneutische Verfahren der Interpretation. Die Rückkehr zur modifizierten Hermeneutik darf als drittes Leitprinzip der historisch-anthropologischen Richtungen gelten. Modifiziert ist sie nicht nur durch bewusstes Einbeziehen der weiter bestehenden Fremdheit des auszulegenden Gegenstandes, sondern außerdem durch die Notwendigkeit, neben Texten auch Handlungen auszulegen. Kleine Leute haben uns nur selten Texte über die Intentionen ihres Handelns hinterlassen, wir können sie oft genug nur durch Entzifferung der Logik ihrer Praxis verstehen. Deshalb spielt Pierre Bourdieus Theorie der Praxis (deutsch 1972) eine so große Rolle. Die Aufwertung des gewöhnlichen menschlichen Subjekts mit seinen Aneignungs- und Deutungsaktivitäten bleibt allerdings für die Wissenschaft nicht ohne Folgen. Sie impliziert nämlich eine Legitimation des wissenschaftlich bisher 14 Spivak 1988 nach Roger Bromley / Udo Göttlich / Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies, Limburg 1999, 308. 6 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife weithin als unseriös geltenden argumentum ad hominem.15 Es ist hinfort keineswegs mehr irrelevant, dass Foucault homosexuell war und Derrida Jude ist, sofern damit keine Wertungen verbunden werden. Eigentlich ist sogar eine Rehabilitation des wichtigsten Aneignungsorts von Deutungen durch gewöhnliche Subjekte, des Stammtisches, angesagt. Der maßgebende Philosoph der Hermeneutik Hans Georg Gadamer hat einst das Vorurteil rehabilitiert, aber vermutlich war damit das gepflegte Vorurteil der Vertreter hoher Kultur gemeint. Uns bleibt aber, wenn wir als Anthropologen konsequent sein wollen, gar nichts anderes mehr übrig, als bis zu einem gewissen Grad das ganz gewöhnliche Vorurteil des Stammtischs ernst zu nehmen! Denn es ist von zentraler Bedeutung für die politische Kultur, dass die Stammtische überwiegend alle Politiker für Gauner halten, hingegen mit den lokalen und nationalen Sportstars siegen und leiden. Wir stehen damit vor der für unser Tun zentralen, gewissermaßen meta-anthropologischen Frage, was der Wandel der historischen Kultur durch die Historische Anthropologie historisch zu bedeuten hat. Wenn wir von den Erfahrungen der Subjekte, das heißt aber auch unseren eigenen ausgehen, dann wäre folgende Deutung möglich: Geschichte hat sich stets als Legitimationswissenschaft erwiesen, indem sie das zum jeweiligen politischen und kulturellen Weltbild passende Geschichtsbild produzierte. In diesem Sinn war die historische Sozialwissenschaft eine Legitimationswissenschaft der optimistischen Technokratengesellschaft des großen Aufschwungs. Man glaubte daran, dass sich Gesellschaft machen ließe, und entdeckte daher in der Geschichte ebenfalls die Macher von Gesellschaft, die z.B. den Modernisierungsprozess in Gang gesetzt hatten. Oder man fand, dass es an bestimmten Stellen der deutschen Geschichte falsch gemacht worden sei und es jetzt gelte, es richtig zu machen. Demgegenüber wäre die Historische Anthropologie eine Legitimationswissenschaft der Single-Gesellschaft, die nicht mehr glaubt, dass man etwas machen kann außer das eigene kleine Glück durch geschickte Aneignung der anonymen Vorgaben. Nicht zufällig wurde Michel Foucault so populär, der die anonymen Machtprozesse beschrieben hat, die kein Zentrum mehr haben, das man treffen und schlagen kann. Und der schließlich zur Würde des Subjekts zurückgefunden hat. In diesem Zusammenhang wäre dann die Reduktion der Bedeutung von Geschichte auf die Geschichte von Bedeutung als ein Versuch zu verstehen, die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens mittels historischer Stellvertreterinnen zu bekämpfen, die ihrem Handeln Sinn zu geben wussten: symbolische Sicht aus Sehnsucht nach Sinn! Soweit erscheint die historisch-anthropologische Vorgehensweise nach der hermeneutisch-linguistischen