Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife

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Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife
Plädoyer für eine materialistische Anthropologie*
von Wolfgang Reinhard
Der Titel, unter dem ich einige kritische Überlegungen zur aktuellen anthropologischen Methodologie vortragen möchte, bezieht sich auf eine Bemerkung
des allzu früh verstorbenen Robert Scribner, der entschieden feststellte, dass sich
nicht alles und jedes in einer Kultur symbolisch deuten lasse, sondern oft genug
keinen anderen als einen bloßen materiellen und - so füge ich hinzu - trivialen
Charakter habe. Vielleicht nicht immer, aber oft genug ist eine Pfeife daher
wirklich nur eine Pfeife,1 das heißt ein praktisches Gerät zum Tabakkonsum
und sonst nichts. Obwohl Scribner aktuelle anthropologische Verfahren beherrschte und schätzte, ist er mit dieser Bemerkung seinem Ursprung als Sozialhistoriker treu geblieben. Da er offensichtlich auf einen berühmten Text Michel
Foucaults von 1973 anspielt,2 dürfen wir durchaus unterstellen, das er nicht nur
die selbstverständlich angenommene Symbolik des Rauchgeräts im Auge hatte,
sondern nicht minder seinen ebenfalls selbstverständlich behaupteten Charakter
als bloßes sprachliches Konstrukt, das nur als Text existiert.
Denn Foucault kommentiert in diesem Sinn zwei Bilder des Surrealisten René
Magritte (1898-1967), von denen das erste schon 1926 entstanden sein dürfte.
Dort tragen penibel genaue Zeichnungen von Pfeifen die paradoxe Unterschrift
Ceci n'est pas une pipe / Dies ist keine Pfeife. Magritte griff nicht auf Traumwelten zurück wie andere Surrealisten, sondern verfremdete banale Dinge des
Alltags bis zur Groteske, indem er sie zwar technisch perfekt naturalistisch wiedergab, aber durch irreale Zusammenfügung in Frage stellte. Das sollte auf die
Dialektik von Abbild und Wirklichkeit hinweisen, das Vertraute unvertraut
werden lassen und so ein neues Sehen lehren, dessen Inhalte freilich offen bleiben. Dass Magritte sich in diesem Fall zur Verfremdung einer Unterschrift bediente, gab Foucault Gelegenheit, die Sprachdimension hinzuzufügen oder zumindest auszureizen und die Bilder dadurch noch mehrbödiger zu machen.
Er unterstellt, Magritte habe den Entwurf eines Gesamtkalligramms dekonstruiert zu einer Zeichnung, die keine Pfeife, sondern die Zeichnung einer Pfeife
ist, und zu einem Satz, der keine Pfeife ist, sondern ein Satz, der sagt, dass dies
* Vortrag, gehalten auf der von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Tagung „Anthropologien im
Gespräch" in Freiburg, 27.-30. Nov. 2003.
1 Robert W. Scribner, Historical Anthroplogy of Early Modern Europe, in: Ronnie Po-chia Hsia /
Robert W. Scribner (Hg.), Problems of the Historical Anthropology of Early Modern Europe, Wiesbaden 1997, 11-34, hier 20.
2 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München 1974, franz. 1973.
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Wolfgang Reinhard
keine Pfeife ist, ein autonomer Text, der sagen will: ich bin nichts als diese Wörter. Der Satz „Dies ist keine Pfeife" war das Einschneiden des Diskurses in die
Form der Dinge, meint Foucault? Auf diese Weise werde die Festigkeit des Bildes mit Wörtern ausgehöhlt und zunächst in Unordnung, dann aber in neue
Ordnung gebracht. Magritte spiele mit seinen Pfeifen die Gleichartigkeit gegen
die Ähnlichkeit der herkömmlichen künstlerischen Mimesis aus, ähnlich wie die
seriellen Bilder der späteren Pop Art. Statt um das Wiedererkennen des Sichtbaren soll es um das Sehen dessen gehen, was die vertrauten Gegenstände nicht
sehen lassen. Eine Stimme ohne Ort sagt daher: „Nichts von all dem ist eine
Pfeife; sondern ein Text, der einen Text simuliert; ein Pfeifenbild, das ein Pfeifenbild simuliert; eine Pfeife (gezeichnet, als ob sie eine Zeichnung wäre), die das
Trugbild einer Pfeife ist (gezeichnet in der Art einer Pfeife, die keine Zeichnung
sein will). " Dazu dann die Stimme Foucaults: Sieben Diskurse in einer einzigen
Aussage. Sie sind aber notwendig, um die Festung niederzureißen, in der die
Gleichartigkeit die Gefangene der Ähnlichkeitsbehauptung war.4
Was es hinter der Ähnlichkeit der vertrauten Gegenstände dank Ausspielen
der Gleichartigkeit anstelle der Pfeife zu sehen geben könnte, erfahren wir freilich nicht. Und mehr noch als hinter dem surrealistischen Bluff Magrittes ist das
reale Rauchgerät hinter den Wortkaskaden Foucaults verschwunden. Damit
sind wir bei unserem Problem. Denn es könnte ja sein, dass Scribner sich geirrt
hat, dass es um das Verschwinden der Pfeife, das heißt der Realität, auch der
historischen Realität, gar nicht schade ist, dass wir sehr viel besser daran tun,
uns statt dessen um Texte, Zeichen und deren Bedeutung zu kümmern, weil die
Bedeutung von Geschichte ohnehin auf die Geschichte von Bedeutung hinausläuft. Dem möchte ich heute widersprechen. Um wohlfeilen Missverständnissen
vorzubeugen und den üblichen Aggressionen den Wind aus den Segeln zu nehmen soll vorab ausdrücklich festgestellt werden, dass ich keineswegs beabsichtige, die methodologischen Errungenschaften der symbolischen Anthropologie
und der linguistischen Wende insgesamt in Frage zu stellen - ich bin schließlich
nicht größenwahnsinnig! Ich wende mich nur gegen den daraus abgeleiteten
aktuellen Reduktionismus mit seinem wissenschaftsimperialistischen Anspruch
auf Deutungshoheit - damit habe ich bereits genug zu tun.
Bekanntlich hat die deutsche Geschichtswissenschaft das struktur-funktionalistische Paradigma westlicher Sozialwissenschaften nicht akzeptiert. Man hielt
und hält sich hierzulande lieber an Max Webers verstehende Soziologie. Die
historische Sozialwissenschaft Bielefelder Art wurde damit zum Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Innovation. Im ersten Band der Bielefelder Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft äußerte sich 1975 der Soziologe Wolf Lepenies programmatisch über Geschichte und Anthropologie. Er ging dabei deutlich
3
4
2
Ebd. 32.
