Christliche Anthropologie

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Prof. Dr. Hermann Stinglhammer
WS 2015/2016
Christliche Anthropologie
1. Die Frage nach dem Menschen innerhalb der Pluriformität
anthropologischer Thesen
Immanuel Kant (1724-1804) – der Philosoph des neuzeitlichen
Weltverstehens des Menschen in seiner endlichen Subjektivität eröffnet seine Logik mit den vier wesentlichen Fragen, die den
Menschen umtreiben.
Und diese lauten: „ Was kann ich wissen? (Erkennen) Was soll ich
tun? (Ethik) Was darf ich hoffen? (Religion) Und schließlich: „ Was ist
der Mensch?“ (Logik, Werke Band 5, Darmstadt 1968, 448).
Die Frage „ was ist der Mensch?“ bildet in dieser Frageanordnung
den Zentralpunkt, auf den alle anderen konvergieren. Alles Erkennen,
alle Ethik und Praxis des Menschen, und alle Religion sind letztlich
getragen von der grundlegenden Frage des Menschen nach sich
selbst. Zugleich wird darin deutlich, dass der Mensch in allen seinen
Lebensvollzügen stets nach sich selbst frägt, um auszuloten, wer er
denn wirklich ist. Anders gesagt: der Mensch ist seinem Wesen nach
die Frage nach sich selbst. Der Mensch ist gerade nicht in feste
Koordinaten hineingestellt, die sein Wesen definieren. In seiner
Geistigkeit und Freiheit ist er in einen offenen Horizont hineingestellt,
in dem er selbst immer neu die Antwort darauf geben muss, wer er
sein soll. Alles Tun des Einzelnen wie der Menschheit als ganzer ist
zuletzt nichts anderes als das Durchexperimentieren der Frage nach
sich selbst, wie sie bereits in der griechischen Antike über den
Eingang zum Orakel des Apoll in Delphi geschrieben war: „ Gnoti
seauton“ - „ erkenne dich selbst“ !. Der Mensch scheint jene Frage
zu sein, die er nicht letztgültig auflösen kann, weil er selbst gerade
nicht hinter sich selbst kommen kann. Er ist schon immer als Frage
da. Er ist sich als Frage gegeben und aufgegeben – und mit ihm,
sofern er um seine Welt weiß, wird ihm auch diese selbst fraglich.
Letztlich blickt der Mensch in einen Abgrund, der sich in seiner freien
Vernunft auftut.
In prägnanter Weise formuliert dies der Philosoph Friedrich Wilhelm
Schelling (1775-1854), wenn er schreibt: „ Weit entfernt also, dass
der Mensch und sein Tun die Welt begreiflicher mache, ist er selbst
der Unbegreiflichste... gerade er, der Mensch, treibt mich zur letzten
verzweiflungsvollen Frage: Warum ist überhaupt etwas? Warum ist
nicht Nichts?“ (Philosophie der Offenbarung 1,7, Darmstadt 1966).
Kant und Schelling legen gerade für den modernen Menschen die
Frage frei, die der Mensch seinem Wesen nach ist.
Es ist dies aber eine Frage, die bereits am Anfang alles Nachdenkens
steht, denn es ist ja stets der Mensch, der über sich nachdenkt. Und
in der Geschichte der abendländischen Tradition, in der wir uns
bewegen, sind auch verschiedene Antworthorizonte aufgezeigt
worden. Wir blicken ein wenig in diese Geschichte hinein.
Am Beginn der europäischen Geistesgeschichte steht die
grundlegende Definition des Menschen in der sokratischplatonischen Tradition als einem „ Wesen, das Vernunft hat“ . Er ist
ein „ zoon logon echon“ : Lateinisch: er ist ein animal rationale: Der
Mensch ist das Lebewesen, das – als spezifische Differenz zum Tier
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(animal) Vernunft besitzt, wobei sich dieser Vernunftbesitz zugleich in
seiner Sprache (logos) manifestiert, sofern er darin seine
Welterkenntnis allererst möglich wird. Diese begreifende Rationalität
bezeichnet in der griechischen Philosophie die spezifische Differenz
des Menschen zu allem übrigen Sein. Damit hat die Philosophie
Griechenlands eine grundlegende Charakterisierung des Menschen
vorgenommen, die als solche das große Vorzeichen der gesamten
abendländischen Kultur bildet. Der Mensch als das denkende Wesen,
das in seiner Vernunft offen ist auf die Wahrheit und seine eigene
Welt bauen kann.
Dies zeigt sich in einer Weiterentwicklung dieser grundlegenden
Vernunftbestimmung des Menschen durch den Platonschüler
Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus. Er bestimmt den
Menschen als zoon politikon. Der Mensch ist jenes Vernunftwesen,
das sich seine politische Existenz selbst organisieren kann. Also nicht
instinktgebunden, sondern in einer freien Vernunft regelt der Mensch
sein Zusammenleben und schafft sich dadurch alles als seinen
sozialen Lebensraum. Letztlich zeigt sich in den bestimmenden
Perspektiven der griechisch-antiken Philosophie eine idealistische
Sicht auf den Menschen: In seiner Vernunft partizipiert er an der
göttlichen Vernunft (-Idee), ohne mit ihr letztlich zur Deckung zu
kommen. Als wesentlicher Lebensentwurf ergibt sich die Theorie,
durch die der Mensch sich immer mehr diesem (göttlichen) Ideal
annähert. Es geht hier also wesentlich um Vergeistigung und
Autonomie im Denken.
Das Christentum greift diese antiken Perspektiven vor allem des
Platonismus auf, führt aber die Frage des Menschen nach sich selbst
in seinem Horizont einer neuen und weit ausgespannten Lösung zu.