Wende und der Wiederentdeckung des handelnWie sie Lutz Niethammer, Kollektive Identität, Reinbek 2000 für seine „Kronzeugen" durchgeführt hat. 15 7 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard den Subjekts ungeachtet ihrer soeben vorgenommenen historischen Relativierung methodologisch unanfechtbar. Genauer besehen, weist sie aber gefährliche Einseitigkeiten auf, die meine Kritik und meine Forderung nach einer materialistischen Alternative herausgefordert haben. Wenn wir uns weitgehend mit der Interpretation von Praxis statt mit der Auslegung von Texten befassen müssen, spielen Symbole automatisch eine zentrale Rolle, denn oft genug bekommt Praxis nur durch sie intersubjektive Bedeutung. Es ist deshalb sinnvoll, Symbole und symbolisches Verhalten zu einem zentralen Gegenstand der Historischen Anthropologie zu machen. Triviale Routinehandlungen und Rituale können eine bedeutende Rolle zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Weltsicht spielen. Es ist wichtig, nach der Bedeutung der Kleider zu fragen, die Leute tragen, der Speisen, die sie essen, wie sie sich grüßen und gehen, nach ihrer Körperhaltung und ihren Gesten. Schon Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) hat dafür Grundlagen gelegt. Die Schwierigkeit, dass Symbole häufig nicht nur eine Bedeutung haben und keine direkte, repräsentierende Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem vorliegen muss, mag mit wissenschaftlicher Disziplin gerade noch zu bewältigen sein, obwohl dadurch natürlich interpretatorische Willkür erleichtert wird. Doch wenn die gesamte Kultur auf ein Symbolsystem und ihre Interpretation auf die Deutung von Symbolen reduziert werden soll, wird die Sache wie bei jedem Reduktionismus erstens falsch und zweitens gefährlich. Falsch, weil es im Bereich der materiellen Kultur viele Dinge gibt, die wirklich nur eine praktische Funktion haben - manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Gefährlich, weil auf diese Weise die einst dominierende Geistesgeschichte, die mittels materialistischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf den ihr gebührenden begrenzten Platz verwiesen wurde, als historische Anthropologie maskiert durch die mikrohistorische Hintertür wiederkehren und die Geschichtswissenschaft erneut in ein idealistisch halbiertes, jetzt als Symbolgeschichte drapiertes Unternehmen verwandeln könnte. In Verbindung mit linguistischem Reduktionismus scheint mir dergleichen bereits Wirklichkeit zu werden, mit der fatalen Folge einer verstärkten Abschottung gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaft vom Menschen. Sprach- und Literaturwissenschaft haben uns zwar zu Recht daran erinnert, dass erstens auch Geschichtsschreibung den Regeln sprachlicher Artefakte unterliegt, und dass zweitens unser Wissen von Geschichte selten unmittelbaren Charakter hat, sondern stets durch Texte im weiteren Sinn vermittelt ist. Ubertrieben formuliert, wissen wir nichts über Geschichte, sondern nur etwas über Texte, die von Geschichte handeln, und produzieren keine Untersuchungen über historische Wahrheit, sondern nur neue Texte über andere Texte. Wiederbelebung der Geschichtsdarstellung als Kunstwerk und radikale Verschärfung unseres textkritischen Bewusstseins sind unzweifelhaft erfreuliche Errungenschaften. 8 Saeculum 5 6 / 1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife Ebenso unzweifelhaft besteht aber die Gefahr, dass in einer auf Text(e) reduzierten Welt die Geschichte als Wissenschaft dekonstruktivistischer Beliebigkeit zum Opfer fällt. Schon vor Jahren hat Michael Maurer detailliert nachgewiesen, wie die angebliche Strenge mikrohistorischer Interpretation bei führenden Vertreterinnen dieser Richtung auf extrem willkürlichen Umgang mit den Quellen und streckenweise auf schlichte Erfindung von guten Stories hinausläuft, die mittels raffinierter literarischer Strategien gegen Kritik immunisiert werden. 