Ebd. 45 f.
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auf Distanz und ließ Historische Anthropologie nur zu als hermeneutisch verstandene histoire des mentalités mit der Aufgabe, z.B. Sexualverhalten durch
Rekurs auf Mentalitäten zu erklären.5 Die hermeneutische Welt der deutschen
Wissenschaft blieb heil, weil sie energisch heil gehalten wurde!
Im Gegenteil, die Ethnologie erlebte ihre Bekehrung zur Hermeneutik. Maßgebend wurde die symbolische Anthropologie nach Victor Turner und vor allem
nach Clifford Geertz, dessen Aufsatz Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu
einer deutenden Theorie von Kultur (Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture) von 1973, deutsch bezeichnenderweise bei Suhrkamp
und erst 1983 veröffentlicht, heute eine Art Manifest der Historischen Anthropologie geworden ist. Es wird darin ein semiotischer, d. h. zeichenwissenschaftlicher Kulturbegriff proklamiert und unter Berufung auf Max Weber Kultur
definiert als das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in das der Mensch verstrickt ist. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die
nach Gesetzen sucht (wie die bisherige Ethnologie naturwissenschaftlicher Observanz), sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Das vollbringt sie mit der Technik der dichten Beschreibung, die verschiedene übereinander gelagerte Bedeutungsstrukturen eines beobachteten Phänomens
interpretierend herausarbeitet und sich dabei zusätzlich bewusst bleibt, dass unsere Aussage über die Auslegung, die beobachtete Menschen ihrem Tun geben,
bereits wieder unsere Auslegung dieser Auslegung ist.6 Die alte, bei Historikern
wie Ethnologen verbreitete Vorstellung, man könne sich quasi unter Auslöschung des eigenen Selbst vollständig in eine fremde oder eine vergangene
Kultur einfühlen, wird damit wieder einmal als Illusion entlarvt.
Auslegung kultureller Phänomene wird für Geertz dadurch möglich, dass
Kultur im Sinne seiner semiotischen Definition aus ineinander greifenden Systemen auslegbarer Zeichen oder Symbole besteht, die es zu entschlüsseln gilt.
Auch Geertz muss also an der Geschlossenheit von Kulturen festhalten, weil
ohne einen überindividuellen Code von Bedeutungen Auslegung überhaupt
nicht möglich wäre. Aber diese Kohärenz ist eine bloß relative, der Code ist
nicht zwingend, weil Kultur den Charakter eines sozialen Diskurses mit relativ
offenem Ausgang hat. Deswegen muss die ethnographische Beschreibung notwendigerweise mikroskopisch sein. Sie lehnt groß angelegte Konzepte wie Kulturen, Prozesse, Epochen keineswegs ab, im Gegenteil, sie weiß, dass ihr Tun
ohne solche sinnlos wäre. Aber sie ist gezwungen, sich ihnen von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her zu nähern. Das gut historistische Problem dabei liegt darin, dass sich auf diese Weise gefundene Deutungen nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Es kann also nicht darum
5
Wo//Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines
aktuellen Disziplinkontakts, in: Geschichte und Gesellschaft 1(1975)325-343.
6
Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 2. Aufl.,
Frankfurt 1991, 9,14f.
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Wolfgang Reinhard
gehen, eine Reihe von Beobachtungen einem beherrschenden, offensichtlich
vorher vorhandenen Gesetz unterzuordnen, sondern ungleich bescheidener zu
versuchen, einen verständlichen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen.
Deshalb heißt es: Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. 7
Bereits beim Vater des symbolischen Interaktionismus, dem Sozialpsychologen George Herbert Mead, wird Sprache als Symbolsystem gedeutet.8 Daher ist
der Ethnologe bei Geertz nicht nur ein Produzent von Texten, sondern seine
Symbole deutende Tätigkeit gleicht dem Entziffern eines schwer lesbaren Manuskripts. 9 In seiner berühmten Interpretation eines balinesischen Hahnenkampfes schrieb Geertz 1972: Die Kultur eines Volkes ist ein Ensemble von Texten, die ihrerseits Ensembles sind; der Anthropologe bemüht sich, sie zu lesen,
indem er denen über die Schulter schaut, denen sie eigentlich gehören (The culture of a people is an ensemble of texts, themselves ensembles, which the anthropologist strains to read over the shoulders of those to whom they properly belong).10 Geertz billigt übrigens an derselben Stelle dem Funktionalismus neben
der symbolischen Interpretation eine legitime Rolle zu und in Dichte Beschreibung operiert er selbst mit der Kategorie Verhalten, wenn er vom Beobachtungsgegenstand spricht.11 Alternative Auffassungen von Historischer Anthropologie bleiben also bei etwas gutem Willen mit der seinigen durchaus vereinbar.
Obwohl mit der Deutung von Kultur als Text ein Anknüpfungspunkt für
postmodernen Dekonstruktivismus gegeben ist und auch genutzt wurde, mutet
den Historiker doch das meiste, was Geertz ausführt, nicht besonders originell
an, denn es läuft weithin auf wohlbekannte hermeneutische Grundsätze und
Verfahren der älteren Geschichtswissenschaft hinaus. Wir sollten eben nicht vergessen, dass Geertz nicht zur Belehrung von Historikern schreibt, sondern eine
Ethnologie in Frage stellen möchte, die sich - vergebens - am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal zu orientieren versuchte. Das änderte aber nichts
daran, dass mit der Geertz-Rezeption der Aufschwung der Historischen Anthropologie in Deutschland einsetzte. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wie
Soziologie für deutsche Historiker nur in der hermeneutischen Variante Max
Webers akzeptabel war, so Anthropologie ebenfalls nur in der hermeneutischen
Variante von Clifford Geertz!
Der mikroskopische Blick nach Geertz wird von den Mikro- und Alltagshistorikern mit verschobener Perspektive angewandt. Beide bezogen ursprünglich
7
Ebd. 30,37,41.
George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus,
Frankfurt 1973 (eng. 1934), 110f., 117f.
9
Geertz 51.
10
Nach Chandra Mukerji / Michael Schudson (Hg.), Rethinking Popular Culture, Berkeley 1993,
269, Ubersetzung und Hervorhebung W. R.
11
Geertz 16.