Der Mensch findet die Antwort auf sich selbst, die Wahrheit über sein
3
Leben nicht einfach in seiner Vernunft. Vielmehr wird er in seinem
Nachdenken einer Sehnsucht gewahr, die sein Verhältnis zu Gott als
seinem Schöpfer offenlegt. Und letztlich ist Jesus Christus als der
Menschgewordene das Modell der Beziehung zu Gott, in der sich
seine Sehnsucht und seine Frage nach sich selbst erfüllt. Der Mensch
findet so die Bestimmung seiner Existenz in Gott. Augustinus von
Hippo (354-430) drückt dies aus mit jener existentiellen Sprache, in
der sich sein eigenes Lebensdrama niederschlägt: „ Unruhig ist des
Menschen Herz, bis es Ruhe findet in dir, oh Gott“ (Confessiones I).
Das bedeutet, dass der Mensch die Antwort nach sich selbst nicht in
der Welt finden kann. Er selbst ist in seiner leibhaftigen und
geschichtlichen Existenz über sich selbst hinausgerufen in die
Gemeinschaft mit Gott. Der Mensch ist in und mit seinem In-derWeltsein wesentlich zur Gottesgemeinschaft bestimmt. Gott ist als
Grund auch das Ziel der menschlichen Frage nach sich selbst. Dies
bedeutet in Bezug auf die menschliche Identität zweierlei: Zunächst
– ganz positiv – ist die menschliche Existenz in ihrer wesenhaften
erstens vollendungsfähig durch Gott. Sie ist – theologisch
gesprochen – als kreatürliche, ja sogar als durch die Sünde
entfremdete Schöpfung, capax dei, sie ist Weg zu Gott. Endliches
Sein ist nicht negativ belegt, wie dies dann schon bei Augustin und in
der augustinischen Tradition des Mittelalters dominant spürbar wird.
Zweitens heißt dies aber kritisch und in einem nochmaligen Überstieg
über den antiken Idealismus: Der Mensch kann sich nicht in seinen
horizontalen Weltbezügen vollenden. Die Welt und er selbst sind ihm
nicht genug. Er findet zu sich selbst im Anderen seiner Selbst, das
Gott ist. Anders formuliert: Der Mensch ist das Wesen der
Transzendenz, das erst im Überstieg über sich selbst in Gott zu sich
selbst findet. Er hat sein Menschsein in einer grundlegenden Weise
4
theologisch-spirituell zu kultivieren. Letztlich ist dies dem endlichen
Menschen aus sich selbst heraus nicht möglich. So gehört in den
Begriff einer christlichen Anthropologie von Anfang an die Gnade,
also die Hilfe Gottes, durch die der Mensch in seine Identität bei Gott
gehoben wird. Diese ebenso idealistische wie gnadentheologische
Perspektive bleibt das theologische Mittelalter im Wesentlichen in
Geltung. So gilt etwa für Thomas von Aquin, dass die gesamte
Schöpfungs- und Heilsgeschichte mit dem Menschen als Zentrum
nicht anders zu lesen ist, als der Weg, auf dem er als der Sünder, zu
dem er sich bestimmt hat, durch die Menschwerdung Jesu Christi,
d.h. aus Gnade zu Gott als dem Ziel seiner selbst zurückfindet (vgl.
dazu das Exodus-Reditus-Schema der thomanischen Theologie). In
der Spätscholastik – etwa bei Duns Scotus - ist das Verhältnis des
Menschen zu Gott bereits ganz modern gedacht worden als ein
Verhältnis der Freiheit. Demnach kann die endliche Freiheit sich in
ihrem Ausgriff auf Unendlichkeit erst in der Freiheit Gottes selbst
gewinnen. Auch hier handelt es sich um ein Gnadengeschehen,
insofern der Mensch letztlich nicht in den Raum der göttlichen Freiheit
hineinfindet, sofern er stets im Gestrüpp der Endlichkeit „ hängen“
bleibt.
Sofern aber der Mensch im Christentum im Horizont der Inkarnation
zur Unendlichkeit bestimmt ist und das erlöste Menschsein der Weg
zur Verähnlichung mit Gott ist – so spricht etwa die Theologie der
griechischen Patristik von der Erlösung als der Theosis/Vergöttlichung
des Menschen - , kann es nicht ausbleiben, dass der Mensch
versucht, sich ohne Gott absolut zu setzen. Mit anderen Worten ATheismus ist ideengeschichtlich nur als ein postchristliches
Phänomen möglich, das etwa in dem berühmten Satz Friedrich
5
Nietzsches (+ 1900) zum Ausdruck kommt: „ Wenn es einen Gott
gibt, wie könnte ich es ertragen, kein Gott zu sein!“
Mit der neuen Epoche der Neuzeit verändert sich diese theonome
Konstellation grundlegend, mit weitreichenden Folgen bis heute. Sie
ist zu anfanghaft zu beschreiben als Herauslösung des Menschen aus
seiner Gottesbeziehung. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die
Philosophie der Renaissance, die den Menschen ganz aus sich selbst
groß und schön sein lässt (Pico della Mirandola: De diginitate hominis
als das Manifest der Selbstverherrlichung des Menschen im
Renaissancehumanismus, 100 Jahre vorher besteigt F. Petrarca den
Mont Ventoux, er setzt als erster als Mensch den Fuß auf den Ort der
Goetter, wird der Begründer des Alpinismus).
In profilierter Weise führt René Descartes (1596-1650) diese These in
der sog. Neuzeit fort. Der Mensch ist nunmehr nicht mehr in seiner
Vernunft und Freiheit von Gott her bestimmt. Er ist nicht auf eine
transzendente Wahrheit bezogen, nach der er sich in seinem Handeln
ausrichten soll. Er wird aus seinem göttlichen Bezug herausgelöst und
nun selbst zum Mittelpunkt der Wahrheit, die er aus sich selbst
entwirft und der Natur aufdrängt. „ Cogito, ergo sum“ (statt:
„ cogitor, ergo sum“ ) ist das Motto dieser neuen, immanenten
Anthropologie. Der Mensch ist es nun, der Gott als Schöpfer ablöst
und mittels der naturwissenschaftlichen Vernunft einer universalen
Mathematik – mathesis universalis – die Welt zu bauen beginnt.