16 Ausgesprochen erfrischend wirkt die jüngste Polemik von Egon Flaig, die zeigt, wie Hayden White mit der Vorstellung, dass Fakten nur sprachliche Existenz haben, am harten Faktum der Schoah gescheitert ist. Anschließend stellt Derridas hermeneutische Kunststücke zur Rechtfertigung seines antisemitischen Freundes De Man bloß - man könnte noch den Umgang mit dem verehrten Heidegger hinzufügen. Es ist zwar nicht nur für Flaig nichts Neues, dass Historiker keinen unmittelbaren Zugriff auf die Vergangenheit haben, sondern sie immer für sich konstruieren müssen. Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte - im doppelten Sinn des Wortes. Denn diese Konstruktion erfolgt nicht beliebig, sondern nach strengen Regeln und mit der strengsten Kontrolle, die es gibt, dem Vetorecht der Quellen, das nicht nur in der professionellen Gewissenhaftigkeit des Historikers begründet ist, sondern vor allem darin, dass ihre Auswertung unter den neidischen Augen der Kollegen erfolgen muss. Die elementarste Formaldefinition von Wissenschaft lautet bekanntlich: Wissenschaft stellt nachprüfbare Aussagen auf. Wo Aussagen beliebig werden, endet die Wissenschaft. Auch der Sprachgebrauch unterliegt sozialen Regeln, die spätestens seit Berger / Luckmann (1975) und Bourdieu (1991) ebenfalls bekannt sind. Nicht die Diskurse bringen die Geschichte hervor, sondern die Geschichte die Diskurse. Die Vertreter der entgegengesetzten Auffassung enden laut Flaig ebendort, wo ich soeben die symbolistischen Reduktionisten landen sah: Sie sind in die alte Geistesgeschichte zurückgefallen, verwenden aber ein Vokabular, welches diesen Rückfall verdeckt.17 Drei Beispiele sollen zeigen, wohin symbolistisch und dekonstruktivistisch legitimierte Deutungshoheit führen kann. Das erste entstammt einem erfolgreichen und insgesamt untadeligen Buch eines angesehenen und an und für sich auch von mir hochgeschätzten Mikrohistorikers. Es geht in dieser kleinen Geschichte um die Entdeckung einer sorgfältig versteckten Wildererausrüstung durch die zuständigen Behörden. Dabei erweist sich aber der Fund einer Perruque mit einer geistlichen Krone für die Interpretation als ausgesprochen sperrig. Zwar gehörten Perücken durchaus zur Standardausrüstung jener Wilderer, 16 Michael Maurer, Geschichte und Geschichten, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42(1991)674-691. 17 Egon Flaig, Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal 18(1999)458-476, hier 472. 9 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard aber was sollte dabei eine geistliche Krone? Mag sie nun aus den Sternsingerrequisiten der Pfarrkirche stammen oder eher selbst gebastelt sein, der Sinn dieses Symbols lässt sich für unseren Autor leicht entziffern: Die Idee, die Perücke mit einer geistlichen Krone aus Pappe zu zieren, ergab sich aus dem ungemein populären Erscheinungsbild der Heiligen drei Könige nahezu von selbst. Wie die Herren von eigenen Gnaden, jedenfalls aber mit demselben Recht wie sie begaben sich die Bauern auf die ihnen verbotene Wildbahn. Und dennoch war ihnen die „gekrönte" Selbsterhöhung, das Gleichziehen mit den Herrschaftsrechten der Grossen nicht das Wichtigste. Wer die bäuerliche Mentalität und ihre theatralischen Affinitäten auch nur ein wenig kennt, wird sogleich vermuten, dass die imaginäre Selbstkrönung gleichsam spielerisch die höhere Wahrheit des biblischen Geschehens herbeizitierte und sich auf diese gekonnt inszenierte Art und Weise spöttisch gegen höhere Machtansprüche richtete. Die drei Könige ... huldigten bekanntlich einem König, der für die Machthaber des römischen Imperiums umso gefährlicher war, als sein Reich nicht von dieser Welt zu sein beanspruchte. Die seit dem Spätmittelalter bezeugten Sternsinger-Bräuche