8
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die Position der Unterschichten, um implizit oder sogar explizit historische Kritik an den damaligen wie den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen einschließlich der aktuellen Geschichtswissenschaft zu üben, aber im Gegensatz
zur kritischen Sozialgeschichte früherer Jahre nun nicht mehr vom Standpunkt
eines Kollektivs aus, sondern eines einzelnen, quellenmäßig fassbaren Menschen. Es handelte sich um die Wiederentdeckung des handelnden historischen
Subjekts durch die deutsche und die amerikanische Linke. Schon 1978 wurde
erstaunlicherweise in der D D R von dem Philosophen Lothar Kühne die Unzufriedenheit mit wissenschaftlichen Kollektivsubjekten formuliert: Eine soziale
Klasse als gesellschaftliches Subjekt isst, singt und schläft nicht, und selbst zu
einer ihr befreundeten Klasse tritt sie nicht in sexuelle Beziehungen.12
Das war die Reaktion auf eine Sozialgeschichte, die quantifizierend arbeitete
und sich in erster Linie für anonyme Strukturen und Entwicklungsprozesse interessierte, etwa die viel diskutierte Modernisierung, die in Bielefeld eine so
große Rolle spielte. Der Einzelmensch verschwand auf diese Weise aus der Geschichte bzw. war nur als statistische Nummer interessant. Sein Handeln oder
Nicht-Handeln, soweit es den Sozialhistoriker interessierte, folgte als Marionette anonymer Kräfte sowieso strukturellen Zwängen und war daher im Einzelfall
höchstens als typisches Beispiel von Interesse. Damit ging eine semantische
Täuschung einher, die sich daraus ergab, dass die historische Sozialwissenschaft
die narrative Struktur und den am bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts
orientierten Erzählstil der von ihr entthronten Politikhistoriker teilweise beibehalten hatte. So wie dort „Deutschland" oder „Frankreich" als handelnde Subjekte auftraten, so hier die Klassen und Gruppen oder gar die Gesellschaft als
Ganze. Das läuft auf eine Reifizierung historischer Konstrukte hinaus, 13 weil
die Sprache uns die Vorstellung unterschiebt, dass diese zu handeln vermögen,
was selbstverständlich nicht der Fall ist. Außerdem gelten Große
Erzählungen
jeder Art nach der hermeneutischen Wende sowieso als unmöglich, so dass Carlo Ginzburg, Natalie Zemon Davis, Robert Darnton und im deutschen Sprachraum Norbert Schindler neben anderen die kleine Erzählung in den Mittelpunkt
der historischen Forschung rücken konnten.
Die Schnittmenge der methodologischen Errungenschaften der verschiedenen unter Historischer Anthropologie im weiteren Sinn versammelten Richtungen läuft also auf Folgendes hinaus:
1. Am wichtigsten ist m. E. die prinzipielle Uneinheitlichkeit
und Diskontinuität, die bereits in der bunten Vielfalt der Richtungen und der Überschneidung der Fachgrenzen zum Ausdruck kommt. Vor allem aber gilt die Geschichte selbst als uneinheitlich und diskontinuierlich. Da Einheit und Einheitlichkeit
12 Nach Albert Schnyder-Burghartz,
Liestal 1992, 15.
13 Ebd. 16f.
Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700,
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eine fixe Idee der Moderne gewesen ist, kann man ihre Uberwindung guten
Gewissens als postmodern bezeichnen, aber nur als Negation, denn die Unterstellung einer neuen Einheitlichkeit der Uneinheitlichkeit wäre ein Widerspruch
in sich. Dazu gehören auch die Vorbehalte gegenüber großen Theorien, seien es
synchrone Strukturen oder diachrone Prozesse. Man hat nicht nur etwas gegen
die Moderne, sondern auch gegen die Modernisierungstheorie. Jede Art von
Teleologie wird in Frage gestellt, auch wenn sie ex post unschwer zu konstruieren sein mag. Zwar besteht die Geschichte geradezu aus Interdependenzen ihrer
Akteure und Phänomene, aber gerade wegen deren Fülle lassen sich diese nicht
holistisch auf eine Ganzheit, eine Kultur oder Epoche und dgl., reduzieren. Kategorien dieser Art bleiben grundsätzlich vorläufig und offen.
2. Dem entspricht die Wiederentdeckung des Subjekts oder besser der Subjekte, und zwar ausdrücklich nicht nur der einzelnen großen, sondern gerade der
zahllosen kleinen Subjekte. Darin steckt viel vom humanistischen Pathos der
europäischen Linken, was gelegentlich sogar zu einer sozialromantischen Verzeichnung dieser neuen Heldinnen der Geschichte führen mag. Als der Strukturalismus nebst dem Foucault der 60er und 70er Jahre ebenso wie die historische Sozialwissenschaft das Subjekt verschwinden lassen wollte, wurde ihnen
von marxistischer Seite mit Recht vorgehalten, dass diejenigen, die von der Kritik des Subjekts sprechen, genau die sind, die sich den Luxus eines Subjekts leisten
konnten.,4 Nicht zufällig kehrt beim späten Foucault das Subjekt im doppelten
Sinne mit Macht zurück.
3. Aus der Distanz zur abstrakten Großtheorie und der Aufwertung des Subjekts ergibt sich mit Notwendigkeit, dass anonyme Strukturen und unbewusste
Prozesse an Erklärungswert verlieren, ja dass das sozialwissenschaftliche Modell der kausalen Erklärung überhaupt in den Hintergrund tritt. Das neu aufgewertete intentionale Handeln der Subjekte, sei es noch so bescheiden, verlangt
hermeneutische Verfahren der Interpretation. Die Rückkehr zur modifizierten
Hermeneutik darf als drittes Leitprinzip der historisch-anthropologischen
Richtungen gelten. Modifiziert ist sie nicht nur durch bewusstes Einbeziehen
der weiter bestehenden Fremdheit des auszulegenden Gegenstandes, sondern
außerdem durch die Notwendigkeit, neben Texten auch Handlungen auszulegen. Kleine Leute haben uns nur selten Texte über die Intentionen ihres Handelns hinterlassen, wir können sie oft genug nur durch Entzifferung der Logik
ihrer Praxis verstehen. Deshalb spielt Pierre Bourdieus Theorie der Praxis
(deutsch 1972) eine so große Rolle.
Die Aufwertung des gewöhnlichen menschlichen Subjekts mit seinen Aneignungs- und Deutungsaktivitäten bleibt allerdings für die Wissenschaft nicht ohne Folgen. Sie impliziert nämlich eine Legitimation des wissenschaftlich bisher
14 Spivak 1988 nach Roger Bromley / Udo Göttlich / Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies, Limburg 1999, 308.