Das Zeitalter des „ Machers“ , des „ homo faber“ beginnt. Der
Mensch wird zum „ maitre et posseseur de la nature)“ . Mit
Descartes ist so – sehr vereinfacht gesprochen – der Grundstein für
die rasante Entwicklung der Moderne auf der Ebene einer
experimentell abgesicherten Weltbewältigung gelegt. Damit ist der
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Mensch einerseits in seine höchste Autonomie gesetzt. Zugleich hat
Descartes diesem Denken ein Gift beigemischt, das umgekehrt dazu
beiträgt, den Menschen in seiner Sonderstellung aufzulösen, wie wir
gleich sehen werden. Warum? Er bestimmt die außermenschliche
Welt als „ res extensae“ , als die messbare Dingwelt der Materie
(das Zeitalter der Automaten). Dieser setzt er den Menschen als „ res
cogitans“ gegenüber, um den Menschen als freie Vernunft zu
bestimmen. Das Problem dabei ist, dass er auch den Menschen als
eine „ res“ , eine Sache charakterisiert. Genau hier setzt der
Prozess der Verdinglichung und Naturalisierung des Menschen ein,
die wir heute verschärft beobachten. So ist also Decartes in
zweifacher Hinsicht der Vater der Moderne. Er denkt den Menschen
ohne transzendenten Bezug und beginnt – was damit
zusammenhängt – den Menschen in die Dingwelt (Materie)
einzuordnen.
Es sind dann vor allem die Denker der französischen und englischen
Aufklärung, die den Menschen immer weiter aus einem ideal
bestimmten Horizont herauslösen. So etwa, als prominenter unter
vielen, Julian Offray de LaMettrie (1709-1751), dessen 1747
erschienene Schrift den Titel trägt: L’ homme machine: der Mensch eine Maschine.
Ein Jahrhundert später formuliert Ludwig Feuerbach in Deutschland
(1859) seinen Fundamentalsatz der Religionskritik, die jedes
metaphysische und theologische Wesen des Menschen bestreitet.
Dieser Satz lautet: „ Der Mensch ist, was er isst“ , ein Satz der heute
wieder in der Werbung auftaucht. Feuerbach drückt damit aus: Der
Mensch ist nicht mehr als die anderen Lebewesen. Er ist reine
Biologie, er ist nicht mehr als Natur. Er hat keine Bestimmung, die
über seine vorfindbare Existenz hinausführt. Der Mensch ist – radikal
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betrachtet - nichts anderes als ein physiologischer Prozess, der
Mensch ist ein „ trickreiches Tier“ . Im Jahr 1859, als Feuerbach
diesen materialistischen Grundsatz formulierte, erschein Darwins
epochemachendes Werk „ Von der Entstehung der Arten“ . Es
waren vor allem seine Nachfolger - wie etwa in Deutschland der
Zoologe und Freidenker Ernst Haeckel (+1919), die den Darwinismus
in einen atheistischen Biologismus umformten. Diese naturalistische
Reduktion des Menschen wurde schließlich die leitende Perspektive
des evolutionstheoretischen Denkens, wie sie das gesamte 19.
Jahrhundert prägte und bis heute - und gerade in unserer Gegenwart
- in entscheidenden Weise wirksam ist (vgl. dazu nur die
mechanistische Logik der Medizin!). Sie findet ihren Niederschlag
etwa in der populär gewordenen nihilistischen Philosophie
Schopenhauers (Die Welt als Wille und Vorstellung) und seines
Schülers Nietzsche: Es gibt keine transzendente Welt, es gibt keinen
Sinn, alles ist nur ein blindes Werden. Bestenfalls kann man sich im
Willen zur Macht durchsetzen. Dieser Blick auf den Menschen prägt
auch die Psychoanalyse Freuds: Der Mensch ist im Letzten nichts
anders als ein Triebwesen. Darauf ruht als seine vermeintliche Kultur
auf. Es bleibt ihm daher nicht anderes, als sich in bewusster Weise
damit zu versöhnen und sich mit seiner kleinen Existenz zu
bescheiden.
Einen Versuch, angesichts der zunehmenden Naturalisierung des
Menschen an seiner Sonderstellung festzuhalten und diese von
biologischen Gründen her aufzuzeigen, bildete die Anthropologie des
beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland, die mit den Namen
Scheler, Portmann, Plessner und Gehlen benannt wird. Max Scheler
sucht in seinem Werk: „ Die Stellung des Menschen im Kosmos“
(1928) eine einheitliche Idee des Menschen unter Einbeziehung
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biologischen Denkens zu entwickeln. Scheler versuchte er ausgehend
von der naturhaften Existenz des Menschen das Phänomen des
Geistigen - seine Weltoffenheit - als die eigentliche, die zweite Natur
des Menschen zu erfassen. Der Mensch zeichnet sich demnach
dadurch aus, dass er in Distanz zur Welt steht und darin Umwelt hat.
Der Mensch ist das Tier, das Geist hat. Einen ähnlichen Versuch
unternahm Helmut Plessner in seiner philosophischen Anthropologie
mit dem Titel: „ Die Stufen des Organischen und der Mensch“
(1928). Unter der Leitperspektive der „ exzentrischen Positionalität“
versucht er die Geistigkeit des Menschen aus der körperlichen
Unangepasstheit des Menschen selbst verstehbar zu machen. Sie ist
aus der Instinktarmut des Mängelwesens Mensch zu begründen.
Denn der Mensch ist biologisch gesehen eine Frühgeburt. Zugleich ist
er im Gegensatz zum Tier an keine bestimmte ökologische Nische
angepasst. Diese Unangepasstheit gleicht eher durch seine
Geistigkeit aus, die im Grunde als die Fähigkeit des Menschen zu
bestimmen ist, Welt zu seiner Umwelt zu gestalten. Eine ganz
ähnliche Richtung verfolgte auch Portmann in seinem Denken. Hier ist
vom „ extrauterinen Frühjahr“ des Menschen die Rede. Der Mensch
ist – im Unterschied zum Tier – unfertig. Er muss sich seine eigene
Welt bauen und durch Menschen in sie eingeführt werden. Diese
Perspektive greift das 1940 erschienene Werk von Arnold Gehlen auf:
„ Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ . Bei
Gehlen wird das Leben in Institutionen und in Verbindung damit das
Leben als sprachliches Wesen, als Konsequenz der Unangepasstheit
des Menschen an eine bestimmte ökologische Nische, die das
Handeln eines Lebewesen steuert, herausgearbeitet. Diese
Institutionen und Sprache sind nach Gehlen eine „ biologische
Notwendigkeit“ des unangepassten Menschen.