erinnerten an dieses Ereignis und stellten es zugleich in der Verkehrten Welt"-Tradition auf den Kopf, indem sich die Armen die Krone auf den Kopf setzten... Mit dieser populären Aneignung eines wuchtigen religiösen Bildes spielte die bäuerliche Travestie nun ihr Augurenspiel. Wo immer die aus der Ferne kommende Krone auftauchte, da folgte sie dem Stern und kündigte den realen Machthabem das nahe Ende ihrer Herrschaft an.18 In der Tat stand die Französische Revolution vor der Tür. Aber die geistliche Krone hatte dennoch keinerlei tiefsinnige symbolische Bedeutung, sondern nur eine rein praktische, denn es handelt sich einfach um die Ubersetzung eines Terminus technicus der Kirche: Corona clericalis, im Klartext Tonsur. Unser Wilderer hatte also nicht mehr im Sinn, als sich mit dieser Perücke als Geistlicher zu maskieren - manchmal war eine Perücke nichts als eine Perücke! Hier geht es immerhin noch um mikrohistorische Quelleninterpretation, die sich an der Quelle überprüfen und falsifizieren lässt. Entsprechende makrohistorische Bedeutungsentwürfe, die dazu noch schwer mit Literaturnachweisen gepanzert sind, auch wenn deren Autoren möglicherweise mit dieser Verwendung gar nicht einverstanden wären, lassen sich nicht mehr durch solche Überprüfung widerlegen. Entweder man glaubt daran oder nicht - oder man verlangt Beweise für die zugeschriebene Bedeutung und lässt sie daran scheitern. So im Falle eines wissenschaftlichen Manuskripts, nach dem diverse gesellschaftliche Bereiche der nordniederländischen Republik in der Mitte des 17. Jahrhunderts von einem ozeanischen Gefühl geprägt gewesen sein sollen. Die Arbeit will mit Komplexitätsreduktion arbeiten, vom Einzelfall abstrahieren und versuchen, den kultursemiotischen Sachverhalt generalisierend und vereinfachend darzustellen. Dabei kann sie in den divergierendsten Kontexten ganz ähnliche Strategien der Perzeption erkennen, wie sie mit der Konstitution männlichen Selbstverständnisses einhergehen. Das führt zu Feststellungen wie der folgenden: 18 Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 13 f. 10 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife Ausdehnung ist das Äquivalent der männlichen Fantasie für Ejakulation.19 Ich möchte bezweifeln, dass selbst Psychoanalytiker jemals dergleichen behauptet haben. Doch wie dem auch sei, die Forderung nach einem Beweis erledigt diese Deutung auf der Stelle - wie manche andere auch. Dieses Mal bleibt nicht einmal eine wirkliche Pfeife als Rest übrig. Das kann allerdings schwierig werden, wo politisches Interesse Deutung immunisiert und Deutungshoheit legitimiert. So jüngst in der Fotoausstellung eines berühmten Berliner Museums, die demonstrieren wollte, dass der Skulpturenschmuck romanischer Kirchen, insbesondere an den Kapitellen der Säulen und Pfeiler, grossenteils eine gezielte Diffamierung des Islam und der Moslems darstelle. Selbstverständlich gibt es Bildwerke, bei denen diese Absicht zu erkennen ist. Aber worin besteht der angeblich feindliche Charakter der neutralen Darstellung eines Kamelreiters? Vor allem bleibt der Autor den Nachweis für seine zentrale Behauptung schuldig, die unzähligen Darstellungen von fantastischen Obszönitäten, die Kunsthistoriker schon lange fasziniert haben, seien gegen wirkliche oder angebliche sexuelle Praktiken der Moslems gerichtet. Weiter meint er, ein Harfe spielender Esel sei eine Verhöhnung König Davids. Doch selbst, wenn das zuträfe, wäre der Hohn doch wohl eher gegen die Juden als gegen die Moslems gerichtet. In Wirklichkeit handelt es sich aber nur um ein altes Fabelmotiv.20 Als Zwischenergebnis wäre also erstens auf die nicht ganz neue Regel zu verweisen, dass besonders weitreichende Deutungen nach den bisher gültigen Spielregeln der Wissenschaft auch besonders gründliche und das heißt vor allem nachprüfbare Nachweise