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weithin als unseriös geltenden argumentum ad hominem.15 Es ist hinfort keineswegs mehr irrelevant, dass Foucault homosexuell war und Derrida Jude ist, sofern damit keine Wertungen verbunden werden. Eigentlich ist sogar eine Rehabilitation des wichtigsten Aneignungsorts von Deutungen durch gewöhnliche
Subjekte, des Stammtisches, angesagt. Der maßgebende Philosoph der Hermeneutik Hans Georg Gadamer hat einst das Vorurteil rehabilitiert, aber vermutlich war damit das gepflegte Vorurteil der Vertreter hoher Kultur gemeint. Uns
bleibt aber, wenn wir als Anthropologen konsequent sein wollen, gar nichts
anderes mehr übrig, als bis zu einem gewissen Grad das ganz gewöhnliche Vorurteil des Stammtischs ernst zu nehmen! Denn es ist von zentraler Bedeutung
für die politische Kultur, dass die Stammtische überwiegend alle Politiker für
Gauner halten, hingegen mit den lokalen und nationalen Sportstars siegen und
leiden.
Wir stehen damit vor der für unser Tun zentralen, gewissermaßen meta-anthropologischen Frage, was der Wandel der historischen Kultur durch die Historische Anthropologie historisch zu bedeuten hat. Wenn wir von den Erfahrungen der Subjekte, das heißt aber auch unseren eigenen ausgehen, dann wäre
folgende Deutung möglich: Geschichte hat sich stets als Legitimationswissenschaft erwiesen, indem sie das zum jeweiligen politischen und kulturellen Weltbild passende Geschichtsbild produzierte. In diesem Sinn war die historische
Sozialwissenschaft eine Legitimationswissenschaft der optimistischen Technokratengesellschaft des großen Aufschwungs. Man glaubte daran, dass sich
Gesellschaft machen ließe, und entdeckte daher in der Geschichte ebenfalls die
Macher von Gesellschaft, die z.B. den Modernisierungsprozess in Gang gesetzt
hatten. Oder man fand, dass es an bestimmten Stellen der deutschen Geschichte
falsch gemacht worden sei und es jetzt gelte, es richtig zu machen. Demgegenüber wäre die Historische Anthropologie eine Legitimationswissenschaft der
Single-Gesellschaft, die nicht mehr glaubt, dass man etwas machen kann außer
das eigene kleine Glück durch geschickte Aneignung der anonymen Vorgaben.
Nicht zufällig wurde Michel Foucault so populär, der die anonymen Machtprozesse beschrieben hat, die kein Zentrum mehr haben, das man treffen und schlagen kann. Und der schließlich zur Würde des Subjekts zurückgefunden hat. In
diesem Zusammenhang wäre dann die Reduktion der Bedeutung von Geschichte
auf die Geschichte von Bedeutung als ein Versuch zu verstehen, die Sinnlosigkeit
des eigenen Lebens mittels historischer Stellvertreterinnen zu bekämpfen, die
ihrem Handeln Sinn zu geben wussten: symbolische Sicht aus Sehnsucht nach
Sinn!
Soweit erscheint die historisch-anthropologische Vorgehensweise nach der
hermeneutisch-linguistischen Wende und der Wiederentdeckung des handelnWie sie Lutz Niethammer, Kollektive Identität, Reinbek 2000 für seine „Kronzeugen" durchgeführt hat.
15
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den Subjekts ungeachtet ihrer soeben vorgenommenen historischen Relativierung methodologisch unanfechtbar. Genauer besehen, weist sie aber gefährliche
Einseitigkeiten auf, die meine Kritik und meine Forderung nach einer materialistischen Alternative herausgefordert haben.
Wenn wir uns weitgehend mit der Interpretation von Praxis statt mit der Auslegung von Texten befassen müssen, spielen Symbole automatisch eine zentrale
Rolle, denn oft genug bekommt Praxis nur durch sie intersubjektive Bedeutung.
Es ist deshalb sinnvoll, Symbole und symbolisches Verhalten zu einem zentralen
Gegenstand der Historischen Anthropologie zu machen. Triviale Routinehandlungen und Rituale können eine bedeutende Rolle zur Aufrechterhaltung einer
bestimmten Weltsicht spielen. Es ist wichtig, nach der Bedeutung der Kleider zu
fragen, die Leute tragen, der Speisen, die sie essen, wie sie sich grüßen und gehen, nach ihrer Körperhaltung und ihren Gesten. Schon Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) hat dafür Grundlagen gelegt.
Die Schwierigkeit, dass Symbole häufig nicht nur eine Bedeutung haben und
keine direkte, repräsentierende Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem
vorliegen muss, mag mit wissenschaftlicher Disziplin gerade noch zu bewältigen
sein, obwohl dadurch natürlich interpretatorische Willkür erleichtert wird.
Doch wenn die gesamte Kultur auf ein Symbolsystem und ihre Interpretation
auf die Deutung von Symbolen reduziert werden soll, wird die Sache wie bei
jedem Reduktionismus erstens falsch und zweitens gefährlich. Falsch, weil es
im Bereich der materiellen Kultur viele Dinge gibt, die wirklich nur eine praktische Funktion haben - manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Gefährlich, weil auf diese Weise die einst dominierende Geistesgeschichte, die mittels materialistischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf den ihr gebührenden
begrenzten Platz verwiesen wurde, als historische Anthropologie maskiert
durch die mikrohistorische Hintertür wiederkehren und die Geschichtswissenschaft erneut in ein idealistisch halbiertes, jetzt als Symbolgeschichte drapiertes
Unternehmen verwandeln könnte. In Verbindung mit linguistischem Reduktionismus scheint mir dergleichen bereits Wirklichkeit zu werden, mit der fatalen
Folge einer verstärkten Abschottung gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaft vom Menschen.
Sprach- und Literaturwissenschaft haben uns zwar zu Recht daran erinnert,
dass erstens auch Geschichtsschreibung den Regeln sprachlicher Artefakte unterliegt, und dass zweitens unser Wissen von Geschichte selten unmittelbaren
Charakter hat, sondern stets durch Texte im weiteren Sinn vermittelt ist. Ubertrieben formuliert, wissen wir nichts über Geschichte, sondern nur etwas über
Texte, die von Geschichte handeln, und produzieren keine Untersuchungen
über historische Wahrheit, sondern nur neue Texte über andere Texte. Wiederbelebung der Geschichtsdarstellung als Kunstwerk und radikale Verschärfung
unseres textkritischen Bewusstseins sind unzweifelhaft erfreuliche Errungenschaften.