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Diese Betonung der Sonderstellung des Geistwesens Mensch wurde
im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr bestritten zugunsten
einer reinen Biologisierung. Der Mensch geht nun ganz auf im Reich
der evolutiven Natur. Er ist nicht mehr Ziel eines Weges, sondern nur
noch ein Moment darin. So schreibt etwa Jacques Monod,
Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie von 1975, in seinem
Buch: „ Zufall und Notwendigkeit“ (1971) in paradigmatischer Weise
„ Er – der Mensch – weiß nun, dass er seinen Platz am Rande des
Weltalls hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine
Hoffnungen, Leiden und Verbrechen“ (a.a.O. 211).Und
zusammenfassend heißt es: „ ...der Mensch weiß endlich, dass er in
der teilnahmslosen Unendlichkeit des Universums, aus dem er zufällig
hervortrat, allein ist. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht
nirgendwo geschrieben.“ (a.a.O. 219). Und ebenso schreibt Claude
Levi- Strauss, ein Hauptvertreter des französischen Strukturalismus,
also jener Philosophie, die das Ich des Subjekts in größere
Strukturzusammenhänge hinein auflösen will, 1955: „ Die Welt hat
ohne den Menschen angefangen und wird ohne ihn enden. Die
Institutionen, Sitten und Gebräuche... sind vergängliche Blüten einer
Schöpfung, mit der verglichen sie keinerlei Bedeutung haben“
(Tristes tropiques, Paris 1955, 405). Der Mensch also nur als ein
Moment von vielen im großen Prozess der kosmischen Entwicklungen
und Strukturen. So Michel Foucault: „ Heute kann man nur noch
denken an die leeren Stellen, die der verschwundene Mensch
hinterlässt... allen, die noch vom Menschen, seiner Herrschaft, seiner
Befreiung reden wollen, allen die fragen, was der Mensch ist... kann
man nur noch mit einem philosophischen Lächeln antworten“ . (Les
mots et les choses, Paris 1966, 353). Am Ende unserer wirklichen
und skizzenhaften Reise durch die Geschichte der abendländischen
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Anthropologie zeigt sich also: Der Mensch hat sich im heutigen
philosophischen Denken zu verabschieden von seiner
Sonderstellung, wie sie ihm durch idealistische Positionen – zumal in
der christlichen Tradition – zuerkannt wurde. Auch die Philosophie ist
– jenseits des Christentums – bereits in das Stadium des
Posthumanismus. Der Mensch wird – in extremen Positionen der
sog. Gehirnphilosophie (mind-brain-Debatte) – als ReizReaktionsmechanismus gesehen. Gerade die neurophysiologische
Zugehensweise auf den Menschen bestreitet heute jegliche
besondere geistige Verfasstheit des Menschen, die die qualitative
Differenz des Menschen im Vergleich zum rein biologischen Dasein
ausmachen würde. Es gibt keine spezifische Differenz des Humanen.
Darum kann sich der Mensch selbst optimieren ohne bestimmte
anthropologische Normvorgaben. „ Der Mensch ist sein eigenes
Experiment“ , so Mark Jongen in der Nr. 33 der Zeit vom 9. August
2001. Er diagnostiziert hier einen Mentalitätswandel, der jede
Selbstzwecklichkeit des Menschen im kantischen Sinn aufgebe.
Maßstab seiner Möglichkeiten ist allein die pragmatische Vernunft.
Daher, so schließt Mark Jongen: „ Der Gott, der allein uns retten
kann... ist kein moralischer Deus ex machina, sondern schlummert
nirgendwo anders, als in den kybernetischen Lernflächen selbst, die
sich in Laboratorien einstellen“ (31). Was der Mensch ist, ist wozu er
sich hineinexperimentiert. Aus einer Transzendenz „ nach oben“
wird eine Transzendenz „ nach vorne“ (vgl. élan vital) der Gattung.
Wie weit diese Naturalisierung des Menschen voranschreitet, zeigt
sich in der biologistischen Bestreitung seiner Freiheit. Der freie Wille
ist demnach eine Illusion. In dieser Hinsicht darf ich auf den Artikel
von Manuela Lenzen in der 38. Nummer der Zeit vom 13. September
2001 auf Seite 37 verweisen: „ Wie viel Freiheit darfs denn sein?“
11
Die grundlegende These lautet: Unser Bewusstsein von Freiheit ist
ebenfalls ein Scheinphänomen: „ Alle mentalen Prozesse beruhten
vielmehr auf rein materiellen Vorgängen und seien daher rein
deterministisch“ (37). Das heißt, das was wir als unsere Freiheit
bewusstseinsmäßig wahrnehmen, ist bereits in einem neuronalen
Prozess aktiviert. Diese Erkenntnis lautet dann in griffiger Weise:
„ Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun“
(37). Damit wären alle Phänomene wie Schuld, Reue und Sühne und
Wiedergutmachung hinfällig. Dieser Position stellen nun aber
Philosophen entgegen, dass diese biologistische Beurteilung von
Freiheit bzw. Nichtfreiheit selbst wieder ein Akt der Freiheit sei. Wo
der Mensch sich als das determinierte Wesen der Nichtfreiheit
bestimmt, setzt er nun gerade einen Akt der Freiheit. Hinter diesen
Akt kann man begründungslogisch nicht zurück. Selbst wo ein
Verfechter des Biologismus die Realität der Freiheit bestreitet, setzt er
einen Akt von Freiheit. An dieser Stelle stehen sich nun das
posthumanistische Menschenbild und das humanistische
Menschenbild in einer unmittelbaren Weise gegenüber. Es besteht
gegenwärtig eine Situation, in der die biologistische Anthropologie für
ihre Position die besseren Argumente in der Hand zu halten glaubt.