brauchen. Zweitens sollte der ebenfalls nicht besonders revolutionäre Grundsatz gelten, vor dem Abheben zu den spirituellen Höhenflügen symbolischer Bedeutungssuche erst einmal nach näherliegenden materiellen Erklärungen Ausschau zu halten, auch wenn diese in ihrer Trivialität den Bedeutungshistorikerinnen kaum ein Nasenrümpfen wert sein mögen. Obwohl diese die elaborierte Symbolwelt der sogenannten hohen Kultur eher vernachlässigen und sich sehr bewusst in der mentalen Welt sogenannter gewöhnlicher Menschen tummeln, läuft ihr Vorgehen paradoxerweise ebenfalls auf streng exklusive Beschäftigung mit der Res cogitans hinaus, die sich auch in ihrer Dünkelhaftigkeit kaum von der einstigen Geistesgeschichte unterscheidet. Sollte der Hauptunterschied darin bestehen, dass die alte geistesgeschichtliche Interpretation an Texte gebunden war und damit wenigstens einigermaßen falsifizier19 Manuskript Die Eroberung des Horizonts. Utopie und Praxis des Ozeanischen in den Niederlanden Mitte des 17. Jahrhunderts, das mir ohne Autorennachweis zur Begutachtung für die Zeitschrift Saeculum vorlag. Dem Vernehmen nach ist die Verfasserin eine Philosophin aus Berlin. Es wurde abgelehnt. Claudio Lange, Islam in Kathedralen - Bilder des Antichristen in Kathedralen (Fotoausstellung im Museum für Islamische Kunst, Berlin, Sommer 2003), inzwischen veröffentlicht: Claudio Lange, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst, hg. Almuth Sh. Bruckstein, Berlin 2004. 20 Saeculum 5 6 / 1 (2005) 11 Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard bar blieb, während das praxeologische Verfahren der sogenannten Entzifferung der Bedeutung von Alltagshandeln beliebiger Interpretation durch die Inhaberinnen der Deutungshoheit Tür und Tor öffnet? Hat nicht Natalie Zemon Davis ausdrücklich erklärt, sie wolle darstellen, was historisch möglich gewesen sei? Seit Aristoteles aber ist der Bereich des Möglichen die Spielwiese der Poesie, während Geschichte es mit dem Wirklichen zu tun hat. Ich schlage vor, bei dieser Unterscheidung zu bleiben und weiter darauf zu bestehen, dass es historische Wirklichkeit gibt und dass diese nicht auf Bedeutungen beschränkt werden darf, die Menschen der Vergangenheit wirklich oder angeblich ihrer Welt gegeben haben. Im Gegenteil, ich meine gezeigt zu haben, dass fehlende Berücksichtigung der Trivialbereiche des materiellen Lebens notwendigerweise in die Irre führen muss und daher schon rein epistemologisch nicht vertretbar ist. Wir müssen z. B. zunächst wissen, unter welchen realen materiellen Bedingungen die Menschen sich ernährt und reproduziert haben, bevor wir ihre Tischkultur, ihre sexuellen Sitten und ihre Familienorganisation einer symbolischen Deutung unterwerfen und den möglichen Rückwirkungen dieser Symbolik auf jene materielle Welt nachgehen können. Darüber hinaus sollte nicht nur in der Methode, sondern auch in der Sache das Ende des abendländischen Dualismus von Geist und Stoff längst zur Binsenweisheit geworden sein. Wir wussten zwar schon immer, dass Menschen keine reinen Geistwesen sind, aber dass die dualistische Trennung von Fleisch und Geist eine anmaßende Behauptung unseres Gehirns darstellt, dass wir statt dessen ein untrennbares Ganzes und in gewisser Hinsicht ganz Körper sind, ist eine Erkenntnis, die anthropologisch erst noch berücksichtigt werden muss. Auch die bio-philosophische Perspektive bleibt m.E. in erster Linie philosophisch und bedient sich beliebig ausgewählter biologischer Versatzstücke für ihre philosophische Argumentation. Ich plädiere daher aus methodologischen wie anthropologischen Gründen für eine ganzheitliche Anthropologie mit energischer Berücksichtigung der materiellen Dimension des menschlichen Lebens. Im Einklang mit einer Tradition, die bis auf Herodot zurückgeht und in Aufklärungshistorikern wie Voltaire einen