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Ebenso unzweifelhaft besteht aber die Gefahr, dass in einer auf Text(e) reduzierten Welt die Geschichte als Wissenschaft dekonstruktivistischer Beliebigkeit
zum Opfer fällt. Schon vor Jahren hat Michael Maurer detailliert nachgewiesen,
wie die angebliche Strenge mikrohistorischer Interpretation bei führenden Vertreterinnen dieser Richtung auf extrem willkürlichen Umgang mit den Quellen
und streckenweise auf schlichte Erfindung von guten Stories hinausläuft, die
mittels raffinierter literarischer Strategien gegen Kritik immunisiert werden. 16
Ausgesprochen erfrischend wirkt die jüngste Polemik von Egon Flaig, die zeigt,
wie Hayden White mit der Vorstellung, dass Fakten nur sprachliche Existenz
haben, am harten Faktum der Schoah gescheitert ist. Anschließend stellt Derridas hermeneutische Kunststücke zur Rechtfertigung seines antisemitischen
Freundes De Man bloß - man könnte noch den Umgang mit dem verehrten
Heidegger hinzufügen. Es ist zwar nicht nur für Flaig nichts Neues, dass Historiker keinen unmittelbaren Zugriff auf die Vergangenheit haben, sondern sie
immer für sich konstruieren müssen. Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte - im doppelten Sinn des Wortes. Denn diese Konstruktion erfolgt nicht
beliebig, sondern nach strengen Regeln und mit der strengsten Kontrolle, die es
gibt, dem Vetorecht der Quellen, das nicht nur in der professionellen Gewissenhaftigkeit des Historikers begründet ist, sondern vor allem darin, dass ihre Auswertung unter den neidischen Augen der Kollegen erfolgen muss. Die elementarste Formaldefinition von Wissenschaft lautet bekanntlich: Wissenschaft stellt
nachprüfbare Aussagen auf. Wo Aussagen beliebig werden, endet die Wissenschaft. Auch der Sprachgebrauch unterliegt sozialen Regeln, die spätestens seit
Berger / Luckmann (1975) und Bourdieu (1991) ebenfalls bekannt sind. Nicht
die Diskurse bringen die Geschichte hervor, sondern die Geschichte die Diskurse. Die Vertreter der entgegengesetzten Auffassung enden laut Flaig ebendort,
wo ich soeben die symbolistischen Reduktionisten landen sah: Sie sind in die
alte Geistesgeschichte zurückgefallen, verwenden aber ein Vokabular, welches
diesen Rückfall verdeckt.17
Drei Beispiele sollen zeigen, wohin symbolistisch und dekonstruktivistisch
legitimierte Deutungshoheit führen kann. Das erste entstammt einem erfolgreichen und insgesamt untadeligen Buch eines angesehenen und an und für sich
auch von mir hochgeschätzten Mikrohistorikers. Es geht in dieser kleinen Geschichte um die Entdeckung einer sorgfältig versteckten Wildererausrüstung
durch die zuständigen Behörden. Dabei erweist sich aber der Fund einer Perruque mit einer geistlichen Krone für die Interpretation als ausgesprochen sperrig. Zwar gehörten Perücken durchaus zur Standardausrüstung jener Wilderer,
16 Michael Maurer, Geschichte und Geschichten, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
42(1991)674-691.
17 Egon Flaig, Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte, in: Rechtshistorisches Journal
18(1999)458-476, hier 472.
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aber was sollte dabei eine geistliche Krone? Mag sie nun aus den Sternsingerrequisiten der Pfarrkirche stammen oder eher selbst gebastelt sein, der Sinn dieses
Symbols lässt sich für unseren Autor leicht entziffern:
Die Idee, die Perücke mit einer geistlichen Krone aus Pappe zu zieren, ergab sich aus dem
ungemein populären Erscheinungsbild der Heiligen drei Könige nahezu von selbst. Wie
die Herren von eigenen Gnaden, jedenfalls aber mit demselben Recht wie sie begaben
sich die Bauern auf die ihnen verbotene Wildbahn. Und dennoch war ihnen die „gekrönte" Selbsterhöhung, das Gleichziehen mit den Herrschaftsrechten der Grossen nicht das
Wichtigste. Wer die bäuerliche Mentalität und ihre theatralischen Affinitäten auch nur
ein wenig kennt, wird sogleich vermuten, dass die imaginäre Selbstkrönung
gleichsam
spielerisch die höhere Wahrheit des biblischen Geschehens herbeizitierte und sich auf diese
gekonnt inszenierte Art und Weise spöttisch gegen höhere Machtansprüche richtete. Die
drei Könige ... huldigten bekanntlich einem König, der für die Machthaber des römischen
Imperiums umso gefährlicher war, als sein Reich nicht von dieser Welt zu sein beanspruchte. Die seit dem Spätmittelalter bezeugten Sternsinger-Bräuche erinnerten an dieses Ereignis und stellten es zugleich in der Verkehrten
Welt"-Tradition auf den Kopf,
indem sich die Armen die Krone auf den Kopf setzten... Mit dieser populären
Aneignung
eines wuchtigen religiösen Bildes spielte die bäuerliche Travestie nun ihr Augurenspiel.
Wo immer die aus der Ferne kommende Krone auftauchte, da folgte sie dem Stern und
kündigte den realen Machthabem das nahe Ende ihrer Herrschaft an.18
In der Tat stand die Französische Revolution vor der Tür. Aber die geistliche
Krone hatte dennoch keinerlei tiefsinnige symbolische Bedeutung, sondern nur
eine rein praktische, denn es handelt sich einfach um die Ubersetzung eines
Terminus technicus der Kirche: Corona clericalis, im Klartext Tonsur. Unser Wilderer hatte also nicht mehr im Sinn, als sich mit dieser Perücke als Geistlicher zu
maskieren - manchmal war eine Perücke nichts als eine Perücke!