Ihr Ergebnis lautet daher: „ Der Mensch ist nichts mehr als seine
biologische Natur. Es gibt kein spezifische Dignität des
Menschseins.“ In diesem mechanistisch-materialistischen
Menschenbild ist es daher posthumanistisch auch wieder möglich,
von Menschenzüchtung zu sprechen, wie dies etwa 1999 in Peter
Sloterdijks berühmter Elmauer Rede „ Regeln für den
Menschenpark“ der Fall war. Entscheiden wird dann der
Philosophenkönig über die Auswahlkriterien dieses
Menschenzuchtprogramms. Dies markiert den gegenwärtigen Ist12
Stand der philosophisch-naturwissenschaftlichen Sicht vom
Menschen.
Überblickt man die mehr als 2500jährige Geschichte der Frage nach
dem Menschen innerhalb der großen geistesgeschichtlichen
Horizonte, lässt sich feststellen, dass sie sich im Wesentlichen auf
zwei Alternativen eingrenzen lässt. Die eine heißt, „ der Mensch ist
mehr als...“ : Der Mensch ist mehr als die übrigen Lebewesen, er ist
mehr als Bios. In seiner geistigen Freiheit ragt er hinaus in einen
Mehrwert, von dem her er als Mensch bestimmt wird, sei dieser
Mehrwert nur geistiger oder dezidiert religiöser Natur. Die andere
Alternative lautet: „ der Mensch ist nicht mehr als...“ : Der Mensch ist
einzureihen in die Entwicklungsgeschichte der Natur, der Mensch fällt
aus den Regelkreisen und Strukturen der Evolution nicht heraus, der
Mensch ist nichts weiter als ein gut angepasster Lebensorganismus.
Alles, was vermeintlich Kultur und Religion scheint, ist im Grund
nichts anderes als seine evolutive Natur. Alles andere ist falsches
Bewusstsein. Diese Enttäuschung ist dem Menschen als seine
Wahrheit zuzumuten.
Insgesamt erscheint die Selbstauslegung des postmodernen
Menschen radikal eindimensional: Der Mensch als radikal
naturwissenschaftliche Vernunft, die alle seine Lebenshorizonte
durchprägt: Philosophie, Biologie, Ökonomie, Politik etc. Es entfällt
beinahe vollständig die Dimension des homo symbolicus und
religiosus. Es bleibt die radikale Immanenz (vgl. Umfragen zur
Bedeutung von Religion im Westen).
Dennoch werden andere Stimmen laut. Es war z. B. der 11.
September, der tiefe Schneisen in das glatte Design postmoderner
Anthropologie und ihrer vermeintlichen Erfolgsgeschichte schlug. Es
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ist die Klimaerwärmung, die verdeutlicht, dass der Mensch in
Zusammenhänge der Verantwortung hineingestellt ist. Und es regt
sich ein Unwohlsein des Menschen in Bezug auf sich selbst, sofern er
sich die Frage stellen muss, ob es für ihn noch eine Sinnwirklichkeit
gibt, die ihm erlaubt, unvertauschbar er selbst zu sein und nicht ein
beliebiger und damit auswechselbarer „ Fall von Mensch“ .
Psychologen stellen in dieser Hinsicht fest: „ Die derzeitige
Stimmung in unserer Gesellschaft ist für manchen die Chance, bis zur
Sinnfrage des Lebens vorzustoßen.“ (Vgl. Die Zeit, Nr. 39, 20.
September 2001, Seite 67). Es stellt sich heute zunehmend die Frage
nach der Qualität des Menschseins überhaupt. Darin scheint das
Projekt der Moderne an ihr Ende gekommen zu sein. Die Frage nach
dem Mehrwert des Lebens wird neu gestellt (mindestens in sog.
Peergroups). Auch das Religiös-Spirituelle wird wieder entschiedener
nachgesucht (wenn auch – aus verschiedenen Gründen – an den
Kirchen vorbei). Dennoch werden Menschen wieder sensibel für ihre
symbolische und religiöse Dimension. Auch das Verhältnis von
Vernunft und Glaube wieder neu diskutiert und dabei dem Glauben
Unvertretbarkeiten für das Humanum zuerkannt (vgl. das
Habermasdiktum: unsere Gesellschaft lebt von religiösen Gründen,
die sie selber nicht generieren kann). Die Frage der Theologie an die
Philosophie lautet daher, ob sie in ihrem Denken den Menschen und
die Welt wirklich stimmig erklären kann.
Gerade so ist die Frage nach dem Menschsein des Menschen ein
Schauplatz des konkurrierenden Wettbewerbs um die richtige
Antwort. In diesem Diskurs erhebt auch die christliche Anthropologie
ihre Stimme. Was aber bedeutet christliche Anthropologie? Und
welche Rolle spielt sie im Projekt dieses Masterstudiengangs
Caritaswissenschaften und werteorientiertes Management und den
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damit verbundenen Praxisgestalten? Was meint also zunächst der
Begriff einer „ theologischen Anthropologie?“
2. Zum Begriff der theologischen Anthropologie
Unter theologischer Anthropologie versteht man diejenige
Perspektive, in der der Glaube den Menschen erkennt und
wahrnimmt. Im Gegensatz etwa zu den naturalistischen Positionen
hält der Glaube an einem Mehrwert des Menschen fest, der in seiner
Gottesbeziehung begründet liegt. Diese bestimmt den Menschen in
seinem Dasein in einer spezifischen und grundlegenden Weise.