Gipfelpunkt ereicht hat, möchte ich zu diesem Zweck die Kategorie Sitte in den Mittelpunkt stellen, verstanden als kulturell geregeltes menschliches Verhalten, das sich beobachten oder quellenmäßig nachweisen lässt. Hier ist für die materielle Basis ebenso Platz wie für den symbolischen Uberbau und für komplizierte Interaktionsprozesse von beiden. Auf der Grundlage dieser binnenhistorischen Zwischenbilanz lässt sich schließlich ein weiterer Kritikpunkt angehen, das Verhältnis oder, genauer gesagt, das Nicht-Verhältnis von Historischer und Biologischer Anthropologie. Allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz scheint auch für die Historische Anthropologie mehr denn je die alte Formel des Anglisten C. P. Snow zu gelten, der 1959 von den zwei Kulturen schrieb, die nichts mehr miteinander zu 12 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife tun haben, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen, obwohl aus heutiger Sicht Natur und Geist längst nicht mehr reinlich zu trennen sind. Nichtsdestoweniger wird biologische Anthropologie in den maßgebenden Einführungen und Zeitschriften der Historischen Anthropologie nicht einmal erwähnt. Das ist kein Zufall. Es hat methodologische, kulturelle und politische Gründe. Hinsichtlich der Methodologie sollte bereits deutlich geworden sein, dass es paradoxerweise gerade die modernsten Richtungen wie symbolistische Hermeneutik und Dekonstruktivismus sind, die dem alten Geist in neuer Gestalt wieder zur Herrschaft verholfen und den Graben zwischen den beiden Kulturen weiter vertieft haben. Angeblich haben viele jüngere Naturwissenschaftler seit der Affäre Sokal die Geisteswissenschaftler als hoffnungslose Fälle abgeschrieben. Der Physiker Sokal hatte einen mit dekonstruktivistischen Autoritäten schwer gepanzerten Aufsatz geschrieben, in dem er die kulturell-sprachliche Begründung eines Teiles der Physik zu beweisen vorgab, und denselben in einer angesehenen Zeitschrift postmoderner geisteswissenschaftlicher Observanz anstandslos gedruckt bekommen - nur um das dekonstruktivistische Wortgeklingel hinterher erbarmungslos als Ulk bloßzustellen. 21 Was wir vor uns haben, ist eine sich m. E. zunehmend verschärfende gegenseitige Abschottung mittels reduktionistischer Theorien, allem Geschwätz von Transdisziplinarität zum Trotz. Zwar würden heute Biologen wie Geisteswissenschaftler sofort dem Satz zustimmen, dass es die Natur des Menschen sei, Kulturwesen zu sein, anders gewendet, dass menschliche Natur nur als Kultur vorkommt. Sie ziehen aber entgegengesetzte Schlussfolgerungen daraus, von denen die eine so reduktionistisch ist wie die andere. Für den biologischen Reduktionismus läuft das Ganze darauf hinaus, dass die Grundlagen aller Kulturphänomene biologisch zu erklären sind oder in Zukunft zu erklären sein werden - platt und verkürzt: Johann Sebastian Bach aus seinen Genen. Eine besondere Rolle hat dabei die Soziobiologie gespielt, nach der das Verhalten des Individuums maßgebend vom Ziel bestimmt ist, den Reproduktionserfolg der eigenen Gene zu optimieren. Deswegen lohne sich z.B. Selbstlosigkeit gegenüber Verwandten und erkläre sich auf diese Weise. 22 Für den geisteswissenschaftlichen Reduktionismus hingegen bedeutet es, dass die Kultur die Natur völlig aufgesaugt hat und ohne irgendwelche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erklärt werden kann. In der Empirie kommt es allerdings gelegentlich zu Pannen. So berichtet ein Ethnologe, wie er dem Fehlen von Brustwarzen bei Mitgliedern einer afrikanischen Gruppe in Kamerun mit Alan D. Sokal / Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München 1999. 22 Dagegen Holmes Rolston, Genes, Genesis and God. Values and their Origins in Natural and Human History, Cambridge 1999; Steven Rose, Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, München 2000. 