Hier geht es immerhin noch um mikrohistorische Quelleninterpretation, die
sich an der Quelle überprüfen und falsifizieren lässt. Entsprechende makrohistorische Bedeutungsentwürfe, die dazu noch schwer mit Literaturnachweisen
gepanzert sind, auch wenn deren Autoren möglicherweise mit dieser Verwendung gar nicht einverstanden wären, lassen sich nicht mehr durch solche Überprüfung widerlegen. Entweder man glaubt daran oder nicht - oder man verlangt
Beweise für die zugeschriebene Bedeutung und lässt sie daran scheitern. So im
Falle eines wissenschaftlichen Manuskripts, nach dem diverse gesellschaftliche
Bereiche der nordniederländischen Republik in der Mitte des 17. Jahrhunderts
von einem ozeanischen Gefühl geprägt gewesen sein sollen. Die Arbeit will mit
Komplexitätsreduktion arbeiten, vom Einzelfall abstrahieren und versuchen,
den kultursemiotischen Sachverhalt generalisierend und vereinfachend darzustellen. Dabei kann sie in den divergierendsten Kontexten ganz ähnliche Strategien der Perzeption erkennen, wie sie mit der Konstitution männlichen Selbstverständnisses einhergehen. Das führt zu Feststellungen wie der folgenden:
18
Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 13 f.
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Manchmal
ist eine Pfeife wirklich nur eine
Pfeife
Ausdehnung ist das Äquivalent der männlichen Fantasie für Ejakulation.19 Ich
möchte bezweifeln, dass selbst Psychoanalytiker jemals dergleichen behauptet
haben. Doch wie dem auch sei, die Forderung nach einem Beweis erledigt diese
Deutung auf der Stelle - wie manche andere auch. Dieses Mal bleibt nicht einmal eine wirkliche Pfeife als Rest übrig.
Das kann allerdings schwierig werden, wo politisches Interesse Deutung immunisiert und Deutungshoheit legitimiert. So jüngst in der Fotoausstellung eines berühmten Berliner Museums, die demonstrieren wollte, dass der Skulpturenschmuck romanischer Kirchen, insbesondere an den Kapitellen der Säulen
und Pfeiler, grossenteils eine gezielte Diffamierung des Islam und der Moslems
darstelle. Selbstverständlich gibt es Bildwerke, bei denen diese Absicht zu erkennen ist. Aber worin besteht der angeblich feindliche Charakter der neutralen
Darstellung eines Kamelreiters? Vor allem bleibt der Autor den Nachweis für
seine zentrale Behauptung schuldig, die unzähligen Darstellungen von fantastischen Obszönitäten, die Kunsthistoriker schon lange fasziniert haben, seien gegen wirkliche oder angebliche sexuelle Praktiken der Moslems gerichtet. Weiter
meint er, ein Harfe spielender Esel sei eine Verhöhnung König Davids. Doch
selbst, wenn das zuträfe, wäre der Hohn doch wohl eher gegen die Juden als
gegen die Moslems gerichtet. In Wirklichkeit handelt es sich aber nur um ein
altes Fabelmotiv.20
Als Zwischenergebnis wäre also erstens auf die nicht ganz neue Regel zu verweisen, dass besonders weitreichende Deutungen nach den bisher gültigen
Spielregeln der Wissenschaft auch besonders gründliche und das heißt vor allem
nachprüfbare Nachweise brauchen. Zweitens sollte der ebenfalls nicht besonders revolutionäre Grundsatz gelten, vor dem Abheben zu den spirituellen Höhenflügen symbolischer Bedeutungssuche erst einmal nach näherliegenden materiellen Erklärungen Ausschau zu halten, auch wenn diese in ihrer Trivialität
den Bedeutungshistorikerinnen kaum ein Nasenrümpfen wert sein mögen. Obwohl diese die elaborierte Symbolwelt der sogenannten hohen Kultur eher vernachlässigen und sich sehr bewusst in der mentalen Welt sogenannter gewöhnlicher Menschen tummeln, läuft ihr Vorgehen paradoxerweise ebenfalls auf
streng exklusive Beschäftigung mit der Res cogitans hinaus, die sich auch in ihrer
Dünkelhaftigkeit kaum von der einstigen Geistesgeschichte unterscheidet. Sollte der Hauptunterschied darin bestehen, dass die alte geistesgeschichtliche Interpretation an Texte gebunden war und damit wenigstens einigermaßen falsifizier19 Manuskript Die Eroberung des Horizonts. Utopie und Praxis des Ozeanischen in den Niederlanden Mitte des 17. Jahrhunderts, das mir ohne Autorennachweis zur Begutachtung für die Zeitschrift Saeculum vorlag. Dem Vernehmen nach ist die Verfasserin eine Philosophin aus Berlin. Es
wurde abgelehnt.
Claudio Lange, Islam in Kathedralen - Bilder des Antichristen in Kathedralen (Fotoausstellung
im Museum für Islamische Kunst, Berlin, Sommer 2003), inzwischen veröffentlicht: Claudio
Lange,
Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst, hg. Almuth Sh. Bruckstein, Berlin 2004.
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bar blieb, während das praxeologische Verfahren der sogenannten Entzifferung
der Bedeutung von Alltagshandeln beliebiger Interpretation durch die Inhaberinnen der Deutungshoheit Tür und Tor öffnet? Hat nicht Natalie Zemon Davis
ausdrücklich erklärt, sie wolle darstellen, was historisch möglich gewesen sei?
Seit Aristoteles aber ist der Bereich des Möglichen die Spielwiese der Poesie,
während Geschichte es mit dem Wirklichen zu tun hat.
Ich schlage vor, bei dieser Unterscheidung zu bleiben und weiter darauf zu
bestehen, dass es historische Wirklichkeit gibt und dass diese nicht auf Bedeutungen beschränkt werden darf, die Menschen der Vergangenheit wirklich oder
angeblich ihrer Welt gegeben haben. Im Gegenteil, ich meine gezeigt zu haben,
dass fehlende Berücksichtigung der Trivialbereiche des materiellen Lebens notwendigerweise in die Irre führen muss und daher schon rein epistemologisch
nicht vertretbar ist. Wir müssen z. B. zunächst wissen, unter welchen realen materiellen Bedingungen die Menschen sich ernährt und reproduziert haben, bevor
wir ihre Tischkultur, ihre sexuellen Sitten und ihre Familienorganisation einer
symbolischen Deutung unterwerfen und den möglichen Rückwirkungen dieser
Symbolik auf jene materielle Welt nachgehen können.
Darüber hinaus sollte nicht nur in der Methode, sondern auch in der Sache das
Ende des abendländischen Dualismus von Geist und Stoff längst zur Binsenweisheit geworden sein. Wir wussten zwar schon immer, dass Menschen keine
reinen Geistwesen sind, aber dass die dualistische Trennung von Fleisch und
Geist eine anmaßende Behauptung unseres Gehirns darstellt, dass wir statt dessen ein untrennbares Ganzes und in gewisser Hinsicht ganz Körper sind, ist eine
Erkenntnis, die anthropologisch erst noch berücksichtigt werden muss. Auch
die bio-philosophische Perspektive bleibt m.E. in erster Linie philosophisch
und bedient sich beliebig ausgewählter biologischer Versatzstücke für ihre philosophische Argumentation.