Daher kann es bei einer theologischen Anthropologie nicht um einen
theologischen Sonderbereich, der – im Sinne einer Übernatur –
noch zum naturalen Bestand des Menschen dazukommt. So wäre
eine theologische Anthropologie völlig falsch verstanden, wenn sie
lediglich durch ein „ und“ an ein in sich vollständiges Menschsein
angefügt würde (im Sinne einer superadditums, das dann ja gerade
nicht notwendig für den Menschen wäre, es ginge auch ohne diese
theologische Bestimmung). Theologische Anthropologie bezieht sich
auf die gesamte Wirklichkeit des Menschen, dies aber in
theologischer Perspektive: weil der eine und ganze Mensch von
seiner Beziehung zu Gott, oder besser: von der Beziehung Gottes zu
ihm betroffen ist. Das heißt: theologische Anthropologie bezieht sich
auf alle Dimensionen des Menschseins, seien sie etwa biologischer,
soziologischer, ethischer und psychologischer Art. Sie fügt diesen
Realitäten nicht noch die ihre hinzu, sondern interpretiert sie im Licht
des Glaubens. Denn die Botschaft des Glaubens von Gott und dem
menschgewordenen Jesus Christus bezieht sich ja gerade auf den
konkreten Menschen, sonst wäre der Glaube auch nicht das Heil des
Menschen, sondern ein anderes, ihm fremdes Heil. Allerdings werden
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im Licht des Glaubens neue Dimensionen des Menschseins sichtbar,
die der Glaube kritisch-produktiv „ um des Menschen willen“ zu
benennen hat. Theologische Anthropologie versteht sich als eine
kritische Theorie humanen Menschseins im Horizont der
Gottesbeziehung. Sie versteht sich so als Lebenskultur aus dem
Glauben, sofern Gott notwendig in die Definition des Menschseins
gehört. Denn in der Perspektive des Glaubens ist er unhintergehbar
Mensch von Gott her und auf Gott hin, so dass er zu seinem rechten
Selbstvollzug auf seine Gottesbeziehung verwiesen ist. Mit anderen
Worten: Gott ist nicht der Konkurrent menschlicher Freiheit und
Identität, sondern vielmehr das Medium dazu. Das heißt, das
Menschsein des Menschen ruht in seinem Selbst- und Weltbezug bis
hinein in die Erkenntnisordnung positiv oder negativ auf seinem
Gottesbezug, sofern er ihn bejaht oder verneint. Positiv beschreibt
theologische Anthropologie das Glücken einer menschlichen Existenz
vor Gott als das „ Heil schon in der Geschichte“ als Ahnung des
Heils über den Tod hinaus. Negativ beschreibt es die Aporien und das
Unglück eines Menschen in der Entfremdung, die aus seiner Abkehr,
konkret aus seinem Sündersein erwächst. Theologisch Anthropologie
macht darin geltend, dass der Mensch in einen Horizont gestellt ist,
der weiter reicht als die Sichtweite seiner eigenen Vernunft und dieser
Horizont das unhintergehbare Milieu humaner Praxis- und
Sinngestalten ausmacht. Augustin formuliert dies so: „ fecisti nos ad
te“ - auf dich hin hast du uns geschaffen. Menschliche Existenz ist so
eingespannt in eine dialektisches Zueinander von Ichsein (Zentralität)
und Gottesbezug (Exzentrizität, Transzendenz), in dem sich der
geschichtlich Mensch in seinem In-der-Welt-Sein ergreifen oder
verfehlen kann.
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In der Perspektive katholischer Theologie ist deshalb diejenige
Wirklichkeit, die mit den Begriffen Gott, Jesus Christus, Geist und
Gnade anvisiert wird, gerade nicht der heteronome Gegensatz zum
endlichen Menschsein. Sie ist vielmehr die erfüllende Vollendung, der
heilsame Raum, der vielgestaltigen Formen menschlicher
Selbstergreifung im Raum der Geschichte. Insofern lässt sich eine
theologische Anthropologie als theologische Freiheitslehre verstehen.
Dies ist der Ansatz, den ich in dieser Vorlesung vertrete. Es soll
innerhalb der verschiedenen anthropologischen Sachverhalte
aufgezeigt werden, wie der Glaube den Menschen den Menschen in
eine neue Freiheit, die sich in heilsamer Weise in seinem Umgang mit
sich, den anderen und mit der Welt auswirkt. Insofern ist theologische
Anthropologie konkrete Gnadentheologie. Mit Eugen Biser
gesprochen: Theologie Anthropologie ist „ Modalanthropologie“ , sie
zeigt auf, zu welchen Möglichkeiten seines Menschseins der Glaube
den Menschen freisetzt. Und insofern ist theologische Anthropologie
kein abstraktes, sondern ein theopragmatisches Wissen, das sich
bewährt, wo es in seiner Wahrheit gelebt wird. Gerade so bringt sie
theologisch den „ Mehrwert“ des Menschen zur Geltung und gibt –
in Anknüpfung und Widerspruch zum gesellschaftlichen
Lebenswissen - Impulse zur Kultivierung humanen Menschenseins.
In einem ersten großen Hauptteil soll der Erfahrungswirklichkeit des
Menschen breiter Raum gegeben werden. Dies gilt zumal für die
Handlungsfelder christlich-diakonischen und caritativen Handelns im
Raum der Kirche. Sofern der Mensch im Sinne einer theologischen
Anthropologie der Adressat des Heilshandelns der Kirche im Namen
Gottes ist, bildet diese die entscheidende Kriteriologie, anders
formuliert: das theologische Leitbild, auf dem caritatives – und
darüber hinaus – humanes Handeln aufruht, sofern er den eben
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benannten „ Mehrwert“ des Menschen im Blick hat, der mehr ist als
seine eindimensionale Einschätzung als z.B. Schüler, Arbeitnehmer
oder Betreuungsfall. Er steht theologisch in größeren
Zusammenhängen, die etwa mit seinen unveräußerlichen Rechten als
unvertauschbarer Person im Sinne einer gottgewollten und
gottgegründeten menschlichen Individualität.