21 13 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard der üblichen symbolischen Deutung beizukommen versuchte und sich auf die Suche nach einer rituellen Amputation machte, bis ihm aufging, dass es sich schlicht um einen ererbten genetischen Defekt handelte. 23 Freilich erweisen sich wissenschaftliche Paradigmata nicht selten als immun gegen derartige empirische Falsifizierung! Die Biologie hat es leicht. Sie ist in Expansion begriffen und hat als Zukunftswissenschaft des 21. Jahrhunderts nichts zu verlieren. Die historischen Anthropologen hingegen sind als Kulturwissenschaftler in der Defensive und fühlen sich bedroht, was zu irrationalen und bisweilen hysterischen Reaktionen führt. Die Geisteswissenschaftler haben immerhin nolens volens die jüdisch-christliche Doppelexistenz von Geistseele und Leib zu verteidigen, den Inbegriff abendländischer Kultur, den Descartes' Unterscheidung von Res cogitans und Res extensa für die westliche Wissenschaft konserviert hat. Geistige Güter können durch eine angebliche materielle Dimension nur beschmutzt werden. Selbst der marxistische Materialismus war daher kein unmittelbarer, sondern ein dialektischer! Dazu kommt die nahe liegende politische Immunisierung wie gerufen. Die Gräuel des nationalsozialistischen Rassismus und die aktuellen Probleme des US-amerikanischen und postkolonialen Rassismus führen zu einem wissenschaftlich fatalen Zwang zur Political Correctness. Weil die biologische Anthropologie als Rassenlehre grausam missbraucht wurde, darf es keine Rassenkunde mehr geben, und der Einfachheit halber gleich gar keine Rassen mehr. Gerne wird darauf hingewiesen, dass die genetische Ausstattung der verschiedenen Menschengruppen fast restlos identisch sei. Aber unser Erbgut stimmt auch zu 98,8 % mit dem des Schimpansen überein und selbst dem Regenwurm stehen wir in dieser Hinsicht sehr nahe. Nicht, ob es Rassen und sogar Unterschiede zwischen ihnen gibt, ist das wirkliche politische Problem, sondern ob solche Unterschiede bewertet und zur Diskriminierung von anderen Menschen eingesetzt werden. Die biologische vergleichende Verhaltensforschung lehrt uns auch, dass die Evolution bei sozial lebenden Arten Gruppensolidarität zwischen Blutsverwandten und Adoptierten hervorgebracht hat, die mit mehr oder weniger ausgeprägter Abneigung gegen Fremde einherzugehen pflegt, aber nicht automatisch in Aggression umschlagen muss. Ein Ethnologe hat dazu geschrieben: Es gehört zu den deprimierendsten Seiteh des Ethnologenberufs, entdecken zu müssen, dass fast alle Volksgruppen ihre unmittelbaren Nachbarn hassen, fürchten und verachten.24 Das historische Problem besteht darin, ob der Mensch als Kulturwesen seine natürliche Xenophobie kulturell zum Atomkrieg weiterentwickelt oder als Herausforderung zu ihrer Bändigung durch humane Verhal23 24 Nigel Barley, Die Raupenplage. Von einem, der auszog, Ethnologie zu betreiben, Stuttgart 1989. Ebd. 89. 14 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Manchmal ist eine Pfeife wirklieb nur eine Pfeife tensstandards versteht. Die Biologie lässt uns als optimale Lösung eine Mischstrategie erwarten, den Versuch, überlebensnotwendigen Gruppenegoismus und gemeinmenschliche Solidarität zu kombinieren. 25 Wir sind damit bereits bei Möglichkeiten angekommen, wie Biologische und Historische Anthropologie konkret zusammenwirken könnten. 