Ich plädiere daher aus methodologischen wie anthropologischen Gründen für
eine ganzheitliche Anthropologie mit energischer Berücksichtigung der materiellen Dimension des menschlichen Lebens. Im Einklang mit einer Tradition,
die bis auf Herodot zurückgeht und in Aufklärungshistorikern wie Voltaire einen Gipfelpunkt ereicht hat, möchte ich zu diesem Zweck die Kategorie Sitte in
den Mittelpunkt stellen, verstanden als kulturell geregeltes menschliches Verhalten, das sich beobachten oder quellenmäßig nachweisen lässt. Hier ist für die
materielle Basis ebenso Platz wie für den symbolischen Uberbau und für komplizierte Interaktionsprozesse von beiden.
Auf der Grundlage dieser binnenhistorischen Zwischenbilanz lässt sich
schließlich ein weiterer Kritikpunkt angehen, das Verhältnis oder, genauer gesagt, das Nicht-Verhältnis von Historischer und Biologischer Anthropologie.
Allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz scheint auch für die Historische Anthropologie mehr denn je die alte Formel des Anglisten C. P. Snow zu
gelten, der 1959 von den zwei Kulturen schrieb, die nichts mehr miteinander zu
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Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife
tun haben, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen, obwohl aus heutiger Sicht Natur und Geist längst nicht mehr reinlich zu trennen
sind. Nichtsdestoweniger wird biologische Anthropologie in den maßgebenden
Einführungen und Zeitschriften der Historischen Anthropologie nicht einmal
erwähnt. Das ist kein Zufall. Es hat methodologische, kulturelle und politische
Gründe.
Hinsichtlich der Methodologie sollte bereits deutlich geworden sein, dass es
paradoxerweise gerade die modernsten Richtungen wie symbolistische Hermeneutik und Dekonstruktivismus sind, die dem alten Geist in neuer Gestalt wieder zur Herrschaft verholfen und den Graben zwischen den beiden Kulturen
weiter vertieft haben. Angeblich haben viele jüngere Naturwissenschaftler seit
der Affäre Sokal die Geisteswissenschaftler als hoffnungslose Fälle abgeschrieben. Der Physiker Sokal hatte einen mit dekonstruktivistischen Autoritäten
schwer gepanzerten Aufsatz geschrieben, in dem er die kulturell-sprachliche
Begründung eines Teiles der Physik zu beweisen vorgab, und denselben in einer
angesehenen Zeitschrift postmoderner geisteswissenschaftlicher Observanz anstandslos gedruckt bekommen - nur um das dekonstruktivistische Wortgeklingel hinterher erbarmungslos als Ulk bloßzustellen. 21
Was wir vor uns haben, ist eine sich m. E. zunehmend verschärfende gegenseitige Abschottung mittels reduktionistischer Theorien, allem Geschwätz von
Transdisziplinarität zum Trotz. Zwar würden heute Biologen wie Geisteswissenschaftler sofort dem Satz zustimmen, dass es die Natur des Menschen sei,
Kulturwesen zu sein, anders gewendet, dass menschliche Natur nur als Kultur
vorkommt. Sie ziehen aber entgegengesetzte Schlussfolgerungen daraus, von
denen die eine so reduktionistisch ist wie die andere.
Für den biologischen Reduktionismus läuft das Ganze darauf hinaus, dass die
Grundlagen aller Kulturphänomene biologisch zu erklären sind oder in Zukunft
zu erklären sein werden - platt und verkürzt: Johann Sebastian Bach aus seinen
Genen. Eine besondere Rolle hat dabei die Soziobiologie gespielt, nach der das
Verhalten des Individuums maßgebend vom Ziel bestimmt ist, den Reproduktionserfolg der eigenen Gene zu optimieren. Deswegen lohne sich z.B. Selbstlosigkeit gegenüber Verwandten und erkläre sich auf diese Weise. 22
Für den geisteswissenschaftlichen Reduktionismus hingegen bedeutet es, dass
die Kultur die Natur völlig aufgesaugt hat und ohne irgendwelche naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erklärt werden kann. In der Empirie kommt es allerdings gelegentlich zu Pannen. So berichtet ein Ethnologe, wie er dem Fehlen
von Brustwarzen bei Mitgliedern einer afrikanischen Gruppe in Kamerun mit
Alan D. Sokal / Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München 1999.
22 Dagegen Holmes Rolston, Genes, Genesis and God. Values and their Origins in Natural and
Human History, Cambridge 1999; Steven Rose, Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der
egoistischen Gene, München 2000.
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der üblichen symbolischen Deutung beizukommen versuchte und sich auf die
Suche nach einer rituellen Amputation machte, bis ihm aufging, dass es sich
schlicht um einen ererbten genetischen Defekt handelte. 23 Freilich erweisen sich
wissenschaftliche Paradigmata nicht selten als immun gegen derartige empirische Falsifizierung!
Die Biologie hat es leicht. Sie ist in Expansion begriffen und hat als Zukunftswissenschaft des 21. Jahrhunderts nichts zu verlieren. Die historischen Anthropologen hingegen sind als Kulturwissenschaftler in der Defensive und fühlen
sich bedroht, was zu irrationalen und bisweilen hysterischen Reaktionen führt.
Die Geisteswissenschaftler haben immerhin nolens volens die jüdisch-christliche Doppelexistenz von Geistseele und Leib zu verteidigen, den Inbegriff
abendländischer Kultur, den Descartes' Unterscheidung von Res cogitans und
Res extensa für die westliche Wissenschaft konserviert hat. Geistige Güter können durch eine angebliche materielle Dimension nur beschmutzt werden. Selbst
der marxistische Materialismus war daher kein unmittelbarer, sondern ein dialektischer!