3. Phänomenologie des Menschseins – eine kleine Analyse
menschlicher Existenz
3. 1. Die großen Urwünsche
Wenn ich mich einer Phänomenbeschreibung des Menschen
zuwende, geht es nun um die inneren Antriebe des Menschen in ihrer
lebensprägenden Wirklichkeit. Religionssoziologisch wurden diese als
die großen Urwünsche und Ursehnsüchte des Menschen benannt, als
„ Lebensheiligtümer“ (P. M. Zulehner), die gegeben sein müssen,
damit der Mensch sein Leben als heil und gut empfinden kann.
Umgekehrt, wo eines der Lebensheiligtümer fehlt, empfindet sich der
Mensch als lebensbehindert, bis dahin, dass er sagen muss: „ dies
ist kein Leben mehr!“
In einem zweiten Schritt sollen diese unabdingbaren Urwünsche mit
der konkreten Lebenswirklichkeit des einzelnen Menschen in
Beziehung gesetzt werden. Es wird sich – was nicht verwundert –
zeigen, dass immer eine Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit
bleibt. Sie ist es ja, die uns – wenn sie nicht zu groß wird – „ in
Bewegung“ hält.
Ich stütze mich im Zusammenhang der Urwünsche des Menschen auf
valide Umfrageergebnisse ein breit angelegten
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pastoralsoziologischen Umfrage (Paul-Michael Zulehner: Zur
statistischen Analyse vgl.: G. Schmidtchen: Was den Deutschen heilig
ist, München 1979; Paul-Michael Zulehner: Religion im Leben der
Österreicher, Wien 1982; ders.: Leutereligion, Wien 1982; ders:.
Leibhaftig glauben. Lebenskultur nach dem Evangelium, Freiburg 3.
Auflage 1989, Seite 15-30.)
Der Umfrage zufolge lassen sich diese „ Lebensheiligtümer“ in der
Sinntrias von „ Name, Macht und Heimat“ zusammenfassen. In
ihnen bündeln sich die Hoffnungen auf gelingendes, glückendes und
gutes Leben.
3.1.1. Name
Eine der großen Sehnsüchte jedes Menschen ist es, dass er einen –
seinen - Namen habe. Jeder Mensch will unverwechselbar und
einmalig sein – und darin von den anderen an-erkannt werden. In der
Sehnsucht nach einem Namen artikuliert sich zugleich die Sehnsucht
nach gelingenden Beziehungen aus. Wo der Mensch als er selbst
wertgeschätzt wird und keine Rollen spielen muss. Der Namen steht
für Identität die gelebt werden darf unter dem liebenden Blick des
anderen. Einen Namen zu haben, bedeutet nicht ein Nichts zu sein,
sondern ein Ich, wertvoll zu sein für jemand, jenseits aller Leistung.
Die Bibel nennt daher die erotische Begegnung von Mann und Frau
als ein „ Einander- Erkennen“ , als Anerkennen im Horizont einer
Beziehung, in der mein Name gut aufgehoben ist und geschützt wird.
die das Du des andren . Mit der Sehnsucht nach einem individuellen,
einmaligen Namen sind damit verbunden die Sehnsucht nach
vertrauensvoller Beziehung, nach körperlicher und emotionaler Nähe,
nach Verständnis und Zärtlichkeit, Zuwendung und dem Gefühl der
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Geborgenheit, in der er Ich sein darf. Denn es gehört zur belastenden
Alltagserfahrung des Menschen, dass er ansonsten in seinem
persönlichen Namen, in seinem unverwechselbaren Ich gerade nicht
nicht gefragt ist. Er wird in vielen Bereichen zur Nummer, zur
anonymen Person, zum No-Body, zum Rollen- und Funktionsträger,
zum beliebigen Konsumenten, dem Einmaligkeit nur suggeriert wird,
ohne dass er als Einzelner gemeint ist. Auf der Ebene der
Gesellschaft und der beruflichen Existenz wird nicht gefragt, wer er
ist, sondern was er leistet und was er sich leisten kann. Diese
gesellschaftliche Wirklichkeit erlebt der Mensch als defizitär, als
Lebensbehinderungen in denen er sein eigenes Ich nicht leben darf.
Dies umso mehr als die verschiedenen sozialen Räume ein
pluriformes Ich, die sog. „ multiple Persönlichkeit“ (vgl. Richard
David Precht: Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“ 2007)
hervorrufen. Anders gesagt, der Mensch erlebt sein Leben wesentlich
als persönlichkeits- und identitätszersetzend. Er bewegt sich
permanent in Lebenswelten, die ihn daran hindern, seinen vollen
Namen, sein eigenes Ich als ernstgenommen und als bejaht zu
erleben.
In dieser Hinsicht sagen nach Zulehner 88 % der Befragten:
„ Heilig ist:
- dass ich Menschen um mich habe, die ich lieben kann und die auch
mich lieben“ (88 %);
- dass ich als Mensch allein wertvoll bin, und nicht erst, wenn ich
etwas leiste im Sinne von Funktionieren (76 %); d.h. dem Menschen
gilt die Verkürzung seines Reichtums als liebenswert – einmaliger
Person auf Arbeits- oder Kaufkraft, als bürokratisch steuerbaren
Bürger, als verwerflich und unheilig;
- dass jemand mich ganz persönlich liebt und ich nicht beliebig
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austauschbar bin (77 %); und
- dass ich von anderen nicht ständig ausgenützt werde (72 %).
3.1.2. Macht
Die zweite Hoffnungsperspektive des Menschen bündelt sich in der
Sinnbedeutung des Wortes „ Macht“ . Macht bedeutet zunächst
ganz: etwas machen können, etwas tun können, lebendig sein, aktiv
auf die Welt ausgreifen. Macht bildet so das Gegensatzwort zu
Ohnmacht, wo der Mensch eben nichts machen kann, wo er sich
fremden Mächten ausgeliefert fühlt, bis dahin, dass er resigniert
sagen muss: „ da kann man nichts mehr machen!“ – „ da sind
Lebensmöglichkeiten unwiederbringlich verloren. Es gehört zum
großen Lebenswunsch für ein gutes Leben persönliche
Selbstmächtigkeit zu erleben, gestalten zu können, seiner selbst
mächtig zu sein, d.h. auto-nom zu sein und nicht in repressiven oder
entfremdenden Verhältnissen leben zu müssen. So gilt in der Analyse
der Glücksforschung die Demokratie als der beste Staats- und
Gesellschaftsform in Bezug auf das Glück der Menschen. Denn sie
garantiert die Lebensheiligtümer von Freiheit, Selbstbestimmung und
Menschenwürde und der damit verbundenen Personrechten. Macht
steht daher für eigenverantwortliche Lebensgestaltung. Im
Hoffnungswort „ Macht“ bündelt sich die Sehnsucht des Menschen
jenseits lebensbehindernder Strukturen und Situationen leben zu
dürfen, sei dies nun im Raum der Gesellschaft oder auch in Bezug auf
die unmittelbare private und persönliche Existenz.