26 Die Biologische Anthropologie wird heute wie die ganze Biologie von der Genetik dominiert, zu der eine unmittelbare Verbindung seitens der Historischen Anthropologie kaum herzustellen ist. Bereits einfache menschliche Phänomene werden durch Zusammenwirken verschiedener Gene erklärt und menschliches Verhalten durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedenster genetischer Faktoren und Umwelteinflüsse. Deswegen sind ja die Erwartungen und Ängste angesichts der Entzifferung des menschlichen Genoms ziemlich unbegründet! Vielversprechender ist die biologische Untersuchung menschlichen Verhaltens im Vergleich mit verschiedenen Tierarten, insbesondere von Primaten, 27 die allerdings seitens der Historischen Anthropologie auf heftigen Widerstand stößt. Wer als Historiker auf diese sogenannte Humanethologie zurückzugreifen wagt, wird von deutschen Kollegen unverzüglich des kruden Biologismus verdächtigt. Dabei gibt es hier unglaublich spannende Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu entdecken und zu deuten. Die weibliche Partnerwahl erweist sich z.B. auch beim Menschen als ausgesprochen stammesgeschichtlich bedingt, zumindest, solange es sich dabei potentiell noch um Fortpflanzung handelt. Männer mit besonders reichen Ressourcen werden bevorzugt, Verbindungen mit solchen haben die meisten Nachkommen. 28 An der Historischen Anthropologie wäre es nun herauszufinden, welchem Wandel dieser „Ressourcenkorb" in der Geschichte unterlag und warum, und ob dieses Muster durch die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts kulturell überwunden wurde. Man hat die enorme Entwicklung des Gehirns, die den Menschen auszeichnet und zum Kulturwesen macht, lange mit dem Werkzeuggebrauch in Zusammenhang gebracht. Mit einer eigentümlichen Inversion wurde aber auch der Versuch unternommen, die machiavellistische Intelligenz, d. h. die Fähigkeit, im sozialen Leben den Anderen im eigenen Interesse zu übervorteilen, dafür verantwortlich zu machen, weil sie sich bei Menschenaffen lange vor jedem Werkzeuggebrauch nachweisen lässt.29 Mohr in Peter Sitte (Hg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie. Die grossen Themen, München 1999, 189 f. 26 August Nitschke (Hg.), Die Bedeutung der Biologie für eine Historische Anthropologie, in: Saeculum 36(1985)3-111. 27 James D. Loy / Calvin B. Peters (Hg.), Understanding Behavior. What Primate Studies Tell Us About Human Behavior, New York 1991. 28 König in Sitte 172. 29 Richard W. Byrne u. a. (Hg.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes, and Humans, Oxford 1988. 25 15 Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM Wolfgang Reinhard Die Hirnforschung weist derzeit ohnehin die spannendste und für die geistbestimmte Menschenwürde im traditionellen kulturellen Verständnis bedrohlichste Entwicklung auf, die aber anscheinend kaum zur Kenntnis genommen wird. Es gibt Experten auf diesem Gebiet, die mit der baldigen Verabschiedung des Leib-Seele-Problems und der Willensfreiheit sowie mit einem neuen Selbstverständnis des Menschen als Folge rechnen. 30 Möglicherweise ist das süd- und ostasiatische Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt damit leichter in Einklang zu bringen als das westliche. Erfreulicherweise gibt es weniger problematische Felder rein praktischer Kooperation zwischen Biologischer und Historischer Anthropologie, etwa das interdisziplinäre Fach der Historischen Demographie. Oder die angewandte Anthropologie im Dienste der Archäologie, und zwar nicht nur der vorgeschichtlichen, sondern auch zur Bestimmung des Gesundheitszustands und der Todesursachen afrikanischer Sklaven, deren Skelette auf alten Friedhöfen der Karibik ausgegraben werden. Oder die statistische Untersuchung des menschlichen Längenwachstums und des veränderten Zeitpunkts der Geschlechtsreife im Kontext der allgemeinen Kulturentwicklung. Auf solchen Feldern sind es oft empirische Befunde der einen Richtung, die neue Erkenntnisse der anderen erst möglich machen, wobei solcher Transfer keineswegs nur von der Natur- zur Kulturwissenschaft stattfindet, sondern ebenso auch in umgekehrter Richtung. Darum mein Plädoyer für eine in diesem Sinn materialistische Anthropologie! 30 16 Singer in Sitte. Saeculum 56/1 (2005) Unauthenticated Download Date | 5/12/16 4:45 AM