Dazu kommt die nahe liegende politische Immunisierung wie gerufen. Die
Gräuel des nationalsozialistischen Rassismus und die aktuellen Probleme des
US-amerikanischen und postkolonialen Rassismus führen zu einem wissenschaftlich fatalen Zwang zur Political Correctness. Weil die biologische Anthropologie als Rassenlehre grausam missbraucht wurde, darf es keine Rassenkunde
mehr geben, und der Einfachheit halber gleich gar keine Rassen mehr. Gerne
wird darauf hingewiesen, dass die genetische Ausstattung der verschiedenen
Menschengruppen fast restlos identisch sei. Aber unser Erbgut stimmt auch zu
98,8 % mit dem des Schimpansen überein und selbst dem Regenwurm stehen
wir in dieser Hinsicht sehr nahe. Nicht, ob es Rassen und sogar Unterschiede
zwischen ihnen gibt, ist das wirkliche politische Problem, sondern ob solche
Unterschiede bewertet und zur Diskriminierung von anderen Menschen eingesetzt werden.
Die biologische vergleichende Verhaltensforschung lehrt uns auch, dass die
Evolution bei sozial lebenden Arten Gruppensolidarität zwischen Blutsverwandten und Adoptierten hervorgebracht hat, die mit mehr oder weniger ausgeprägter Abneigung gegen Fremde einherzugehen pflegt, aber nicht automatisch in Aggression umschlagen muss. Ein Ethnologe hat dazu geschrieben:
Es gehört zu den deprimierendsten Seiteh des Ethnologenberufs, entdecken zu
müssen, dass fast alle Volksgruppen ihre unmittelbaren Nachbarn hassen, fürchten und verachten.24 Das historische Problem besteht darin, ob der Mensch als
Kulturwesen seine natürliche Xenophobie kulturell zum Atomkrieg weiterentwickelt oder als Herausforderung zu ihrer Bändigung durch humane Verhal23
24
Nigel Barley, Die Raupenplage. Von einem, der auszog, Ethnologie zu betreiben, Stuttgart 1989.
Ebd. 89.
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Manchmal ist eine Pfeife wirklieb nur eine Pfeife
tensstandards versteht. Die Biologie lässt uns als optimale Lösung eine Mischstrategie erwarten, den Versuch, überlebensnotwendigen Gruppenegoismus und
gemeinmenschliche Solidarität zu kombinieren. 25
Wir sind damit bereits bei Möglichkeiten angekommen, wie Biologische und
Historische Anthropologie konkret zusammenwirken könnten. 26 Die Biologische Anthropologie wird heute wie die ganze Biologie von der Genetik dominiert, zu der eine unmittelbare Verbindung seitens der Historischen Anthropologie kaum herzustellen ist. Bereits einfache menschliche Phänomene
werden durch Zusammenwirken verschiedener Gene erklärt und menschliches
Verhalten durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedenster genetischer
Faktoren und Umwelteinflüsse. Deswegen sind ja die Erwartungen und Ängste
angesichts der Entzifferung des menschlichen Genoms ziemlich unbegründet!
Vielversprechender ist die biologische Untersuchung menschlichen Verhaltens
im Vergleich mit verschiedenen Tierarten, insbesondere von Primaten, 27 die allerdings seitens der Historischen Anthropologie auf heftigen Widerstand stößt.
Wer als Historiker auf diese sogenannte Humanethologie zurückzugreifen
wagt, wird von deutschen Kollegen unverzüglich des kruden Biologismus verdächtigt. Dabei gibt es hier unglaublich spannende Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu entdecken und zu deuten.
Die weibliche Partnerwahl erweist sich z.B. auch beim Menschen als ausgesprochen stammesgeschichtlich bedingt, zumindest, solange es sich dabei potentiell noch um Fortpflanzung handelt. Männer mit besonders reichen Ressourcen werden bevorzugt, Verbindungen mit solchen haben die meisten
Nachkommen. 28 An der Historischen Anthropologie wäre es nun herauszufinden, welchem Wandel dieser „Ressourcenkorb" in der Geschichte unterlag und
warum, und ob dieses Muster durch die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts kulturell überwunden wurde.
Man hat die enorme Entwicklung des Gehirns, die den Menschen auszeichnet
und zum Kulturwesen macht, lange mit dem Werkzeuggebrauch in Zusammenhang gebracht. Mit einer eigentümlichen Inversion wurde aber auch der Versuch
unternommen, die machiavellistische
Intelligenz, d. h. die Fähigkeit, im sozialen
Leben den Anderen im eigenen Interesse zu übervorteilen, dafür verantwortlich
zu machen, weil sie sich bei Menschenaffen lange vor jedem Werkzeuggebrauch
nachweisen lässt.29
Mohr in Peter Sitte (Hg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie. Die grossen Themen, München
1999, 189 f.
26 August Nitschke (Hg.), Die Bedeutung der Biologie für eine Historische Anthropologie, in: Saeculum 36(1985)3-111.
27 James D. Loy / Calvin B. Peters (Hg.), Understanding Behavior. What Primate Studies Tell Us
About Human Behavior, New York 1991.
28 König in Sitte 172.
29 Richard W. Byrne u. a. (Hg.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolution of
Intellect in Monkeys, Apes, and Humans, Oxford 1988.
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Wolfgang
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Die Hirnforschung weist derzeit ohnehin die spannendste und für die geistbestimmte Menschenwürde im traditionellen kulturellen Verständnis bedrohlichste Entwicklung auf, die aber anscheinend kaum zur Kenntnis genommen
wird. Es gibt Experten auf diesem Gebiet, die mit der baldigen Verabschiedung
des Leib-Seele-Problems und der Willensfreiheit sowie mit einem neuen Selbstverständnis des Menschen als Folge rechnen. 30 Möglicherweise ist das süd- und
ostasiatische Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt damit leichter in
Einklang zu bringen als das westliche.
Erfreulicherweise gibt es weniger problematische Felder rein praktischer Kooperation zwischen Biologischer und Historischer Anthropologie, etwa das
interdisziplinäre Fach der Historischen Demographie. Oder die angewandte
Anthropologie im Dienste der Archäologie, und zwar nicht nur der vorgeschichtlichen, sondern auch zur Bestimmung des Gesundheitszustands und
der Todesursachen afrikanischer Sklaven, deren Skelette auf alten Friedhöfen
der Karibik ausgegraben werden. Oder die statistische Untersuchung des
menschlichen Längenwachstums und des veränderten Zeitpunkts der Geschlechtsreife im Kontext der allgemeinen Kulturentwicklung. Auf solchen Feldern sind es oft empirische Befunde der einen Richtung, die neue Erkenntnisse
der anderen erst möglich machen, wobei solcher Transfer keineswegs nur von
der Natur- zur Kulturwissenschaft stattfindet, sondern ebenso auch in umgekehrter Richtung. Darum mein Plädoyer für eine in diesem Sinn materialistische
Anthropologie!
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