Es ist daher verständlich, wenn den Leuten heilig ist:
„ dass ich meine persönliche Freiheit besitze, (ca. 90 %)
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– dass ich mein Leben leben kann, wie ich es mir vorstelle“ , (90 %).
Die beiden hochrangigen Symbolworte des eigenen individuellen
Namens und der kreativen Selbstmächtigkeit münden ein in den
dritten Begriff für gelingendes Leben: „ Heimat“ .
3.1.3. Heimat
Kaum ein Begriff ist so positiv emotional besetzt wie „ Heimat“ (vgl.
die gleichlautende Filmserie dazu) Mit dem Begriff „ Heimat“
verbinden Menschen heute vor allem emotionale Orte und
Beziehungen, die die Möglichkeit des Daheimsein ermöglichen. Denn
das ständige Unterwegssein ist nur in der Werbung schön. Ansonsten
ist es belastend, beziehungs(zer)störend und führt in die Einsamkeit
(unter der gerade der mobile Managertyp zu leiden hat). Viele
Menschen haben „ Heimweh“ . Denn Heimat, das bedeutet den
vertrauten und geschützten Ort, wo der Mensch aus den vielfachen
Entfremdungen seiner Existenz aussteigen kann, um ein Obdach für
seine Seele zu finden. Heimat ist in dieser Weise ein Sehnsuchtswort
für einen Ort, wo ich sein darf, ich nicht im Kampf des Lebens stehen
muss, sondern ausrasten darf. Heimat bedeutet das Wissen darum,
dass ich einen Ort habe, wo mein Leben verwurzelt ist, wo ich einfach
hingehöre, so dass ich einen Ort im Leben habe. Von daher ist das
eigene Haus eines der großen Lebensheiligtümer gerade der
Deutschen. Heimat, das ist der Fixpunkt meiner Existenz, der mir
immer neu ein Nach-Hause-Kommen möglich macht (vgl. ET „ nach
Hause…“ ) darf. Kaum etwas trifft den Menschen mehr, als von
seiner Heimat, seinem Besitz, seinen Leuten vertrieben zu werden.
Heimat, das bedeutet den Wunsch nach Verwurzelung, nach einem
letzten Halt im Leben. Der Begriff Heimat ist daher zugleich
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verbunden mit den Begriffen Familie, sozialer Gruppe, religiöser oder
nationaler Identität. Heimat, das ist der sichere Boden, auf dem sich
die verschiedenen Wechselfälle des Lebens zusammen mit anderen
bestehen lassen, wo man zusammen mit anderen weiß, wie das
Leben gelebt werden So ist es den Leuten durchaus heilig:
- „ einer bestimmten Nation anzugehören; - dass ich auf meine
Heimat stolz sein kann und ich sie liebe; - dass meine Familie und
Verwandtschaft eng zusammenhalten“ (ca. 70 %).
Paul Zulehner fasst diese Lebenshoffnungen als Ahnungen von
einem guten Leben zusammen in einer lyrischen Verdichtung seine
statischen Erhebungen. - Was es braucht, damit menschliches Leben
gutes, glückendes Leben sein kann.
“ Unausrottbar
ist unser Wunsch nach Leben.
Wer wählte
in seinen Träumen,
gestellt vor die Wahl
zwischen Leben und Tod,
nicht das Leben?
Leben,
wie wir es erträumen,
erhoffen,
und wünschen:
Namen zu haben,
einmalig, geachtet,
Gesichter zu haben,
einander zugewandt,
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was Ansehen stiftet;
wir lieben einander
und werden geliebt,
und dies vor jeder Leistung,
unbedingt,
einfach, weil Mensch,
nicht gebunden an Jugend,
Schönheit und Macht,
zwecklos,
und doch voller Sinn.
Leben,
wie wir es erträumen,
erhoffen,
uns wünschen:
Wir wollen frei sein,
beweglich und mächtig:
Welt zu gestalten
nach unserem Bild,
uns anzueignen
Zeit und Raum,
Körper und Wunsch;
nicht zerstückelt
durch Zwänge,
ganz und heil;
nicht behindert zu wachsen;
Männer und Frauen,
selbstmächtig,
Leben zu gestalten;
zur Gestaltung gebracht,
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so aber frei,
andre gelten zu lassen.
Leben,
wie wir es erträumen,
erhoffen,
uns wünschen:
Heimat dem Leben,
ein Boden für Wurzeln,
Welt, uns zu eigen,
Besitz, um zu sitzen,
doch auch Geben und Nehmen.
Geborgenheit
und ein Zuhause.
Das Land unserer Träume,
das Haus unserer Hoffnung:
es ist diese Welt
und ihre Geschichte,
die unsre,
die deine,
die meine.
Gute Arbeit und Spiel,
Ruhe und Liebe,
Feste des Lebens,
geborgen im Alltag,
aus ihm kommend
und doch ihm enthoben.
Bevorzugter Ort unserer Wünsche:
die Feste der Liebe,
die Männer und Frauen
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einander zugewandt erleben.
All diese Feste
sind eine Verheißung,
dass Hoffnung auf Leben
kein Trug,
keine Täuschung
Spuren gelungenen Lebens;
sie geben uns eine Ahnung von dem,
was noch aussteht:
von gutem, ewigem Leben.“
(Leibhaftig glauben, 27f.).
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